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Im Nachhinein denke ich, er hat es gar nicht angestrebt. Zumindest hat er es nicht gutgeheißen, und schon gar nicht präferiert, mich so tief ins Vertrauen zu ziehen. Ein Stück vielleicht, mit Bedacht und kontrolliert, aber keinesfalls so tief. Holmes, ein ewig geheimnisvolles Rätsel, das sich von selbigen nährte.
Wenn er wollte, konnte er ausgesprochen wortgewandt sein, spitzfindig Formulierungen zum Besten geben, sein Gegenüber gar mundtot machen. Er wollte nicht.
Als unsere Verbindung engere Wege nahm, mich etwas Undefinierbares ergriff, ja in höchstem Maße beunruhigte, weil ich spürte, wie es ihn beunruhigte, begann er schließlich, mir die Schandtaten meines Klinikkollegen filetiert offen zu legen. Zunächst wurde mir nur knapp Auskunft erteilt über die unlängst geschehene, heimliche Erprobung der umstrittenen Coylschen Methodik an meinem Freund, seinerzeit schwer verwundet. Und über eine in die Zuständigkeit des Strafrechts abrutschenden als Massage verkauften Grifftechnik, durch deren Anwendung Kranke zu Opfern wurden.
Nach und nach dann holte Holmes ein wenig mehr aus, verwandte deutlichere, wenngleich monoton artikulierte Worte darauf, mich über abstoßende Details und diverse Indizien in Kenntnis zu setzen. Basierend auf seinem Verdacht, bediente er sich eines umfangreichen Repertoires an mit Überzeugungskraft präsentierter Faktenverknüpfung, um mit analytischer Präzision meinen letzten Glauben in das Gute auszuräumen. So erfuhr ich von der denkwürdigen Sammlung Bewusstseins verschleierter Eindrücke, bei der seine verschwommene Wahrnehmung sich geweigert hatte, sie dem Fach der respektablen Heilkunde unterzuordnen. Zumindest bis seine kombinatorischen Fähigkeiten wieder so weit einsatzfähig waren, alles und jeden zu hinterfragen. Verursacht durch das Werk Dr. Jeremiah Coyles machten dessen Hände und Griffe, statt zu untersuchen und zu behandeln, Holmes' Stichwunde somit daheim zu einem zentraleren Thema, als es nach unserem Aufenthalt mit Anbindung an die schottische Kurklinik noch zu erwarten gewesen wäre.

Coyles schwächende Einflussnahme hatte meinen Freund in einem Moment getroffen, in dem schon weitaus vitalere Menschen kapituliert wären. Die Nachwirkung auf ihn, als einen zuvor Angegriffenen, der sich noch im Genesungszustand befunden hatte, bestürzte mich stark. Deshalb begann ich, anders als mein Freund und Patient vom Delirium in der Erinnerung getrübt, das Ausmaß des Unrechts klar als ein solches aufzufassen. Fieberhaft überlegte ich, was ich durch das Hinzuziehen eines zweiten, eigentlich spezialisierten Behandlers veranlasst hatte, wann welche denkwürdigen Aufeinandertreffen vonstattengegangen sein könnten. Angestrengt durchforstete ich die vielen Male, bei denen sich ihm Gelegenheiten geboten hatten, wozu auch immer, wagte ich kaum zu erwägen. Coyle, derjenige, der mir kollegialen Trost gespendet hatte in meinen schwersten Stunden an meines Freundes Krankenbett, während dessen Ringen gegen das drohende Dahinscheiden- einem Kampf, der mich und uns hatte als neue Einheit lebendig werden.
