Kapitel 4

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Viktors Sicht

Die folgenden zwei Tage verbringe ich fast ausschließlich auf meinem stickigen Dachboden. Mit Ausnahme des Abendessens lasse ich mich auch unten nicht mehr blicken. Am liebsten würde ich auch das ausfallen lassen, den ganzen Tag einfach nur auf der Fensterbank sitzen, in den verschleierten Sommerhimmel schauen und dabei einfach völlig in meiner Musikwelt abtauchen. Doch ich weiß, wenn ich mich gar nicht blicken lasse, würde das nur elende Diskussionen nachsichziehen, auf die ich um ehrlich zu sein noch weniger Lust habe, als auf die spannungsgeladene Funkstille zwischen meiner Familie und mir - mit Ausnahme von Hanna vielleicht.
Obwohl meine kleine Schwester gerade mal sieben Jahre alt ist und die meiste Zeit damit verbringt, sich irgendwelche Streiche für ihren Zwillingsbruder Paul auszudenken, weiß ich genau, dass hinter ihrer wilden, rotzfrechen Art ein eigentlich sehr feinfühliges junges Mädchen steckt, das leider häufig schon viel zu gut versteht, was um sie herum passiert und welche Probleme die Menschen mit sich rumschleppen. Sie merkt genau, wenn jemand traurig ist und findet dann irgendwie auch immer einen Weg, denjenigen wieder aufzuheitern - wenigstens für eine kurze Zeit.
Doch selbst der kleine Wirbelwind hat es in den letzten Tagen kaum geschafft, mich auch nur ansatzweise aus dem dunklen einsamen Loch zurückzuholen, in das ich mich seit vorgestern Abend verkrochen habe.
Selbst aufs Laufen habe ich keine Lust, obwohl mir das sonst eigentlich immer hilft, den Kopf wenigstens ein bisschen freizukriegen. Doch gerade erinnert es mich einfach nur daran, wie der Traum, der einzige Traum den ich jemals hatte, sich immer weiter von mir entfernt und ich einfach keine Ahnung habe, wie ich ihn überhaupt noch erreichen soll.
Jahrelang habe ich jeden einzelnen Tag dafür gekämpft. Habe bis zum Umfallen trainiert, alles andere hinten angestellt, Freunde, Familie, Schule, wollte nur eins: Laufen, Rennen, immer schneller.
Am Anfang ging es nur darum, meinem Vater was zu beweisen, ihn zu überzeugen, dass ich gut genug bin, dass ich eine Chance verdiene, auch wenn er immer dagegen war. Jedes Training, jeder Lauf, jedes Rennen war ein Schritt weg von hier, ein Schritt weg von diesem Hof, meiner Familie, den ständigen Erwartungen und dem durchgeplanten, bedeutungslosen Leben, das für mich vorgesehen wurde.
Der Weg ins Sportinternat war hart, aber ich habs durchgezogen, hab für mich selbst gekämpft und am Ende vor allem mir selbst bewiesen, dass ich es schaffen kann und da draußen ein Leben auf mich wartet, das es wert ist dafür zu kämpfen.
Doch scheinbar ist all das immer noch nicht genug. Nichts reicht aus, um endlich von hier weg zu kommen.
Seitdem Badu letztes Schuljahr ans Einstein gekommen ist und ich zum ersten Mal in meinem Leben einen echten Freund habe, fühlt sich das Leben plötzlich nicht mehr wie ein nie endendes Rennen gegen meinen Vater an. Das Laufen ist auf einmal nicht mehr nur Mittel zum Zweck, sondern viel mehr als das. Frei sein, Spaß haben, Teamgeist zeigen, Freundschaft finden - einfach Leben.
Das Einstein mit allem was dazugehört ist definitiv mein Lebensmittelpunkt. Mein Anker. Mein Zuhause.
Und während die anderen sich am Ende des Schuljahres auf ihr Zuhause und ihre Heimat freuen, fiebere ich jeden Tag den ich hier bin daraufhin, endlich wieder im Zug Richtung Erfurt zu sitzen.
Dabei sollte diese Sommerferien doch eigentlich alles anders werden...
Schon fast seit Beginn des letzten Schuljahres, als Badu und ich uns gerade mal ein paar Wochen kannten, haben wir ständig davon geredet, gemeinsam ins Sportcamp über die Ferien zu fahren. Florida haben wir immer gesagt, auch wenn das natürlich nur Träumerei war. Vor ein paar Monaten haben wir uns dann aber tatsächlich entschlossen, in irgendeiner Weise unsere Pläne in die Tat umzusetzen und sind über Hauser auf ein kleines, aber sehr leistungsorientiertes Sportcamp in Leipzig aufmerksam geworden, in dem wir uns beide direkt angemeldet haben. Es war alles klar, wir wurden beide angenommen, hatten alles genau geplant, Zugverbindungen rausgesucht und die Wochen vor den Ferien von fast nichts anderem geredet. Auch wenn es nur eine Woche lang sein sollte, hat mich die Vorfreude darauf alles andere ausblenden lassen. Tja... Und dann... Dann ist mein Vater passiert. So wie immer.
Wütend rupfe ich einen weiteren Schnipsel von dem mittlerweile völlig zerfledderten Flyer mit der Aufschrift "Sommercamp im Leichtathletikzentrum Leipzig e. V. - Professionelles Lauf- und Staffeltraining U18 *Achtung: Leistungsnachweis erforderlich*" in meiner Hand ab und lasse das raue Papier durch das geöffnete Fenster nach unten auf den Hof segeln. Mit zusammengepressten Lippen sehe ich dem hellgelben Papier hinterher, meinem sich immer weiter auflösenden Traum, wie es sich im Wind immer weiter von mir entfernt und schließlich außerhalb meiner Sichtweite ist.
Die Sonne lässt sich heute glücklicherweise so gut wie gar nicht blicken. Stattdessen schleppen sich tiefhängende Regenwolken über den ländlichen Himmel und sperren die unerträgliche Hitze der letzten Wochen hier unten ein. Selbst ohne die kleinste Bewegung bilden sich auf meiner Stirn immer wieder Schweißperlen. Die Luft ist erdrückend schwül und lastet schwer wie Blei auf meinem Gedanken überfluteten Kopf. Den ganzen Morgen über grummelt es bereits am Himmel, kündigt das längst überfällige Gewitter an, das nach den letzten heißen Sommertagen hoffentlich für ein wenig Abkühlung und Regen sorgt.
Gelähmt von der erdrückenden Stimmung in und außerhalb meines Kopfes, sitze ich genauso wie die letzten Tage auf der Fensterbank, den Kopf an die wenigstens etwas kühlende Außenwand gelehnt, während der Bass meiner großen schwarzen Bose-Kopfhörer, die ich mir letztes Jahr von meinem Geburtstagsgeld gekauft habe, durch meinen Körper vibriert und ein wenig erfolglos versucht, die sich ständig aufdrängenden Gedanken aus meinem überfüllten Kopf zu verbannen.
Die Uraltplaylist mit den ältesten Linkin Park Songs ist das einzige, was mich die letzten Tage überhaupt lebendig hält. Die Beats sind erschlagend, mitreißend, teilweise metallic, aber voller tiefer Emotionen. Nachdem die letzten Töne von "Runaway" verstummt sind, überraschen mich allerdings Klavierklänge, die einen ziemlich harten Kontrast zur restlichen Playlist darbieten. "Do you feel cooooold and looooost in deeesperaaaaation?", dröhnt durch meine Ohren und ich ziehe scharf die Luft ein. Mit einer schnellen Handbewegung greife ich nach meinem Handy, das kurz unter der Fensterbank auf einem kleinen Klapphocker liegt. Eilig drücke ich die Weiter-Taste, um den viel zu ruhigen, wenig wütenden sondern eher traurigen Song "Iridescent" zu überspringen.
Mein Blick fällt auf den dunklen Startbildschirm, der nun bereits seit zwei Tagen völlig leer geblieben ist. Augenblicklich nagt das schlechte Gewissen wieder an mir und lässt meinen Zeigefinger wie von selbst über das weiße Flugzeugsymbol in der oberen Leiste gleiten, unsicher, ob ich es antippen soll oder nicht.
Nach Badus kurzangebundener Nachricht vor zwei Tagen, in der er eigentlich nur davon geschwärmt hat, wie toll das Sportcamp doch ist und meine Abwesenheit seine Stimmung anscheinend kein bisschen getrübt hat, habe ich kurzer Hand meine Verbindung zur Außenwelt gekappt und befinde mich seitdem im Flugmodus. Untypisch für mich. Wirklich wütend bin ich eigentlich nie auf jemanden... Wenn überhaupt auf mich selbst. Naja, oder meinen Vater. Aber doch nicht auf Badu. Keine Ahnung, wieso ich das eigentlich gemacht hab. Aber irgendwie wollte ich wenigstens ein Fünkchen Kontrolle über meinen Leben behalten, die mir sonst ja derzeit in jeglicher Art entzogen wird. Und ein kleiner Teil in mir hofft irgendwie, dass Badu auf diese Weise meine Abwesenheit spürt. Ich weiß, das ist unfair... und zugegebenermaßen auch ziemlich egoistisch, da ich ihm ja nicht mal die Wahrheit gesagt habe.
Zwiegespalten fahre ich mit der Hand durch meine kurzen Haare, versuche angestrengt das mit jedem Tag stärker werdende Gefühl von Sehnsucht beiseite zu schieben. Sehnsucht nach dem Einstein, nach Freiheit, nach dem Laufen und... nach Badu.
Ohne auch nur einen weiteren destruktiven Gedanken zu zulassen, tippe ich das Flugzeug an, welches kurz darauf sein Leuchten verliert. Es dauert nur wenige Sekunden bis in der Leiste darunter mehrere Nachrichten aufploppen. Neben vier ungelesenen Nachrichten wird mir ein verpasster Anruf angezeigt. Ich runzle verwundert die Stirn und tippe auf die Benachrichtigung.
"Anruf-Info von Mailbox: Badu Mr. 11/10 hat sie am 03/08/2021 um 03:21 Uhr versucht anzurufen. Es wurde keine Nachricht hinterlassen."
Aus irgendeinem Grund wird mir direkt ein wenig leichter ums Herz und auch das Gefühl von Bedeutungslosigkeit verblasst mit einem Mal völlig. Neugierig öffne ich meine Nachrichten und tippe sofort auf den Chat mit Badu.
"Sorry, wäre natürlich noch cooler, wenn du auch hier wärst, Bro! Hatte einfach vorhin nicht so viel Zeit zum Antworten. Übermorgen fahr ich wieder nach Hause, lass uns da telefonieren und du erzählst was los ist, okay?"
Trotz der Erleichterung, die sich augenblicklich in mir ausbreitet, fühle ich mich mit einem Mal irgendwie richtig schlecht. Schäme mich dafür, ihn ignoriert zu haben, nur weil er ein bisschen knapp geantwortet hat. Aber viel mehr schäme ich mich eigentlich dafür, dass ich ihn angelogen habe. Wie kann ich erwarten, dass er checkt, was los ist, wenn er den wahren Grund, warum ich nicht mit ihm ins Sportcamp gefahren bin, doch gar nicht kennt?
Seufzend fahre ich mir ein weiteres Mal angestrengt nachdenkend durch die Haare und drücke dann nach kurzem Überlegen auf den Hörerknopf, um Badu zurückzurufen. Nervös kaue ich auf meinen Fingernägeln herum, während in der Leitung das bekannte Tuten ertönt. Ich bin schon kurz davor enttäuscht wieder aufzulegen, als mich plötzlich ein lauter Schrei hochschrecken lässt.
"Viiiiiiiktoooooor", höre ich Hanna aus dem Treppenhaus brüllen. Genervt rolle ich die Augen, drücke auf den roten Hörer und tippe schnell eine Nachricht für Badu ein. "Sorry man. Ruf mich bitte zurück!"
Dann springe ich auf und eile zur Bodenklappe hinter dem Holzpfeiler am anderen Ende des Raumes, die allerdings kurz bevor ich sie erreiche bereits von jemand anderem aufgerissen wird. Hannas roter Haarschopf taucht darunter auf, krabbelt hastig die letzten Stufen zu mir hoch und sieht mich dann mit mit weitaufgerissenen Augen an.
"Viktor, komm schnell! Das Unwetter! Die... Die Kühe... Aber... aber... Lotti ist noch irgendwo draußen... Und ich kann sie nirgendwo finden!", ihre großen grünen Augen füllen sich mit Tränen. "Die anderen wollen mir nicht helfen, sie zu suchen! Und Papa meint... sie wäre ihm als Spanferkel eh viel lieber", schluchzt sie und stürzt in meine Arme. Ich stöhne ein wenig genervt, wenn auch ein klein wenig amüsiert und drücke meine Schwester an mich.
"Okay gut, ich helf dir Lotti suchen, ja? Aber das erzählst du nicht Mama und Papa", schärfe ich ihr ein. Hanna nickt heftig mit dem Kopf, greift dann nach meiner Hand und zieht mich eilig hinter ihr her.
Als wir unten ankommen und ich hinter meinen kleinen Schwester aus der Terassentür auf den Hof trete, stocke ich kurz, als ich die hoch aufgetürmten tiefschwarzen Wolkentürme am Horizont erblicke, die sich in beachtlicher Geschwindigkeit aus dem Westen in unsere Richtung nähern. In der Ferne erkenne ich Henning, der anscheinend verzweifelt versucht, die unruhige Kuhherde von der Weide in die anliegenden Ställe zu treiben. Erst jetzt wird mir der Ernst der Lage so richtig bewusst und ich erinnere mich plötzlich an die Gespräche gestern Abend am Essenstisch zurück, in denen wild darüber diskutiert wurde, ob sie bereits heute Morgen die Tiere in die Ställe verfrachten, um dem bevorstehenden Unwetter vorzubeugen. Kein Wunder also, dass niemand meine stille Anwesenheit die letzten zwei Tage kommentiert oder überhaupt registriert hat.
"Los! Komm schnell! Ich hab sie bei den Hühnerställen zuletzt gesehen!", reißt mich Hannas angsterfüllte Stimme wieder aus meinen Gedanken und holt mich ins Hier und Jetzt zurück. Ich beeile mich ihr hinterherzukommen, was mir aufgrund meines Trainings zum Glück recht leicht fällt.
Wenige Minuten nachdem wir mit der Suche nach dem kleinen Ferkel begonnen haben, bricht der dunkle Himmel auch schon über uns herein. Ein prasselnder Starkregen, der innerhalb weniger Minuten unsere Klamotten völlig durchnässt und den staubigen Erdboden schlagartig in eine Schlammlandschaft verwandelt.
Mit zusammengekniffenen Augen und der Hand schützend vor meinem Gesicht halte ich Ausschau nach dem kleinen rosafarbenen Tier. Ich schaue in den Ställen, zwischen den nassen Gräsern und auf den anliegenden Weiden über die der nasse Wind peitscht, doch der Vierbeiner scheint wie vom Erdboden verschluckt. Völlig durchnässt mache ich mich schließlich erfolglos auf den Weg zurück in den Schweinestall, wo ich beinahe über Hanna stolpere, die wie ein Trauerklos auf einem Strohballen im Eingang sitzt und das Gesicht in den Händen vergräbt.
"Sie ist weg!", schluchzt sie verzweifelt. "Und es ist meine Schuld! Ich sollte doch auf sie aufpassen!"
Ich knie mich mitfühlend neben sie und lege ihr sanft meine Hand auf die Schulter.
"Hey, das ist doch nicht deine Schuld! Lotti hatte wahrscheinlich auch Angst wegen des Unwetters und hat sich bestimmt nur irgendwo verkrochen", versuche ich sie zu beruhigen.
Schniefend schaut meine kleine Schwester zu mir hoch. "Meinst du echt?", fragt sie unter Schluchzern unsicher.
"Klar", erwidere ich und bemühe mich zuversichtlich zu klingen. Dann setze ich mich neben sie, lege meinen Arm tröstend um sie und ziehe sie zu mir heran.
Eine Weile sitzen wir einfach nur da und beobachten den prasselnden Regen, die Rinnsale in der schlammigen Erde vor dem Stall und die langsam vorüberziehenden Gewitterwolken aus denen hin und wieder helle Blitze zu Boden schießen und kurz darauf lauter Donner ertönt.
Als der Regen langsam nachlässt und auch der Himmel allmählich etwas heller wird, beschließe ich die Suche nach dem kleinen Ferkel noch einmal fortzusetzen und bei der Gelegenheit gleich eine Decke aus dem anliegenden Schuppen zu holen, da Hanna mittlerweile schrecklich begonnen hat zu zittern. Ob es die nassen Klamotten oder die Angst um ihre kleine Freundin sind, weiß ich zwar nicht, aber ein Versuch ist es wohl wert.
"Ich bin gleich wieder da", versichere ich meiner kleinen Schwester, die mit dem Kopf an meiner Schulter lehnt, richte sie langsam auf und lehne ihren zarten völlig durchnässten Körper gegen die Stalltür.
Als ich gerade um die Ecke des Schweinestalls Richtung Schuppen gehe, höre ich plötzlich ein Rumpeln auf der anderen Seite des Stalls. Ich halte inne, lausche noch einmal. Ein Knacken ist zu hören. So lautlos wie möglich gehe ich um die alten Holzfassaden herum, befürchte das kleine Schwein vielleicht zu erschrecken, wenn ich mich zu schnell und laut bewege. An der Ecke angekommen, lehne ich mich langsam vor, um einen Blick hinter den Stall zu erhaschen. Doch statt Lotti erwartet mich dort jemand völlig unerwartetes.
"Badu?", frage ich ungläubig als ich statt eines rosanen Vierbeiners eine große sehr vertraute Gestalt dort stehen sehe.
"Erschrocken fährt die Person herum und sieht mich dann entgeistert an.
"Alteeeer!", ruft Badu und fasst sich an die Stirn. "Musst du mich so erschrecken?", ergänzt er mit einem Lachen nachdem er sich einigermaßen von seinem Schock erholt hat. Ich stehe allerdings immer noch mit offenem Mund da und starre meinen Staffelkollegen an als wäre er ein Außerirdischer.
Mit seinem typischen breiten Grinsen kommt er auf mich zu.
"Na, hats dir die Sprache verschlagen?", lacht er und klopft mir auf die Schulter.
"Was machst du hier?", ist das einzige, was ich rausbringe, während ich ihn weiter anstarre als wäre er tatsächlich von einem anderen Planeten.
Das Grinsen auf Badus Gesicht verschwindet und er scheint auf einmal verunsichert.
"Ich... Naja, ich wollte wissrn, was mit dir los ist... Du hast dich ja nicht gemeldet", beginnt er zögerlich und sucht in meinem Gesicht nach der üblichen Leichtigkeit, die ich sonst in seiner Anwesenheit an den Tag lege. Aber hier ist das anders. Das hier ist mein Zuhause. Ein Teil von mir den ich bisher bewusst verschwiegen habe.
Ich räuspere mich ein wenig überfordert und sehe Worte suchend zu Boden. "Aber... das Sportcamp? Wie... wie bist du denn überhaupt hier her gekommen?", frage ich ihn ausweichend, während ich immer noch dabei bin, meine Gedanken zu ordnen.
"Ähh... Mit dem Zug...", antwortet Badu ein wenig irritiert und ein unsicheres Lächeln erscheint auf seinem Gesicht.
"Naja... Und dann zu Fuß... Was wohl nicht eine meiner besten Ideen war", fügt er leicht lachend hinzu und deutet auf seine ebenso durchnässten Klamotten und den triefnassen Rucksack auf seinem Rücken.
Zur Demonstration greift er nach seinem Shirt und wringt es mit beiden Händen aus. Jetzt muss auch ich lachen.
Bevor ich allerdings etwas erwidern kann, taucht auf einmal Hanna mit patschenden Schritten neben mir auf und bleibt vor dem großen Unbekannten genauso überrascht stehen wie ich.
"Wer bist denn du?", will sie wissen und deutet mit dem Finger auf Badu.
"Badu, und wer bist du?", erwidert er und kniet sich zu ihr runter.
"Ich heiße Hanna Müller!", verkündet sie und stemmt die Arme bestimmt in die Hüfte.
"Deine Schwester also?", fragt Badu in meine Richtung und zwinkert mir ein wenig belustigt zu. Ich nicke nur.
Dann beuge ich mich zu Hanna runter.
"Hey, such du doch schonmal weiter nach Lotti und ich komm gleich nach ja?", schlage ich ihr vor. Nach kurzem Überlegen nickt sie mit dem Kopf und läuft los.
Badu sieht mich fragend an. "Wen sucht ihr?"
"Ein kleines Ferkel. Für Hanna ist sie wie ein Familienmitglied", kläre ich ihn auf.
"Ein Ferkel? Da ist doch ein kleines Schwein oder? Mir ist gerade eben eins entgegen gekommen, als ich über den Zaun dahinten geklettert bin!" Badu deutet in Richtung Pferdekoppel.
Hanna, die auf dem Absatz kehrt gemacht hat, sieht ihn mit großen Augen an und hält kurz inne, ehe sie sich wieder umdreht und so schnell es geht am Schuppen vorbei Richtung Osten läuft.
"Ein kleines Schwein also?", frage ich Badu lachend und nehme ihm seinen durchgeweichten Rucksack ab.
"Ja wat weiß ich denn von Viehzeug", rechtfertigt er sich lachend. "Ich bin schließlich ein Lovedoc kein Tierdoc!"
"So so", lache ich.
Die unbeschwerte Unterhaltung tut gut, auch wenn ich weiß, dass das klärende Gespräch unvermeidlich ist und in erster Linie ich ihm ein paar Antworten schulde.
Am Haus angekommen, entscheide ich mich für den Seiteneingang über die geöffnete Terassentür und führe Badu mit etwas mulmigem Gefühl ins Haus. Ich werfe ein kurzen Blick ins Wohnzimmer, um meine Vermutung zu vergewissern, dass der Rest meiner Familie noch bei den Ställen ist und der Überraschungsgast vorerst unentdeckt bleibt.
Auf dem Dachboden angekommen, sieht sich Badu erstaunt um.
"Hier wohnst du?", fragt er ungläubig und sein Blick fällt auf die alte Matratze auf dem Boden, auf der ich seit ein paar Jahren schlafe.
"Ja...", antworte ich zögerlich und greife eilig in die Schubladen meiner Kommode nach ein paar trockenen Klamotten. Ohne Badu in die Augen zu schauen, werfe ich ihm ein paar trockene Sachen zu und suche mir anschließend selbst etwas Trocknes.
"Also ich mein, ich wusste ja , dass du ein Landei bist, aber so ein Landei...", lacht er und versucht ganz offensichtlich die spürbar angespannte Stimmung zwischen uns zu überspielen.
Dann zieht er sich sein durchnässtes T-Shirt über den Kopf. Darunter kommt sein muskulöser Oberkörper zum Vorschein.

Kurz bin ich wie erstarrt, kann meinen Blick einfach nicht abwenden, fange mich dann allerdings wieder recht schnell, drehe mich um und wechsele ebenfalls mein Shirt. Als wir beide wieder trockene Klamotten an unseren Körpern tragen, breitet sich zunächst ein etwas unangenehmes Schweigen aus.
Betreten schaue ich zu Boden, versuche seinem prüfenden Blick irgendwie zu entkommen, auch wenn ich weiß, dass das zwecklos ist.
"Was war los, man?", will Badu nach weiterem Schweigen meinerseits endlich wissen.
Ich schlucke, knete nervös meine Hände, meide weiterhin seinen Blick.
"Ey, ich hab mir echt Sorgen gemacht! Ich dachte schon dir wär was passiert!" Ein wenig gekränkt verschränkt er die breiten Arme vor seiner Brust.
"Es ist nix", lüge ich mit leicht brüchiger Stimme.
"Ach, erzähl mir doch nix! Komm schon, wir reden doch sonst über alles!"
Ich hole tief Luft. "Ich... Ich hatte einfach Stress mit meinen Eltern, okay?", fange ich an, auch wenn das nicht mal die halbe Wahrheit ist.
"Sorry", murmel ich und schaue vorsichtig zu Badu hoch.
Der zuckt nur mit den Schultern. "Okay...? Und deswegen bist du einfach komplett von der Bildfläche abgetaucht?", hakt er forschend nach.
Ich zucke ebenfalls mit den Schultern. "Mir gings einfach nicht so gut... auch wegen des Sportcamps", gebe ich zu, obwohl auch das nicht die ganze Wahrheit ist.
Badu scheine ich damit allerdings überzeugt zu haben. Mitfühlend legt er mir die Hand auf die Schulter. "Hey, das versteh ich! Aber das Sportcamp ist doch nicht alles! Die Meisterschaften nächstes Jahr sind doch viel wichtiger!", versucht er mich aufzuheitern und legt seine andere Hand ebenfalls meine Schulter.
"Hey man! Lass dich nicht so hängen! Ich bin doch jetzt da!", klopft er mir auf die Schulter und grinst mich zuversichtlich an.
Ich bemühe mich sein Lächeln zu erwidern, auch wenn mir das nicht sonderlich gut gelingt.
"Weißt du was?", schägt Badu mit leuchtenden Augen vor. "Du kommst einfach für den Rest der Ferien mit zu mir! Meinen Eltern macht das bestimmt nichts und es sind doch eh nur noch ein paar Tage. Wir machen bei mir einfach Sportcamp 2.0! Nur wir beide! Das wird mega!"
Begeistert von seiner eigenen Idee lässt er sich breit grinsend auf meine Fensterbank fallen.
Ich muss zugeben, dass die Idee tatsächlich ziemlich gut ist. Allerdings würde sie sich wohl nicht ganz so einfach umsetzten lassen...
"Ok gut!", antworte ich mit fester Stimme und Badu streckt siegesvoll die Arme in die Luft. "Aber... wir müssen sofort gehen. Meine Eltern dürfen nichts mitkriegen!"
Badu sieht mich irritiert an, doch ich bedeute ihm mit einem Blick, keine weiteren Fragen zu stellen.
"Ok, geht klar", meint er schulterzuckend.
"Ok. Gut. Gib mir... 5 Minuten zum Packen, dann können wir los", schlage ich vor und hole meine große Tasche aus der untersten Schublade der Kommode hervor.
"Wie?", fragt Badu mit hochgezogener Augenbraue. "Jetzt sofort? Aber... Können wir vorher vielleicht noch was essen?"
ich verdrehe leicht lachend die Augen und beeile mich dann weiter einzupacken.
Als wir beide mit gepackten Taschen unten ankommen, ist zum Glück immer noch niemand zurück. Trotzdem gehen wir beide auf Zehnspitzen durch das Haus. Am hinteren Schuppen angekommen, kommt uns plötzlich Hanna entgegen.
"Ich hab Lotti gefunden!", verkündet sie mit freudestrahlend und hält uns stolz das kleine quiekende Ferkel auf ihrem Arm hin, was mindestens genauso schmutzig ist wie meine kleine Schwester selbst.
Badu und ich grinsen uns zu. Dann beuge ich mich schnell zu ihr runter und lege ihr meine Hand auf die Schulter.
"Das ist super, Hanna!", sage ich und schaue mich kurz um. "Hör zu, ich fahr dieses Jahr schon ein bisschen früher zurück ans Einstein, ja? Aber Mama und Papa würden das nicht erlauben, deswegen darfst du mich nicht verraten, okay? Versprichst du es mir?"
"Du... du gehst weg?", fragt sie mit trauriger Stimme und sieht mich mit großen Kinderaugen an.
"Es geht nicht anders", versuche ich ihr zu erklären und schaue sie ein wenig flehend an.
Sie senkt den Blick und nickt.
"Ok", sagt sie schließlich mit fester Stimme. "Ich sage Mama und Papa nichts, aber nur unter einer Bedingung... Wenn ich alt genug bin, nimmst du mich mit ans Einstein", verlangt sie und in ihrem Blick liegt auf einmal Sehnsucht.
Ich kann nur lächeln. Dann nehme ich sie fest in den Arm.
"Versprochen", flüstere ich ihr ins Ohr und drücke sie an mich, bevor ich mich von ihr löse und mit Badu gemeinsam den Hof verlasse.

It's all about that summer feeling Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt