Kapitel 5

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Viktors Sicht
Die knapp vierstündige Zugfahrt von Aue über Leipzig nach Potsdam gestaltet sich überwiegend schweigsam. Dank des Gewitters, das am Vormittag über den gesamten Osten des Landes gezogen ist, fällt die erwartete Sauna in dem alten IC-Zug der Deutschen Bahn, der Badu und mich ratternd und polternd in Richtung Hauptstadt bringt, zum Glück nicht ganz so schweißtreibend aus wie befürchtet. Trotzdem lastet nach wie vor dieses beklemmende und stark bedrückende Gefühl auf mir, das selbst die immer größer werdende Entfernung zwischen meiner Familie und mir, nicht groß verändern kann. So sehr ich mich auch über Badus Anwesenheit freue und die Tatsache, dass er für mich mehrere Stunden Zugfahrt auf sich genommen hat, um zu checken, ob ich okay bin, fühle ich mich gleichzeitig einfach nur tierisch überfordert.

Das Schweigen zwischen uns ist ungewohnt, fühlt sich gänzlich unnatürlich an und macht mich zusätzlich ziemlich nervös. Andererseits weiß ich einfach nicht, was ich sagen soll - oder besser gesagt, wie.

Neben ein paar kurzen Erzählungen über seine offenbar sehr herzliche und laute Familie, die uns erwartet, ein paar angerissenen Erzählungen über das Sportcamp und schließlich seinem Entschluss, zu mir zu fahren, verliert auch Badu kaum ein Wort über irgendetwas, das inhaltlich tiefer geht als die chaotischen Bahnverbindungen oder die heruntergekommenen hellblauen Sitzplätze, auf die wir uns nach kurzem Suchen zu Beginn der Fahrt, recht weit hinten in einem fast leeren Waggon gegenüber voneinander, niedergelassen haben.

Als wir endlich am Potsdamer Hauptbahnhof ankommen, rebelliert in meinem Magen bereits seit einer Weile eine Mischung aus Hunger, Erleichterung und ansteigender Nervosität. Die Luft ist überraschend kühl als wir auf den Bahnhof treten und auch die tiefhängenden Regenwolken des Vormittages haben sich mittlerweile fast vollständig verzogen. Dahinter kommt die zum Glück nicht mehr ganz so gleißende und brennende Nachmittagssonne zum Vorschein, die die zugegebenermaßen wirklich schönen Hausfassaden, blühenden Vorgärten und anliegende Parks, an denen wir vorbeikommen, in ein warmgoldenes Licht tauchen.

Badus Zuhause stellt sich als freistehendes und sehr stilvolles Einfamilienhaus heraus, welches mit seinen Verzierungen wohl an ein klassisches Fachwerkhaus erinnern soll, was, wie ich auf unserem Weg feststelle, offenbar ganz typisch für die Potsdamer Stadtvororte zu sein scheint. Der Weg zur Eingangstür führt uns über runde Steinplatten, die inmitten des kleinen Vorgartens von ein paar spätblühenden Beeten und Sträuchern umgeben sind. Es dauert nur wenige Sekunden bis sich die große hellbeige Haustür für uns öffnet und wir von Badus freudestrahlender Familie empfangen werden. 

"Da ist ja mein Großer", begrüßt eine großgewachsene Frau in einem langen dunkelroten Kleid Badu euphorisch und zieht ihn augenblicklich in eine überschwängliche Umarmung. "Hey Mum!" Ein wenig widerwillig gibt er sich der sehr herzlichen Begrüßung seiner Mutter hin und scheint bemüht, sich nach einer Weile wieder aus ihrer Umarmung zu lösen." Meine Verstärkung, endlich!", lacht uns ein Mann mit breitem Grinsen und einem Gesicht, das dem von Badu nicht ähnlicher sehen könnte, an, der neben Badus Mutter im Eingang aufgetaucht ist und als zweites seinen Sohn herzlich in die Arme schließt. "Paps!", auch Badu scheint überaus erfreut zu sein, seinen Vater wiederzusehen.  "Und du musst Viktor sein", stellt seine Mutter dann immer noch freudestrahlend fest und hält mir freundlich die Hand hin.

Nachdem Badu mich seinen Eltern und seiner zwei Jahre älteren Schwester Zola kurz vorgestellt hat, zeigt er mir zu meiner Erleichterung erst einmal sein Zimmer, wo wir endlich unsere Sachen ablegen und er mich dann mit den Worten "bin mal eben Duschen" zunächst alleine dort ankommen lässt. Erschöpft lasse ich mich auf den mit Klamotten bedeckten Sitzsack vor dem Fenster fallen. Ein paar Minuten bleibe ich einfach dort sitzen und lasse meinen Blick über Badus Zimmer und schließlich aus dem Fenster schweifen, das zum hinteren Teil des Gartens herausgeht. Ein Blick auf mein Handy verrät mir, das dort anscheinend einige verpasste Anrufe und Nachrichten auf mich warten. Ohne sie zu lesen, tippe ich schnell eine kurze Nachricht an meine Mutter ein. "Bin bei Badu, einem Freund. Hab einen Zettel auf den Küchentisch gelegt. Fahre von hier aus wieder direkt ans Einstein. Ich weiß, ihr versteht das nicht, aber es ist mein Leben. Werde im nächsten Jahr wieder jobben, also macht euch keine Sorgen ums Geld, ich krieg das auch alleine hin. Viktor". Als ich gerade fertig bin, öffnet sich die Tür und Badu kommt nur mit einem Handtuch um seine Hüften bekleidet zurück ins Zimmer. "Na, alles gut?", fragt er mit leicht besorgter Miene und wirft einen kurzen Blick auf das Handy in meiner Hand. "Ja ja", antworte ich schnell, weiche seinem Blick allerdings aus und lasse das Handy in meiner Hosentasche verschwinden. Obwohl wir am Einstein so gut wie jede freie Minute miteinander verbringen, gemeinsam trainieren, essen und sogar in einem Zimmer schlafen, fühlt es sich irgendwie eigenartig an, mit ihm hier zu sein, in seinem Zuhause, seinem Zimmer.

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