Meine ebenso lückenhaften Erinnerungen wollten Coyle nicht in meinen Kopf lassen, ihm keinen Platz einräumen, dort, wo nur dieser Eine hingehörte, und mich ganz ausfüllte. Ehrenhaft und hingebungsvoll der Medizin verpflichtet, statt statisch seiner Arbeit nachgehend, lediglich derart hatten seine Absichten auf mich gewirkt, wann immer ich bei den Anwendungen dabei gewesen war. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, diesem empathisch agierenden Arzt einen Akt der Boshaftigkeit zu unterstellen, in dem er seine Befugnis an den ihm anvertrauten Hilfsbedürftigen überschritt. Nicht zuletzt, da ich von niemand geringerem als jener Koryphäe persönlich dazu angelernt worden war und bis zum heutigen Tage im Zuge unserer gelegentlichen Tätigkeiten im Londoner Bartholomäus Hospital vermittelt bekam, wie durch erfolgversprechende Techniken auf unseren Krampfpatienten einzuwirken sei.
Aber es hatte andere Tage gegeben, worauf Holmes mich ganz richtig mithilfe einiger beiläufig eingeworfener Argumente hinwies.

Eine seltsame Zeit brach an. Gefüllt mit Stummheit und Stille, wurde meines Mitbewohners nicht greifbare Gemütsverfassung umbettet, während er zwischen dem, was unsere Räume an Bequemlichkeit durch Sitz- und Liegemöbel zu bieten hatte, umher schlurfte. Reglos hing er darauf herum, teilnahmslos an vielem, was für gewöhnlich sein Interesse geweckt, ihn bisweilen zu exzessiven Tätigkeiten veranlasst hätte. Seine Exzentrik war verloren gegangen, seine Energie, sein Sarkasmus. Ähnlich dem, wie ich ihn früher erlebt hatte, wenn ihn nach Abschluss eines unserer Abenteuer die gefährlichen Klauen der Gier nach Herausforderung in ihre Leere hinabzog. Und doch wog er anders, dieser schwere Umhang aus Zurückgezogenheit und Argwohn, von dem er nun umhüllt war. Mit zunehmender Sorge verfolgte ich alles, bis ich ebenfalls anfing, still zu grübeln. Behutsam tastete ich mich heran, wandte mich ihm eines Tages zu und machte ihn auf einige Dinge aufmerksam.
"Holmes,...ich..."
"Mh."
"...ich würde sonstwas dafür geben, das alles ungeschehen zu machen, aber ich sehe mich ohnmachtsgleich", liess ich ihn wissen. Er reagierte nur mit Resignation.
"Gewiss."
"Mein Verstand vermag nicht zu erfassen, wie es dazu kommen konnte. Mir sind Mediziner bekannt, die sich als verfechtende Gegenbewegung zu derlei Maßnahmen verstehen, Muskulatur nach Trauma und Verletzungen zu lockern oder zu mobilisieren..."
"Und eine Größe wie Coyle vermag die Erfolgsmomente seiner Hebeltechnik geschickt zu seinen Gunsten zu verdrehen, Watson. Auch die kontraindizierten", antwortete er mir gedrückt und beließ es dabei.

Weitaus mitgenommener von den Beschädigungen an seinem Körper, als ich es je bei ihm erlebt, geschweige denn erwartet hatte, nahmen Verhaltensmuster bei uns Einzug, die meine Irritation bekräftigten. Nickte er in Folge der Aufregung um die Herabwürdigung, die er samt weiterer betroffener Patienten erfahren hatten, hin und wieder ein, so hielt dieser Zustand nie für lange vor. Bei der kleinsten meiner Bewegungen schreckte er hoch.
Statt das Wort an mich zu richten, beobachtete mein Mitbewohner mich nun des Öfteren und das mitunter, obwohl wir uns schon nahezu zwei Stunden im selben Raum aufgehalten hatten. Man hörte nicht viel aus unserem Zimmer, sah Holmes aber deutlich an, dass ihm etwas zu schaffen machte. Und bei seiner alten Angewohnheit, melancholisch dreinblickend fiktive Punkte anzuvisieren und mentale Innenschau zu betreiben, wie dieses Etwas in ihm arbeitete- während sich seine Augen verdunkelten und sich seine ganze Miene verdüsterte. Diverse Male schaute ich hinüber, wurde Zeuge, wie er geistesabwesend einen Satz unbenutzter Pfeifen polierte oder einen imaginären Faden zwischen den Fingerspitzen zwirbelte.
Sein Anblick im Schatten des ihm widerfahrenden Unrechts erzeugte eine mitleidvolle Resonanz in mir, die mich tief im Kern traf. Schon immer hatte etwas Schützenswertes in seiner Ausstrahlung gelegen. Zusammen mit seinem gemäßigt angeschlagenen Ton führte das in jenen Augenblicken gelebter Verletzlichkeit dazu, dass etwas Rabiates in mir aufzusteigen begann. Dieses fremdartige Szenario aus Gebrochenheit und Sanftheit riss an mir, brachte mich zu Sturz und veranlasste, dass ich mich aufzurappeln zwang, weil ich in dieser Verkehrtheit der Stärkere sein musste, mit Beständigkeit die Linie zu markieren, von der er abgekommen war.
Fernab der Schweigsamkeit, die er für sich wählte, begab ich mich so auf die Suche nach Antworten oder zumindest nach Formulierungen für jene abweisenden Mechanismen, die überall zu greifen begannen. Was mir blieb, waren Spekulationen darüber, was ihm geschehen war, die eingebettet werden mussten in einen neuen Kontext. Während die Zeit verging, hoffte ich, selbige gewähren zu lassen, würde zumindest einige destruktive Elemente aus dem Weg schaffen.
Seine Wortkargheit erzählte mir, wie stark ihn beeinflusste, was nicht beantwortende Floskeln überhandnehmen ließ, die sich bald zwischen unsere Unbeschwertheit drängten und mich in einen Zwiespalt zwängten. Schleichend, unbemerkt und giftig drohte dieses Mysterium, das ihn gefangen nahm, sich bis in unser zweisames Aufkeimen hinein zu bohren- und das, bevor es überhaupt zum Erblühen gekommen war. Zu furchtbar war die grell schneidende Wirkungskraft, die wie ein Blitz aus dem Nichts aufgetaucht war und die warm gewundene Atmosphäre, in dessen Entstehung wir beide gleichermaßen investiert hatten, teilte. Kalt und scharf.

Eine Sache, der ich mir in meiner unbefriedigenden Eigenschaft jenes passiv Daseins führenden zumindest noch gewiss war, wollte ich im Umgang mit vertrauten Strukturen zur Anwendung kommen lassen. Und so zauderte ich nicht länger und startete den Versuch, zu ihnen zurückzukehren, bis ich mir meiner unausgereiften Überlegungen gewahr wurde. Wie üblich wartete auf meinen Schreibtisch schon ein Stapel mit der Morgenpost, zu dem ich mich gesellte.
"Hier ist ein Klientengesuch", kommentierte ich einen Brief, der von einer leichten Blumennote umgeben war. "Ich antworte dem Absender, dass er sich gedulden muss."
Träge streckte Holmes seinen Arm war, aus eine von wenigen Bewegungen dieser Tage.
"Nun, eine Dame sollte man nicht warten lassen. Ich werde mich ihrem Anliegen widmen."
"Nein, werden Sie nicht", erwiderte ich, obwohl mir klar war, dass der Brief nicht lange liegen bleiben würde. "Nicht vor Mitte nächsten Monats!", befahl ich. Ihm, dem Inbegriff von Mut und Weisheit, der stets den Anschein erweckte, keinerlei Skrupel vor den Verbrechergrößen des Landes zu haben, sich notfalls alleine gegen alle aufstellte.
Das war der Moment, der mir erstmalig vor Augen führte, dass zuerst der Schrecken über die eigenen Gegebenheiten abgetragen werden musste. Scharf zog ich den Brieföffner durch das nächste Kuvert. Es gab einen prägnantes Geräusch, dem einzigen mit nachvollziehbarer Aussagekraft in der weitgefächerten Lautlosigkeit.

Schützend die begrenzte Menge meiner Möglichkeiten über einem rundum lädierten auszubreiten, vor einer kriminellen Welt, in der Holmes sich einen Platz geschaffen hatte, all die bösartigen Retrospektiven vorerst wegzuschließen, wurde zu meiner neuen Intention. Ihm einzuräumen, wieder zu sich zu finden, seinem ohnehin nervösen Wesen ein körperlich und mentales Gleichgewicht aufbauen zu helfen, schien mir eine Selbstverständlichkeit, ihn permanent der Problematik der Übergriffe auszusetzen, hingegen wenig erstrebsam. Gleichzeitig trieb es mich, dem Kapitel einen schnellstmöglichen Abschluss durch Anklagen des Täters zu geben, was wiederum auf eine Konfrontation mit der Thematik hinauslief.
Selbst in den vorangegangenen Nächten war es uns nicht gelungen, ein Nachlassen der Tagesanspannung zu verzeichnen. Der unruhige Schlaf, in den wir beide schlussendlich verfallen waren, war seiner Bezeichnung nicht wert. Meine Augen brannten seit den Morgenstunden jenes Wochenendes, an dem ich ins Bild gesetzt worden war. In zurückgezogener Zweisamkeit Revue passierend, war es hinter den Mauern unseres großen Wohnraumes, in seinem oder seltener in meinem Zimmer, allerorten eingeengt in ausdruckslose Strecken der Zögerlichkeit, verbracht worden. Um ihn zurück in seine lebendigere Wesensart zu lotsen, legte ich mir schließlich Gesprächsstoff zurecht, von dem ich mir versprach, zumindest seinen häuslichen Aktionismus zu schüren.
"Sie sind seit dreißig Stunden auf den Beinen und ich ebenfalls. Nur verstehe ich immer noch nicht, wie sich diese pseudowissenschaftliche Truppe eigentlich nachweislich organisiert und wo?"
Holmes, tatsächlich für einen Moment von detektivischem Eifer angespornt, reckte in wichtig tuender Manier das Kinn vor. Aus seiner linken Brusttasche wurde ein Zettel mit dahingekritzelten Namen befördert, den er auf der Tischplatte auseinanderfaltete. Zu meinem Erstaunen hob er dann die Teppichkante an und zog ein zweites Blatt mit den dazugehörigen Adressen hervor, den er dort versteckt gehalten hatte.
"Wie löblich, dass Sie das endlich ansprechen, mein guter Doktor. Unsere heiligen Hallen drohen, der Sachlichkeit zu entsagen", bemerkte er spitz von der Seite. "Nun, resümieren wir, was uns bis jetzt vorliegt." Zugleich schöpfte ich Hoffnung, dass er sich durch Inganghaltung unseres Gesprächs weiter mitteilen würde. "Das Treiben dieser Männer lässt vermuten, dass sie demografische Aufzeichnungen in diversen Kliniken erstellen und an Interessenten ins Ausland verkaufen, bis hierhin legitim."
"Skripte über ihr Wirken am Rande der Gesetzestexte?"
"Richtig. Soweit ich bis dato herausfinden konnte, dokumentieren und befunden die Fallunterlagen neueren Datums Genesungsverläufe unter jener übergriffigen Therapiemethodik, die vermutlich geheimgehalten werden soll. Vielleicht verstecken sie sich auch dahinter, um Kontakte aufzubauen und den Marktwert auszutesten. Wie sich unschwer erkennen lässt, sind es so einige, deren Identitäten ich ausgegraben habe."
Beim Inspizieren der Namen, darunter viele Doktoren und Professoren, bekroch mich das Unbehagen, erst nahezu diffus, dann zunehmend eisig, ganz so, wie man es aus alten Schauerromanen kannte.
"Wahrhaftig, die Aufzählung umfasst ja mehr als zwei Dutzend!", zog ich die erschreckende Bilanz. "Wie sollen wir zu zweit gegen dieses Ausmaß ankommen, wenn's ernst wird?", rief ich entsetzt aus und meine oft getadelte Fantasielosigkeit verselbstständigte sich darin, üble Szenarien zu skizzieren.
"Mit List. Sollte einer von denen dahinter kommen, dass wir im Bilde sind, wird's ernst für uns, das ist zweifellos richtig. Dieser Tag wird düsterer als die Nacht, wenn wir nicht achtgeben, aber genau das werden wir", murmelte mein Freund vor sich hin. "Sie wollen es wahrscheinlich nicht hören, aber ich würde mich gar nicht unwiderruflich gegen das Tabu einer körperlichen Grenzerfahrung aussprechen, wenn es der Aussicht auf ein phänomenale wissenschaftlichen Relevanz gleichkäme, was die trügerischen Herrschaften da entwickeln. Das wurmt Sie, was alter Junge?", hörte ich ihn fragen und konnte nur entrüstet staunen. Er faltete alles sorgfältig zusammen, bevor es in einer verbeulten Zigarrenkiste verschwand, in die er einen doppelten Boden hatte einsetzen lassen. "Aber hier liegt der Fall anders, weil Coyle sich an denjenigen vergangen hat, die nicht frei waren, selbst zu entscheiden, wo ihr Zustand es nicht zuließ und zu einer Grenzüberschreitung wurde. Es empfiehlt sich, die Erkenntnisse in einem stillen Geheimbund auszuwerten, wenn man bedenkt, wie verpönt die Thematik der Allgemeinheit ist. Ich an deren Stelle würde den Spieß umdrehen, um meine Lehren von innen subtil in die Gesellschaft zu verbreiten, Stück für Stück von einem zum nächsten getragen. Sie nicht auch, mein Gefährte?", philosophierte er mit einem kurzen Zwinkern und ich wusste nicht mehr, ob er mir in diesem seinem alten Element tatsächlich gefiel.
"Ihre Dienste wären sicher sehr gefragt in kriminellen Kreisen."
Holmes pinselte etwas Leim auf die Kiste und verschloss sie mit dem Unikat eines Herstellerbildes. Dabei unterhielt er mich mit ein paar Deduktionen über die Annoncen in der Tagespresse, die mich nicht wirklich von all meiner Skepsis und meinen Befürchtungen abzulenken vermochten. Aber darüber hinaus blieb wenig zu sagen.

Meine brachiale Wut über den übergriffig gewordenen Scharlatan und das Bestreben, ihn noch vor einem Inkenntnisgelangen neuer Zwielichtigkeiten aus seinem Arbeitsfeld zu stellen, fand seine Erweiterung in dem immer stärkeren Bedürfnis, uns auch räumlich in eine unangreifbare Position zu bringen. Vor der diffusen Bedrohung, die von den Männern der Wissenschaft auf uns ausstrahlte, wog ich uns in fehlender Sicherheit. Nie zu unterschätzen war schlussendlich derlei Informationsgehalt, dessen Durchdringen nicht mehr kontrollierbar war. Gerade das ließ alles für uns so gefährlich werden wie Presseagenten, die sensationsgeifernd hinter jeder Ecke lauerten, wie an diesem Tag. Ob wahrheitsgemäße Berichterstattung oder nicht, machten sie auch vor der unseren nicht Halt und bestärkten mich in meiner Vorsichtabsicht. Diesmal würde es nichts zu berichten geben, schwor ich mir, als ich ihrer stummen Macht bei der sinnfreien Begutachtung des Fensterglases ansichtig wurde.

"Lestrade", rief ich tags darauf bestimmt und warf meine Frühstücksserviette nieder. "Wenngleich unwissentlich, war er es doch, der Sie damals auf die Spur gebracht hat, soll er Coyle auch belangen!"
Holmes, wie stets nicht ganz frei von diversen Gedankenspielen, sammelte sich, kehrte in die Realität zurück, und schielte kurz zu mir hinüber. In dem schwachen Verzögerungsmoment, meinte ich auszumachen, dass er das Verweilen in fiktiven Logigketten vorgezogen hätte. Nur langsam hörte er auf zu kauen. Er schluckte zunächst den Bissen herunter, bevor er es mir gleichtat und seinen Stuhl zurück rückte, sich im Gegensatz zu mir, aber vom Tisch erhob. Anschließend wurde mir mit verhaltener Stimme erklärt: "Er weiß es nicht."
Alarmiert horchte ich auf, musterte im Versuch, Bedenkzeit über die Sinnhaftigkeit zu gewinnen, die Bügelkante der Serviette, schob selbige und den Teller bedächtig beiseite, ohne ihn anschließend loszulassen. Nach kurzer Überlegung schließlich, eröffnete ich mit ebenso leiser Vorsicht meinen Entschluss, der sich, durch den Strang beängstigender Ahnung gebildet, um meine Hoffnung geschnürt hatte.
„Dann müssen wir es ihm sagen! Alles."
"Watson...", mahnte er ruhig und schaute auf wundersame Weise bittend herab.
"Ich werde gehen."
"Nein", gebot man mir sacht im Ton, aber gebieterisch in der Wirkung Einhalt, woraufhin ich ins Zögern geriet. Mit kreisenden Bewegungen fing mein Freund an, seine Schläfen zu bearbeiten, in gefährlicher Ruhe als Person vor mir stehend und meine Reaktion abzuwarten. "Nicht. Bleiben Sie", setzte er sanft nach. Ratlos ließ ich das Bild der synchron geführten Fingerspitzen auf mich wirken, die endlose Runden drehten, bis sie endlich zum Stillstand kamen, sich nun für einen Moment leicht auf die meinen legten und mit dieser schüchternen Zutraulichkeit eine Welle der Betroffenheit in mir auslösten. "Später, mein Lieber."
Schließlich, nicht wirklich überzeugt, fand sich meine spartanische Zustimmung in einem Nicken wieder. Er quittierte es mir mit dem Anflug eines gequälten Lächelns, welches sogleich wieder verflogen war.

Kurioserweise wurde Holmes' Vergeltungsbestreben von dem meinen um ein Vielfaches überragt. Mehr als einmal noch unternahm ich den Versuch, ihm die Bereitschaft zu versichern, dem Widersacher meinen ungeschönten Hassanstieg entgegenzuschleudern.
"Ich will es nicht vergessen, kann diese Halbfertigkeit, die uns als Mitwisser seines Tuns im Kreis derart agierender Personen nun gefährdet, so nicht stehen lassen. Uns Geduld abverlangend, bis sich das Ganze vielleicht wiederholt."
Genau wie ich diese penetrante Mücke, die über dem Kaminrost herum surrt, nicht übergehen kann, fügte ich meinen Gedanken erregt hinzu. Tausend Fragen schwirrten in meinem Kopf und konnten gut und gerne auf ein derart nervenaufreibendes Surren verzichten.
"Das steht Ihnen ins Gesicht geschrieben", erwiderte Holmes und hielt mich erneut zurück. "Haben Sie keine Sorge, die Warterei erfolgt nicht aussichtslos. Es wird Entwicklungen geben, wo Menschen hantieren, hinterlassen sie Spuren", winkte der dann bloß ab, gab sich in seiner Auffassung gefestigt und warf mir eine alte, zerschnittene Zeitungsausgabe hin.
Sein Ersuch, mich auf meiner Verteidigungsposition zu beschwichtigen, belief sich auf einen vorerst akzeptierenden, duldsamen Umgang vor einem rächenden Gegenschlag. Wollte er mich mit seiner nichtigen Behauptung schonen? Ich konnte es nicht glauben! Mithilfe der zusammengerollten Times setzte ich zweimal vergeblich an, beim dritten Versuch erwischte ich das blutsaugende Insekt endlich- mit erheblich zu viel Wucht.

Ein Strudel aller erdenklichen Empfindungen setzte sich reißend in Bewegung. Ich wurde innen unruhig und außen laut und war mir schändlich bewusst, das ich mich nicht bremsen konnte, dass es ein Ausdruck meiner Schwäche war. Holmes war es ebenso, meine Schwäche. Ach, wäre es nur auf das anatomische beschränkt gewesen, dann bewegte ich mich auf vertrautem Boden, hätte routiniert genäht und gesäubert. Jeremiah Coyle aber hatte etwas Anderes in ihm zerstört. Die ganze Wesens verändernde Katastrophe, das war alles seine Handschrift! Der Mann hatte das besessen, was ich haben wollte- und mir die Milde genommen.
Egal wie weit wir miteinander kommen, resümierte ich, auch wenn Holmes mit seiner geheimnisumwitterten Anziehungskraft neue Seiten in mir heraufbeschworen hatte, gab es Dinge, die würde ich nie über ihn wissen. Aus dem banalen Grund, dass er sie mich nicht wissen lassen wollte. Da hatte er Oberwasser. Und was hatte ich? Ich hatte keine Chance. Trotzdem würde mich das, was an Restfragmenten übrigblieb, beseelen. Es war noch nicht lange her, hatte Zeiten gegeben, da wir beider Maßen die Vorantreibenden gewesen waren. Aufzugeben, was mir an zugänglichen Signalen entgegengebracht worden war, war keine Option. Bis die Entwicklungen Neuigkeiten mit sich brachten, war ich überzeugt, dass es sich für diesen Rest zu kämpfen lohnte und glaubte, alles bis ins Unermessliche mittragen zu können. Und wo ich es nicht könnte, bräuchte ich nur ein Ventil.

Druck. Ich spielte mit dem Gedanken, zu einer Hure zu gehen, irgendeiner käuflichen Frau. Nein, nicht irgendeiner! Die schmutzigste, hässlichste des ganzen Stadtteils sollte es sein. Ich musste mir beweisen, dass ich Kerl genug war, noch allen Reizen zu erliegen- oder man mir. Besser als nur dem einen hinter seiner eigenen Barriere, einem verschlossenen Zimmer, möbliert mit undurchsichtigen Gebärden. Dass ich zu mehr fähig war als unser verfluchter Widersacher und noch in der Lage, mich in einfacher Klarheit zu erden, statt mich von undefinierbaren Verwirrungen kaputttreten zu lassen.
Etwas in mir drängte darauf, aktiv werden zu dürfen, ohne Schuldgefühle zu entwickeln. In Haarsträhnen zu atmen, weich wie die seinen, in denen sich der Schimmer der Dämmerung spiegelte. Ich wollte mich stupide abarbeiten, ohne Anspruch an vernunftbezogenes Denken und Handeln, bis mir egal wurde, wen ich da vor mir hatte und wen sie umschmiegten. Mir nehmen, was ich brauchte und mir vormachen, der gelebte Moment wäre konsequenzlos, während die Atemzüge hastiger wurden und meine letzte Unsicherheit abflachte.
Wie viel verlockender wäre es, sich dem einfach hinzugeben? Und, zu guter Letzt, niederen Instinkten folgend, mich kopflos zu ergießen, um nach der abgeladenen Schwere der Leichtigkeit Einlass zu gewähren.
Sobald ich dort gewesen wäre, würde er es wissen. Noch vor Tagesanbruch würde Holmes wissen, wo ich steckte, mich verachten, genau wie ich mich selbst dafür verachten würde. Ruhm, Ehre, blindes Vertrauen und stumme Versprechen, alles würde auf den untersten Grad der Nichtigkeit herabsinken. Wäre es das wert?
Ich kannte die Antwort. Ich war bereits über den Punkt hinweg, wo mein freier Wille Einfluss nehmen konnte, diesbezüglich überhaupt noch abzuwägen. Die Antwort präsentierte sich mir auf einem heroischen Sockel. Sie war erniedrigend. Erdrückte mich.

Verborgen im Selbst (Fortsetzung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt