𝟎𝟎. 𝐏𝐫𝐨𝐥𝐨𝐠

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Elsas Sicht

Am liebsten würde ich weinen. Oder etwas gegen die Fensterscheibe werfen und dabei zusehen wie sie in tausend Scherben bricht.

Die spärlichen Sonnenstrahlen, die den feinen Satinstoff der weißen Gardinen durchdrangen, schienen unschuldig in meine Augen und weckten mich mit einem Funkeln. Es war kein gutes Omen oder das Einläuten eines schönen Morgens. Es war mein verfrühter Wecker, der mich mit gutem Gewissen in die Hölle schickte.

Langsam rekelte ich mich und zog die blaue Decke des frisch bezogenen Bettes über meine müden Lider.

Bloß nicht, dachte ich verzweifelt und stöhnte gedämpft gegen meine Bettdecke, die sich doch so herrlich warm und angenehm weich anfühlte. Nach einem Moment der Resignation stürmte ins Badezimmer.

„Anna!", brüllte ich, die Zahnbürste zwischen den Zähnen, „Anna! Wach auf."

„Elsa, lass mich schlafen, verdammt. Es ist Nacht."
Irgendwie schaffte sie es tatsächlich mir ein winziges Lächeln ins Gesicht zu zaubern, das jedoch innerhalb von Sekunden verging.

„Es ist Morgen, Schwester.", gab ich zurück.

Ohne ein weiteres Wort riss sie die Augen auf, stolperte aus dem Bett, über eine zu Boden gefallene, glitzernde Kosmetiktasche, angelte sich einen Stapel bunter Wäsche und stürzte an mir vorbei.

„Guten Morgen! So nebenbei.", rief sie aus dem Badezimmer.

Meine Mundwinkel hoben sich. So wenig Vorfreude ich auch empfand, Anna schaffte es doch meistens mir ein kleines Lächeln zu entlocken.

Minuten später fanden wir uns schwitzend im dunkelgrau schimmernden Van unseres Vaters wieder. Das aufgekrubelte Fenster ließ frische morgendliche Luft herein, die lose Haarsträhnen aus meiner Stirn blies. Es war kühl und doch angenehm. Mit den Fingerkuppen fuhr ich über die Kante des Glases. Ich wollte für immer in diesem Sitz versinken.

„Ich kann's nicht fassen. Endlich geht mein Traum in Erfüllung.", quietschte Anna plötzlich und entbärte einen theatralischen Seufzer.

„Na wenn das dein Traum ist, Anna."
Ich war nicht gut gelaunt. Offensichtlich.

„Elsa, bitte.", mahnte unser Vater rasch, doch Anna schien die beifällige Bemerkung nicht gehört zu haben.

Verträumt starrte sie aus der verschmierten Fensterscheibe und zeichnete hauchdünne Herzchen auf das dichte Glas. Winzige Staubpartikel, angetrocknete Regenspuren und verwischte Fingerabdrücke kennzeichneten dieses. Leichte Sonnenstrahlen fielen auf den schmutzigen Asphalt, der an meinen Augen vorbeihuschte. Langsam spürte ich ein leichtes Gefühl der Nervosität, das in mir aufstieg. Ungewissheit. Ohne jegliches Zögern kramte ich nach den Kopfhörern und stöpselte mir diese in die dröhnenden Ohren. Ich wollte meine innere Ruhe finden. Wenigstens für einen Moment.

„Ich fürchte, du kannst deine Kopfhörer gleich wieder verstauen.", murmelte mein Vater, der uns durch den Rückspiegel im Visier behielt und meine Augen fixierte.

„Wir sehen uns später.", trällerte Anna. Die Rothaarige stürmte ungestüm in das tosende Meer aus unzähligen Augenpaaren.

„Genieße es, Elsa.", flüsterte mein Vater aufmunternden Blickes, seine strahlenden Augen voll Zuversicht und Hoffnung. Mulmigen Gefühls ging ich voran und folgte meiner Schwester ins Ungewisse.

Ich wollte umdrehen, wieder in den Van steigen oder mich in irgendeiner halbwegs sauberen Toilette verkriechen. Falls es die überhaupt an dieser Schule gibt. Wenn man von Zuhause unterrichtet wird, sind schmutzige Korridore, umgeworfene Mülleimer und schlecht belüftete Turnhallen nicht Alltag. Vielleicht hatte ich einfach zu viele Filme gesehen und steckte eigentlich gerade gedanklich in einer Highschoolkomödie. Vielleicht übertreibe ich. Aber wer wusste schon was mich erwarten würde, wenn ich die Schwelle überquerte. Solange die Einsamkeit nicht zu meiner neuen Freundin werden müsste, war ich bereit einen weiteren Schritt zu gehen.

𝐃𝐢𝐞 𝐖𝐢𝐧𝐭𝐞𝐫𝐫𝐨𝐬𝐞 - 𝑱𝒆𝒍𝒔𝒂 & 𝑯𝒊𝒄𝒄𝒔𝒕𝒓𝒊𝒅  Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt