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Das Erfordernis einer Abänderung unserer tagtäglichen Konfrontation mit der unbekannten Gefahrengröße erwägend, kam mir die reale Begegnung mit einer prägnanten Gestalt überaus gelegen. Zu meiner Überraschung erwartete mich ebenjene bereits, als ich aus dem Eingang meiner zuliefernden Apotheke trat.
"Ich möchte Sie um ein Vieraugengespräch ersuchen, Doktor", kam der Bruder meines Freundes direkt zum Punkt. Ins helle Tageslicht blinzelnd, wurde ich seines mir vertrauten Gesichts gewahr. Die Profile der beiden waren sich nicht unähnlich, wenngleich sich der Körperumfang von Mycroft Holmes ohne Umschweife als der massigere umschreiben ließ. Auch ohne seine angegrauten Schläfen, die so manchen Gentlemen ein weiseres Aussehen zu verleihen wussten, hätten seine Absichten wohl von jeher durchdacht gewirkt. Schon immer hatte er eine leicht skurille Wirkung auf mich gehabt. So auch jetzt, mit seinem Zylinder, der keinen Finger breit windschief saß, womöglich, weil er ihn so selten abnahm, selbst im innerhäuslichen Bereich. Mit seinem akkuraten Auftreten und in Stoffe von guter Qualität gehüllt, bildete er einen komischen Kontrast zu dem Trubel um uns herum und dem beißenden Geruch, der in der Luft hing. Flugs zog er eine goldene Uhr aus der dezent bestickten Westentasche, die sich unter seinem farblich abgestimmten Gehrock verbarg. Zackig ließ er sie aufschnappen. "Für die Erörterung der beiden Vorschläge, die ich Ihnen zu unterbreiten gedenke, werden wir um die fünfzehn Minuten benötigen, siebzehn möglicherweise." In gleicher Manier wie sein Bruder rümpfte er die Nase, als sich uns der stinkende Karren eines fahrenden Fischverkäufers näherte und wies mir den Weg hinfort. Dass es wenig Sinn hätte, ihn in die Baker Street zu bitten, war mir schnell klar. Sein Anliegen musste einen Grund haben, den es unter Verschluss zu halten galt, weshalb er mich nicht benachrichtigt und etwa in seinen Club, den Diogenes, bestellt hatte. Ich war gespannt, wusste, er würde mir bald sagen, was er zu sagen hatte. Nicht mehr und nicht weniger. Auf sein Geheiß hin, bogen wir rechts ein und gingen wir ein paar Schritte weiter, bis er in dem ruhigeren Seitengang hinter der früheren Poststelle plötzlich zum Stehen kam. Mit seinen dekadent anmutenden Spazierstock klopfte er zweimal auf das Pflaster, als hätte er es exakt auf diesen Punkt abgezielt und darauf, sich keinen Zoll weiterzubewegen. Ich stellte meine Tasche ab, trotzdem ich noch immer nicht verstand, was es so geheim zu halten galt oder ob er lediglich den theatralischen Auftritt genoss, als er meine Überlegungen auch schon unterbrach. Er informierte mich, dass er lange in Frankreich unabkömmlich gewesen sei, um diverse Regierungsgeschäfte und, wie er sagte, ein paar familiäre Wurzeln umzupflanzen. Seit seiner kürzlich erfolgten Rückkehr hätten die Geschwister sich zweimal konsultiert. Genug, um aktiv zu werden, wie er meinte- und offenbar, um mich mit entsprechendem Ernst zu befragen. "Gewöhnlich bin ich sparsam des öffentlichen Lobes", kam er zur Sache. "Für gewöhnlich hätte ich mich auch nicht in diese Gosse begeben. Nun denn, wie auch immer Sie bewerkstelligt haben, dass mein Bruder mit Ihnen Zwiesprache führt, es imponiert mir auf eine befremdliche Weise. Wie er Sie erduldet und das so eng, wo er sich von keiner Menschenseele lenken oder leiten lässt. Wie Sie ihn einst von den Giften wegbekommen haben und nach Hampersons Attacke wieder hinbekommen, dafür gebührt Ihnen ein gewisser Tribut gezollt. Das Königreich weiss es nicht, aber es steht in Ihrer Schuld."
Da sich seiner Rede eine gewisse Aufrichtigkeit entnehmen ließ, fühlte ich mich geehrt.
"Nun ja...", stotterte ich dennoch los, "...um die Wahrheit zu sagen, sind wir noch auf dem Weg. Momentan ist er etwas davon abgekommen", fing ich an, mich zu erklären und die Huldigung ins rechte Licht zu rücken, obgleich anzunehmen war, dass er bereits Kenntnis darüber erlangt hatte.
"Das dachte ich mir. Das Böse hat ein Gesicht. Die neuerlichen Entwicklungen lassen erwarten, dass mein Bruder sich hinter seiner vermeintlichen Nahbarkeit verschließen wird."
"Er wird sie aufarbeiten müssen." Die ganze Situation war zwar schwer zu umreißen, aber ich hatte den Eindruck, Mycroft schätzte sie bereits präzise ein. Ich konnte mir vorstellen, dass er genauso erpicht war wie ich, das Arbeitsfeld des beratenden Detektivs wieder in ein solches zu verwandeln und den Trümmerhaufen abzutragen. Sollte es ihm auch die Mühe bereiten, in seinen eigenen Vorlieben und strikt gehaltenen Tagesstrukturen variieren zu müssen. Sicher, Holmes war mir immer schon mit List begegnet. Angeblich mit sich im Reinen, zeigte er sich jedoch viel zu berührt von der Situation, keineswegs neutral- Holmes, der seiner eigenen Gewohnheit nach alles mit dem Verstand maß. Meinem Freund war die sachliche Auseinandersetzung, zumindest in Teilen, besser als mir gelungen. Hatte er sich doch nur in zweifelhafter Unaufgeregtheit präsentiert, und wie es schien, bereits mit einem halb geschmiedeten Plan in der Tasche. Dafür, dass er mir zu verstehen gegeben hatte, Coyles' Angelegenheit ruhen zu lassen, wirkte seine Reaktion auf die Geschehnisse jedoch regelrecht widersprüchlich. Unglaubwürdig. Das passte nicht zusammen. Auf undefinierbare Weise passte das nicht zu der von ihm getätigten Aussage, seinen Frieden damit geschlossen zu haben. In ihm schlummerte etwas, eine undefinierbare Inkongruenz, ich vermutete eine Art aufkeimendes Unbehagen. Seitdem die Unruhe auch von mir Besitz ergriffen hatte, sah ich die Zeit schwinden. Eine der rar gesäten Möglichkeiten, die sich hier vor mir auftat, auf lange Sicht Schaden an seiner Persönlichkeit, seiner Arbeit und schlussendlich an unserem Dual zu begrenzen, ja bestenfalls sogar Unterstützung zu bekommen, ließ meine anfänglichen Skrupel verebben. So rang ich mich durch, Mycroft in seinem Eindruck zu bekräftigen und meine Bedenken zu schildern. "Entgegen seiner Behauptungen, die mich zu Hoffnung veranlassten, agiert er so, dass mir eine lückenlose Einschätzung bisher nicht möglich ist. Entgegen seinem Bemühen, so tun als ob, ist es bei weitem nicht gut. In allem was er über seine bösen Erkenntnisse und Hypothesen hinaus artikuliert und praktiziert, spalten sich Eifer und Wachheit, die einzig für dieses Thema reserviert sind, ab und unterwerfen sich einem zurückhaltenden Grundtenor."
Damit gab sich ein Mycroft Holmes nicht zufrieden. Er musterte mich kritischen Augenmerks, wie ich es bei seinem Bruder so manches Mal erlebt hatte. Einmal mehr ertappte ich mich dabei, dass mich der Gesichtsausdruck an den eines Papageientauchers erinnerte. Von ebenjener Seltsamkeit wie diese einnehmende Vogelart und von der gleichen hartnäckigen Eigenart wie mein Freund, drängte er auf eine aussagekräftigere Antwort.
"Das sind harte Worte, Doktor." Er sah sich um. "Die Stärke, die er in sich trägt, wird meinen Bruder da schon durchbringen. Aber wird er auch in der Lage sein, die Erfahrungen langfristig auszublenden, sich seiner Berufung wieder vollständig zu widmen? Ich frage zu seinem Schutz, auch wenn es delikat ist, aber auch im Interesse meiner Vorgesetzten."
"Natürlich. Seien Sie versichert, ich arbeite daran."
"Ich muss mich vor Ihnen wohl nicht diplomatisch zeigen..., also unter uns, was ist mit Anzeichen von Hysterie, Symptomen von Angst? Können Sie schon beurteilen, wie stark er beeinträchtigt ist und ob es trotz seiner Eigenarten im Rahmen des vertretbaren liegt?"
"Stark. Es wird sie zweifellos geben", sagte ich unbeschönigt zu dem Mann, dem ich sowieso nicht vorzumachen brauchte und der längst dieselben Überlegungen wie ich anstellte. "Bei seiner Disposition, somatisch auf innere Konflikte zu reagieren. Für eine genauere Diagnostik ist es zu früh, die Umstände sind zu komplex..."
Die Spätauswirkungen würden kommen, ich hatte sie anderswo gesehen. Allem vorangegangen war dieser Prophezeiung, dass mein Freund seit Stunden diese tiefe Traurigkeit mit sich herumschleppte. Aber dieses Detail behielt ich für mich.
"Unser Nächster ist also dem Risiko weiterer Rückfälle ausgesetzt", resümierte Mycroft. "Sein Leibeszustand und seine mentalen Fähigkeiten könnten weiter Einbuße erfahren und durch eine langanhaltende Gemütserschütterung rapide verschlechtert werden."
"Durchaus."
Die Vehemenz, mit der er Auskunft wünschte, machten mich glauben, dass er einen nachdrücklichen Beweggrund haben musste. Vor Missfallen knirschte er mit den Zähnen.
"Wenn Sie all das bejahen, obwohl wir nicht sicher sein können, was konkret ihn noch immer in diese befremdliche Überreaktion versetzt, so macht es mich zumindest sehr skeptisch. Somit, Sie pflichten mir sicher bei, müssen wir an seiner statt handeln. Anderenfalls wird er, sollte diese undurchsichtige Gruppierung zu einem Gegenschlag ausholen, nicht standhalten können und es könnten unabwendbare Katastrophen entstehen. Was, wenn sie sich in London groß aufstellen und gegen ihn wegen Aufdeckung ihres kriminellen Beiwerks vorgehen? Es ist nur eine Frage der Zeit, dass man unsere Wissensanhäufung über die Gegenseite und allen voran, diesen Visionär, für den Sherlock ihn hält, entdeckt. Verhalten Sie sich bei zukünftigen Zusammentreffen mit Coyle distanziert, erregt Ihr Anderssein Aufsehen, verhalten Sie sich konfrontierend, fühlt er sich bedroht." Eifrig versuchte ich mir auszumalen, wie unser Tätigwerden aussehen sollte, scheiterte in dem Moment, wo Mycroft mir zuvor kam. "Halten Sie Ihren Patienten unter Ihrer Beobachtung für reisefähig, Doktor?"
"Ja." Ich dachte kurz nach. "Ja, bei guter Vorbereitung und Absicherung von Eventualitäten."
"Dann bleibt zu eruieren, ob wir ihn nicht irgendwie hier wegschaffen können, raus aus der Schusslinie, raus aus dieser Stadt."
Seine Idee überraschte mich nicht sonderlich. Und, wie ich zugeben muss, kam sie mir nicht ungelegen, jedoch war das nicht ausschlaggebend. Alles zurück in sichere Bahnen zu lenken, hingegen schon, weshalb ich mich und ihn fragte, wie wir das Ganze bewerkstelligen sollten. Klar war, dass wir Holmes nichts vormachen konnten.
"Er wird sich weigern", gab ich zu bedenken.
"Präzise. Deshalb kommt es auf den Überbringer der Botschaft an", hielt er dagegen. "Sie."
"Er wird es trotzdem nicht wollen."
Auch dafür hatte er einen Lösungsvorschlag parat.
"Nun, dann werden Sie es ihm verordnen. Und ich werde ihn ködern. Alles zu seinem Besten, versteht sich."
"Er kommuniziert kaum mit mir."
"Oh, das würde ich so nicht stehenlassen. Ihre Bezeichnung entbehrt der Konkretisierung. Spricht er nicht, kann er Sie dennoch hören. Wir müssen gut planen, als ein Holmes wird auch er das längst getan haben. Da er sich freiwillig in kein Hotel einquartieren wird, müssen Sie eine medizinisch stichhaltige Kartei aufsetzen. Verfassen und stempeln Sie irgendeinen amtlichen Schrieb, der den Verlauf seiner anhaltenden Beschwerden und Komplikationen in Folge der Wunde aussagekräftig untermalt, fachlich darlegt und über seine Erfahrungen mit der Übergrifflichkeit hinwegtäuscht. Mein Sekretär wird das morgen entgegennehmen und weiterleiten."
"Sicher doch. Wofür?"
"Der Umstand spricht ja wohl für sich", antwortete er nur und war damit meinem Denken weit voraus. "Mit Ihrer Hilfe werden ihn noch einmal in der Highlander Klinik unterbringen. Um Nachforschungen zu betreiben natürlich, nur so wird er zustimmen. Allerdings gibt es da einen Haken. "
Mir wurde flau.
"Am Fuße der Geschehnisse? Nie und nimmer heiße ich das gut!"
"Am Fuße der Truppe um diese Halunken, wo Sie direkt ermitteln können, was da oben getrieben wird. Und das ohne, dass ihr Anführer dabei ist, denn Coyle praktiziert ja derzeit in London. Und ohne, dass er Verdacht schöpft, denn während Sie des Bruders verlässlichste Stütze sind, müssten Sie Coyle hier nicht unter die Augen treten. Sherlock hätte ja wohl die medizinische Relevanz der dortigen Weiterbehandlung."
"Und wenn schon, auf letzteres würde er sich sowieso nicht einlassen. Das ist der Haken, verstehe."
"Nun, wenn wir nicht am selben Strang ziehen, um ihn wieder voll einsatzfähig zu bekommen, haben wir ein weiteres Problem. Wie bedauerlich. Aber Sie können seinen postoperativen Verlauf gewiss am besten einschätzen. Zumindest sind wir uns einig, dass er hier rausmuss. Dorthin, wo sich niemand um zwei Gestrandete schert, die sich in Einsamkeit alldem widmen können, wonach es ihnen verlangt."
"Wie lautet der zweite Vorschlag?"
"Alternativ kann ich Ihnen eines der Häuser in Frankreich anbieten. Es gibt da ein paar Gehöfte, die sind ihm vertraut, die Sprache sowieso. Aber jetzt bis über den Kanal fahren, Doktor?
"Zu weit."
Auch wenn der Stammbaum der Brüder mit seinen Verzweigungen irgendwo im französischen wurzelten, brauchten wir etwas Nahegelegeneres, unaufgeregt und abgeschieden. Etwas, das ein schnelles Reagieren unsererseits gewährleistete, für den Fall, dass sich etwas tat.
"Ganz recht, ganz recht. Wenn er dort drüben sein wollte, wäre er drüben." Der Mann, den ich für außergewöhnlich gescheit hielt, verlor sich kurz in Gedanken, von denen ich mir sehnlichst konstruktivere Ansätze erhoffte. Am Ende meines Lateins, wartete ich, ob er noch etwas ergänzen würde. "Hat Bruder Sherlock die inhaltliche Thematik der Kongresse in der Klinik erwähnt, mit denen ihre Anhänger durchs Land ziehen?", fragte er schließlich.
Ich überlegte. Eine Veranstaltung hatte stattgefunden, während wir damals oben waren. Nur war ich gar nicht auf die Idee gekommen, zu hinterfragen, was sich vor unserer Nase abspielte und viel zu sehr mit der Behandlung beschäftigt gewesen.
"Er hat mir nichts Genaues gesagt. Weiß er davon?"
Mein Gegenüber setzte ein schiefes Lächeln auf. Um es nicht als herabwürdigend zu bezeichnen, war es allerdings zu zackig und zu kurz.
"Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Somit wird er seine Gründe haben, wie wir logischerweise schließen können. Nun, dank Ihrer Zuarbeit liegen mir nun diverse Denkanstöße vor. Lassen Sie mir noch etwas Zeit, diese hektische Betriebsamkeit ist mir nicht zuträglich", ließ er in einem mir bekannten geheimniskrämerischen Unterton verlauten. Verdutzt starrte ich ihn an, aber er äußerte sich nicht weiter dazu. "Inzwischen, tun Sie, was getan werden muss. Als Mediziner..."
"Ja?"
"...oder als mehr." Für einen Moment befiel mich ein merkwürdiges Gefühl. Wie Bittergeschmack abgestandener Teeblätter, legte sich der Eindruck abgekühlter Plürre auf meine pelzige Zunge. Dennoch, oder gerade aufgrund dessen, gab ich ihm mein Wort. "Zunächst werde ich zusehen, dass ich meiner allwöchentlichen Lunchverpflichtung nachkomme und gleich anschließend werde ich einen lästigen Umweg zu diesem Lestrade in Kauf nehmen, ihm etwas von seiner Impertinenz austreiben und ihn ins Boot holen. Zu Ihnen: Ich sehe, wie Sie meinem eigensinnigen Bruder geholfen haben, jemandem der sich schwer helfen lässt. Sie kommen an ihn heran und ertragen seine Marotten, suchen ja scheinbar die Herausforderung. Wenn es also einer schafft, dann Sie. Aber, mit Verlaub, halten Sie genug Abstand, während Sie versuchen, sich gegenseitig auszuhalten- alles andere würde einem Holmes bedrohlich erscheinen. Auf Wiedersehen!"
Mit dieser Botschaft kehrte er mir den Rücken und ließ mich stehen. Meine Neugier war nicht gestillt, sondern geweckt. Ich fühlte mich nicht viel schlauer als zu Beginn dieses Tages, so ein erster Eindruck meinerseits, bevor sich die Ereignisse weiter überschlugen.

Verborgen im Selbst (Fortsetzung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt