Viktors Sicht
"Viktooooor! Essen ist fertig!", schallt die helle Stimme meiner Mutter durch die hölzernen Wände zu mir nach oben. Widerwillig öffne ich die Augen und blinzele in das tiefrot-orangene Licht der untergehenden Sonne, die hinter den sanften, gelbgrünen Hügeln am Horizont langsam versinkt. Ich schließe noch einmal die Augen, genieße den warmen Schein auf meinem Gesicht und die angenehme Ruhe, die sich in mir ausbreitet.
Dann schaue ich noch einmal sehnsüchtig auf das leuchtende Display meines Handys neben mir. Immer noch keine neue Nachricht. Ermattet lehne ich den Kopf gegen die Wand. Wieso guckt der denn nicht mal auf sein Handy? Trainiert der wirklich immer noch? Bei dem Gedanken an Badu in seinen enganliegenden Sportsachen muss ich instinktiv lächeln. Doch gleichzeitig hinterlässt der Gedanke auch einen schmerzhaften Stich, irgendwo ganz tief in mir. Ich schlucke und blinzele erneut ins immer schwächer werdene Sonnenlicht.
Eigentlich wären wir zusammen ins Sportcamp gefahren. Das war jedenfalls immer der Plan. Und in den nächsten Jahren dann ins internationale Camp mit den ganzen Profis. Das war schon immer mein Traum. Die ganzen letzten Monate vor den Ferien hatten Badu und ich uns gemeinsam aufs Sportcamp gefreut. Zwei Wochen trainieren, jeden Tag, totaler Fokus, keine Ablenkung, keine nervige Schule, keine Familie, nur wir beide und die Tartanbahn. Und dann, kurz bevor es losgehen sollte, hat mein Vater mich angerufen. Das Sportcamp sei viel zu teuer und sowieso total unnötig. Ich solle endlich etwas richtiges machen. Und das obwohl ich das ganze Schuljahr nebenbei gejobbt habe und sogar Staffelkapitän war. Das war die Abmachung, damit ich im nächsten Jahr das Stipendium bekommen kann. Und trotzdem wollte er mir diese versprochenen restlichen 100 Euro einfach nicht geben. Die Stimmung zuhause war dementsprechend unterirdisch die letzten Wochen und eigentlich habe ich fast die gesamte Zeit hier oben oder im anliegenden Wald verbracht, in dem ich verzweifelt versucht habe, wenigstens einem Teil meines Trainingsplans nachzugehen..
"Viktoooor!", ertönt die Stimme meiner Mutter erneut, dieses Mal allerdings wesentlich genervter.
"Komme ja schon!", brülle ich zurück und schwinge meine Beine, immer noch recht widerwillig, von der breiten Fensterbank des Dachfensters herunter, meinem Lieblingsplatz in diesem Haus.
Nach meinem Umzug aufs Sportinternat vor vier Jahren hat meine Familie als aller erstes mein Zimmer aufgelöst und all meine Sachen auf dem Dachboden verstaut. Nach kurzem Protest gegen meine unfreiwillige Ausquartierung aus meinem ehemaligen Zimmer, in den ersten Sommerferien, als ich aus dem Internat nach Hause gekommen bin, habe ich mich dann doch überraschend schnell hier oben eingelebt. Und mittlerweile fühlen sich die schiefen Dachschrägen der alten Holzgiebel viel mehr nach Zuhause an als der Rest dieses Hauses.
Geübt umgehe ich die splitternden Einkerbungen der Holzdielen und ziehe dann die quietschende Falltür nach oben. Leichtfüßig hüpfe ich die hölzernen Sprossen der alten Leiter herunter, der einzige Weg nach oben auf den Dachboden. An der breiten Wendeltreppe angekommen, die vom ersten Stock ins Erdgeschoss führt, schlängelt sich plötzlich eine kleine Gestalt um mich herum und springt dann übermütig die Stufen hinunter.
"Ich bin ersteeer", verkündet meine jüngere Schwester Hanna, mit einem frechen Grinsen in meine Richtung, stolz.
Ich schüttele nur schmunzelnd den Kopf und gehe dann ebenfalls die letzten Treppenstufen nach unten.
"Du kannst gar nicht erster sein, weil ich nämlich schon erster bin", protestiert mein jüngerer Bruder Paul empört und streckt seiner Zwillingsschwester die Zunge raus, als sie sich ihm gegenüber an den gedeckten Esstisch setzt.
"Keine Zankerei beim Essen!", ermahnt meine Mutter ihre beiden jüngsten und stellt einen großen dampfenden Messingtopf zwischen die beiden auf den Tisch. Als sie mich im Türrahmen entdeckt, wirft sie mir nur einen kurzen Blick zu und rauscht dann eilig zurück in die Küche.
"Fiona, Henning! Das Essen wird kalt! Und bringt euren Vater mit", ruft sie dann aus dem Küchenfenster, bevor sie es mit einem Krachen wieder zuzieht.
Seufzend lasse ich mich auf dem freien Platz neben Hanna fallen, die sich mittlerweile einen wilden Löffelkampf mit Paul liefert.
"Hey! Was hab ich gerade gesagt? Lasst den Blödsinn!", schimpft meine Mutter als sie mit einem großen Brotkorb aus der Küche zurückkommt. Auch mir wirft sie einen ermahnenden Blick zu, auf den ich allerdings nur mit einem unbeteiligten Schulterzucken antworte.
Es vergehen bestimmt fünf weitere Minuten, in denen meine Mutter die beiden Streithähne wiederholt zur Ordnung ruft, bis meine beiden älteren Geschwister mit meinem Vater im Schlepptau durch die Terassentür ins Wohnzimmer platzen.
"Entschuldige, Mutti! Bei der Hitze dauert echt alles doppelt so lange!", erklärt sich mein älterer Bruder Henning und streift sich mit hochrotem Kopf sein schmutziges Arbeitshemd ab.
"Schon gut, aber jetzt setzt euch bitte!"
Nachdem sich nun endlich auch der Rest der Familie am Tisch versammelt hat und meine Mutter auf jeden Teller eine große Kelle Bauerntopf gefüllt hat, breitet sich zunächst ein hungriges Schweigen aus.
"Der Vergaser ist übrigens schon wieder kaputt", merkt Henning nach einer Weile an und schaut vorsichtig zu Vater, dessen Stirn sich augenblicklich in Sorgenfalten legt.
"Schon wieder?", fragt meine Mutter fassungslos und lässt ihren Löffel in den Teller sinken.
"Der war doch noch so gut wie neu", murmelt Fiona, meine 4 Jahre ältere Schwester neben mir und vergräbt verzweifelt das Gesicht in den Händen.
Ich betrachte die besorgten Gesichter um mich herum teilnahmslos, bemühe mich möglichst lautlos den Löffel wieder in den däftigen Eintopf voll Kartoffeln, Paprika und Möhren zu tauchen und dann unauffällig in den Mund zu schieben.
"Kannst du den nicht reparieren, Henni?", fragt Hanna neben mir mit großen Augen.
Fiona legt ihr mitfühlend die Hand auf die Schulter.
"Das ist leider nicht so einfach", antwort Henning mit einem matten Lächeln in ihre Richtung und wendet sich dann wieder Vater zu.
"Die Zäune an der Süd-Koppel hinten sind auch schon wieder morsch. Schlechte Qualität, ich sag's doch! Und mit dem Wässern komme ich so langsam auch nicht mehr hinterher. Wenn es nicht bald mal regnet, vertrocknet noch die ganze Ernte! Und wie sollen wir dann die Reparaturen bezahlen?", stöhnt Vater genervt und schüttelt melancholisch den Kopf.
"Dann müssen wir halt an anderer Stelle Einsparungen machen", schlägt Henning vor und blickt hoffnungsvoll zu Vater.
Der nickt nur und starrt vor sich ins Leere.
"Luca", flüstert er dann leise. "Ich fürchte, wir können ihn nicht länger anstellen."
"Was?", fragt Fiona entsetzt und lässt ihren Suppenlöffel klirrend in den Teller fallen. Sofort schießt ihr die Röte ins Gesicht und sie senkt beschämt den Kopf.
"Aber wer soll denn dann seine Arbeit übernehmen? Ihr seid doch jetzt schon total ausgelastet!", gibt meine Mutter zu bedenken und blickt ratlos zwischen Vater und ihrem ältesten Sohn hin und her.
Ich senke den Blick, starre stumm auf mein halbleeres Wasserglas. Trotzdem spüre ich die Blicke um mich herum, die allesamt auf mich gerichtet sind.
"Viktor... Ich weiß, das hier ist nicht so deine Welt und du...", beginnt Henning vorsichtig, doch mein Vater unterbricht ihn unsanft.
"Ach, Papperlapapp! Dein Bruder ist ja nun wirklich alt genug, um hier mal ein bisschen Verantwortung zu übernehmen! In seinem Alter hab ich schon fast den ganzen Hof alleine verwaltet! Wird Zeit, dass du auch mal deinen Teil dazu beiträgst, junger Mann!"
Meine Finger krallen sich schmerzhaft um den Löffel in meiner Hand. Wie erstarrt, durchbohre ich die weißgelbe Tischdecke mit meinem Blick, bevor ich langsam den Kopf hebe und meinen Vater mit schmerzverzerrten Gesicht ansehe.
"Das kannst du vergessen", erwidere ich dann bestimmt und tauche meinen Löffel dann unwirsch in den mittlerweile lauwarmen Eintopf, bevor ich ihn mir in den Mund schiebe und weiteresse.
Alle Augen sind auf mich gerichtet.
"Wie bitte?", fragt mein Vater gefährlich ruhig.
"Du kannst mich ja wohl nicht zwingen, hier zu arbeiten! Ich will nunmal kein Landwirt werden! Es interessiert mich einfach nicht! Verstanden?", fauche ich aufgebracht.
"In diesem Ton sprichst du nicht mit deinem Vater! Hab ich dir keinen Respekt beigebracht? Was ist denn nur falsch mit dir, Viktor?", schüttelt mein Vater wütend den Kopf und haut sein Glas ärgerlich auf die Tischplatte.
"Wenn's nach dir geht wohl alles", stelle ich mit leicht zitternder Stimme fest.
"Viktor, jetzt reiß dich mal zusammen!", fährt meine Mutter mich an.
Ich sehe sie nur an, fühle nichts außer Gleichgültigkeit und endloser Leere.
Geräuschlos stehe ich auf, schiebe meinen Stuhl zurück und gehe wortlos nach oben.
Mein Herz rast, das Blut in meinem Kopf rauscht ohrenbetäubend laut, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen. Ich will nur weg, weg von hier, von diesem Ort der sich so wenig nach Zuhause anfühlt, der voller Vorderungen und falscher Versprechen ist.
Auf dem Dachboden angekommen, lasse ich mich auf meine Matratze fallen, starre an die hölzerne Decke von der vereinzelte Spinnenweben herunterhängen.
Erschöpft greife ich nach dem Handy in meiner Hosentasche und schalte hoffnungsvoll den Bildschirm ein. Als Badus Name auf dem grellen Display erscheint, macht mein Herz einen kleinen Hüpfer, erweckt den Eindruck, dass doch noch ein paar Gefühle in mir drinstecken, die es wert sind, gespürt zu werden.
„Jo, alles bestens, ist mega nice hier! Die Leute sind alle richtig cool drauf und ich habe einen super Trainingspartner, spielen gerade Wahrheit oder Pflicht, melde mich dann später nochmal"
Das Lächeln auf meinen Lippen verschwindet ebenso schnell wie es gekommen ist. Ich weiß nicht wirklich, was ich eigentlich erwartet habe, aber eine so knappe Antwort sicherlich nicht. Enttäuscht lasse ich mein Handy wieder sinken, hieve meinen Körper, der sich auf einmal wieder sehr schwer anfühlt, von der Matratze hoch und setze mich mit verschränkten Armen auf die Fensterbank. Unsicher spiele ich mit dem Handy in meiner Hand, bin mir unsicher. Soll ich antworten? Oder die Nachricht einfach ignorieren? Nee. Oder? Zögerlich beginne ich zu tippen.
"Klingt cool, hätte ich jetzt auch echt..." Ich stocke, lösche den Text wieder.
"Ah, cool. Dann will ich nicht stören", tippe ich dann langsam, halte inne. Keine Ahnung, woher diese Wut auf Badu mit einem Mal kommt. Vielleicht ist es Neid? Angst, nicht mehr wichtig zu sein? Bei dem Gedanke wie Badu lachend am Lagerfeuer sitzt, umgeben von Leuten, die mit ihm Spaß haben, unbeschwert und unabhängig ihren Träumen nacheifern, genau den Traum leben, der mich das ganze letzte Jahr angetrieben hat.
Ohne eine weitere Sekunde zu zögern, drücke ich auf senden. Schnell lege ich mein Handy aus der Hand, kaue unruhig auf meiner Lippe und versuche angestrengt, das beklemmende Gefühl in meiner Brust zu verdrängen. Suchend blicke ich aus dem Fenster, sehne mich danach, weit weg von hier zu sein.
Die Sonne ist mittlerweile untergegangen, zeichnet nur noch einen blassen lilanen Dunst über das dunkle Blau auf dem nach und nach immer mehr strahlende Sterne auftauchen. Mein Blick schweift über den endlos scheinenden Himmel, sucht nach Halt, nach Wärme, nach irgendetwas, das mehr ist, als das was ist.
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It's all about that summer feeling
Fiksi PenggemarEndlich Sommerferien! Alles hätte perfekt sein können, wenn Badus bester Freund ihn nicht in letzter Sekunde einfach hängen gelassen hätte. Ohne Viktor ist das Sportcamp einfach nicht dasselbe! Für den leidenschaftlichen Sportler aber noch lange kei...