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Um nachzusehen, wer zu uns hinaufgeeilt kam, steckte ich meinen Kopf aus Holmes' Zimmertür. Der Inspektor war in Begleitung seiner zwei Sergeants erschienen, die uns zwar hinreichend bekannt waren, dessen Nutzen oder Nichtnutzen im Haus sich mir jedoch beim besten Willen nicht anders als dem einer Mithörerschaft erklärte. Er wies sie an, am unteren Treppenabsatz zu warten, bevor ich ihm zuraunte: "Nur eine Minute, bin gleich bei Ihnen. Und Lestrade, schicken Sie Ihre Männer raus!"
Dankenswerterweise sah er sich veranlasst, meiner Bitte nachzukommen, gab ihnen ein weiteres Handzeichen und mir eins in Richtung der Schlafstatt.
"Kann ich mit ihm sprechen? Ich habe Fragen zu Dr. Coyles angeblichem... Geschäftsmodell."
"Nein, heute nicht! Nur mit mir." Auf leisen Sohlen begab ich mich zurück, um das Fenster, welches achtlos offengelassen worden war, mit Umsicht zu schließen. Dann tat ich dasselbe mit meines Freundes Tür. Schlussendlich wurde Lestrade, der davor gewartet hatte, jenseits vom Flur in das platzspendendere Wohnzimmer zitiert. "Gehen wir da hinein, er schläft", wies ich ihn im Flüsterton an, woraufhin er mir mit ernster Miene beipflichtete. "Er steht unter Schock, wir alle", erklärte ich.
Bei der Erinnerung an die Vortage, an denen ich mit der Eigendynamik des Geschehens vertraut gemacht worden war, begann ich erst mit meiner Fassung und meiner Loyalität zu ringen. Dann meldete sich mein Gewissen. Durfte ich Holmes mit den Erfahrungen, die zu sammeln er gezwungen worden war, jetzt schließlich nicht bloßstellen! Zur Sprache gebracht, während seiner Abwesenheit. So hätte er die Weitergabe der Missstände, auf die sich sein Verdacht gründete, vermutlich empfunden. Vor welch anderem Hintergrund auch sollte der Inspektor gerade jetzt hier so dringlich auftreten?
Noch während ich mir die erschöpfende Frage stellte, wie weit ich den Besucher einweihen konnte, löste sich die Unklarheit auf. Er war bereits in Kenntnis aller Umstände gelangt, was mir, bei Tag betrachtet, ganz recht sein sollte. Ich würde ihn womöglich noch brauchen, wofür auch immer. Derzeit konnte ich meine Ahnung nicht richtig erfassen und mich jetzt auch noch damit abmühen, wollte ich nicht.
Seine erste Maßnahme bestand in der dienstbeflissenen Geste großmütiger Schutzgebung. Unverzüglich nachdem ihm die beklagenswerte Faktenlage zu Ohren gekommen sei, so erklärte er mir pragmatisch, habe er seine besten Uniformierten abgestellt und sie auch gleich mitgebracht, um sie vor unserem Aufgang zu positionieren. Ich nickte nur müde und hegte Zweifel, dass das im Sinne meines Wohngenossen war. Aber fürs Erste war das irrelevant und fürs Zweite besaß er keine Kenntnis davon.
"Wenn dieser Arzt wirklich so gefährlich ist, müssen wir ihn aufspüren!", begann der Inspektor zu drängen. "Können Sie Holmes nicht wecken?"
"Ich habe ihm Ruhe verordnet, keine Ruhestörer", verdeutlichte ich meine Gegenposition. Vorsichtshalber übte ich mich ein wenig in Übertreibung, um den Schlafenden abzuschotten. "Gehe ich recht in der Annahme, dass sein Bruder Sie aufgesucht hat?"
"Darum bin ich hier." Geheimniskrämerisch senkte der Polizist den Ton. Sein Benehmen hingegen ließ nicht auf das Vorhaben schließen, irgendetwas tabuisieren zu wollen. "Nun, ich war entsetzt, als ich seinem Bericht gelauscht habe, das können Sie sich denken. Meine Güte, Doktor, Sie müssen ja selbst zusammengefallen sein, als Sie davon erfahren haben! Zu dumm, dass Holmes' Besinnung erst jetzt wieder richtig hergestellt ist. Aber es nützt nichts, auch ein großer Kriminologe muss zwingend dazu gebracht werden, miserable Vermutungen in beweiskräftige Argumente umzuarbeiten, soweit er hoffentlich bald dazu in der Lage sein wird."
"Ja, hoffentlich", seufzte ich. "Einzig deshalb sind Mycroft und ich uns einig, dass wir ihn hier weg haben wollen. Ich kann Ihren Wunsch nachvollziehen. Bloß kann man Holmes keine Bedingungen stellen, versuchen Sie also nicht, ihn damit in der Gefahrenzone zu halten!"
"Das war nicht mein Bestreben, Doktor."
"Was war nicht Ihr Bestreben?", tönte es mit einmal über meine Schulter.
Erschrocken drehte ich den Kopf. Wie lange mein Kumpan schon in der Tür gestanden hatte, wusste ich nicht. Seinem belustigten Aussehen über meine Irritation nach zu urteilen jedoch, lange genug. Während ich ein wenig Platz neben mir schaffte, weil er sich dort positionierte, ließ sich an Lestrade eine ungewohnte Zurückhaltung feststellen. Wir schritten nicht ein, warteten ab. Endlich erinnerte er sich seiner Absichten und ließ ein leichtes Räuspern vernehmen.
"Die Geschichte tut mir aufrichtig leid, Mr. Holmes", überwand er sich zögerlich. "Ihr Genesungsverlauf hat ja Ausmaße angenommen, so etwas kann einem ewig nachhängen." Der Angesprochene ging nicht weiter darauf ein, nickte nur ab und reagierte mit wenig verheißungsvollem Gesichtsausdruck. Ich indes, begann mich so zu fühlen. Die zwei Sekunden, die er wartete, bis er sein Gesicht ausdruckslos werden ließ und abwandte, verschafften mir ein Ziehen in der Brust. Mir wurde übel bei der Vorstellung davon, wie die Missetaten wieder hervorgeholt würden, wo wir uns gerade erst in dessen Bewältigung versucht hatten. Befand mein Freund sich doch in einer Situation, die er nicht mit seinem scharfen Verstand bewältigen konnte. Der Besucher trat einen Schritt vor, wohl, um in etwas unbedachter Weise sein Anliegen weiter zu vertiefen, denn schon bekamen wir weitere Mitleidsbekundungen zu hören. Holmes wich zur Seite, etwas nur, aber doch so weit, dass sich unsere Ellenbogen berührten. In Folge dieser kurzen Konfrontation mit der gegenwärtigen Realität zuckte ich innerlich auf. Sie ließ mich augenblicklich daran denken, wie überdrüssig wir der Vorfälle schon jetzt waren, da sie als zukünftige Wegbegleiter unserer privatesten Verknüpfungen fungieren würden. Nichts konnte mich darüber hinwegtäuschen, dass es ihm nicht anders ergangen war. Wir richteten die Blicke auf unser Gegenüber, frontal in gemeinsamer Mission, wenngleich mit Lücken-behafteter Schnittfläche. "Vielleicht kann die Dienststelle Sie bei der Überführung der Truppe unterstützen", wurde uns nahe gelegt.
"Vielleicht. Aber sicher nicht, indem Sie Watson und mich hinter Geleitschutz verbarrikadieren, unten dermaßen Aufsehen erregen. Diese Aufreihung Ihrer pflichteifrigen Mannen vor Mrs. Hudsons Wirkungsstätte ist eine durch und durch unnötige Anordnung."
"Nun, eigentlich...", mischte ich mich ein, vorsichtig darauf bedacht, Lestrades Ansatz nicht übermäßig, aber zumindest in diesem Punkt beizupflichten, "...kann es wohl nichts schaden."
"Sehr richtig, das will ich doch auch meinen. Schließlich waren wir mit eigenen Augen Zeuge, wie hundsmiserabel Sie gelitten haben." Ich wünschte eindringlich, Lestrade, normalerweise viel beschäftigt, würde aufhören, so ausdauernd Unfrieden zu verbreiten und mit einem Rest an Geschick zum Punkt kommen. Verschwinden. Ohne diesbezügliche Ambitionen zu zeigen, blickte er hastig umher, kompensierte seine ihm auferlegte Tatenlosigkeit, indem er auf den Füßen zu wippen begann. Die Lippen aufeinander gepresst und die Kieferpartie gespannt, hüllte mein Freund sich in betretenes Schweigen, als sich in meiner rechten Hosentasche eine Faust bildete. Während sie sich fester zu ballen begann, schwafelte der Inspektor weiter vor sich hin und brachte es fertig, den hohen Raum mit Beklemmung zu füllen. Was dachte er sich? Würden diese nutzlosen Schilderungen denn nie versiegen, beständig überall weiterleben? Das konnte nicht, durfte nicht sein! "Da Sie ja bestimmt nicht den Willen verspüren, diesem Jemand aus der hohen Ärzteschaft noch einmal unter die Augen zu treten, geschweige denn, dass der Knochenschiener erneut Gebrauch von seinem berieselnden Äther macht, damit er ungestört seine Künste an Ihrer Gürtellinie verübt..."
"Wir verbitten uns diesen Ton, Inspektor", fuhr ich energisch dazwischen. Ich musste tief Luft holen, war dann aber in der Lage, die Wortführung zu übernehmen. "Außerdem geht es um mehr als diesen einen Fall. Coyle hat wahrlich zu Hauf Patienten gesehen..."
"Wahrlich." Es war Holmes, der mich knapp unterbrach. Sein stechender Blick, der mich traf, verfehlte seine Wirkung nicht und brachte mich zum Schweigen, bevor er sich auf Lestrade richtete. "Und nun ziehen Sie Ihre Leute aus unserer Festung ab, hier wird uns nichts passieren! Einer der Burgherren ist bewaffnet. Sein militärisch erprobtes Feuereisen liegt in meiner Schublade und an Kraft und Größe kann er mit Ihren Männern mithalten."
"Manche Mächte umfassen mehr als eine Person, Holmes. Das wissen Sie doch selbst am besten. Der Radius der Schuldigen ist dieser Tage weit gestreut und Sie als Angriffspunkt zentriert mittendrin. Raffen Sie Ihre Sachen! Wo ich doch anscheinend den richtigen Riecher hatte, dass dieser Quacksalber falsches Spiel treibt, will ich es mir nicht nehmen lassen, Ihnen auch außerhalb der Baker Street Personenschutz zu gewähren, bis die Sache geklärt ist und wir alle Beweise zusammengetragen haben. Also Sie, ähm, vervollständigender Weise. Denn ich lege in dieser undurchsichtigen Lage meine Hoffnung in Ihren, nun ja, erfahrungsbedingten Wissensvorsprung. Ich sag' es, wie es ist", legte er für sich fest und baute sich vor seinem gern konsultierten Berater groß auf. "Persönlichen Schutz und den einer ganzen Regierung genießen Sie ja schon."
Meine bescheidenen Beobachtungskünste bestätigten an diesem Vormittag, dass Holmes alles andere als angetan davon war, sich irgendwelchen Vorgaben zu seinem Aufenthaltsort unterzuordnen, geschweige denn, sich hinter einer menschlichen Barrikade zu verschanzen. Der Zusicherung unserer absoluten Verteidigungsbereitschaft konnte er sich gewiss sein. Unsere Unabrückbarkeit bekam er dazu. Skeptisch richtete er den Blick zwischen Lestrade und mir hin und her, pedantisch in seine Rechnung einbeziehend, wieviel Spielraum ihm unser Insistieren unter den Vorbedingungen noch bot.
"Watson?", entschied er sich alsbald, nachdem er seine eigenen Schlüsse gezogen hatte, mich mit seiner alten geistige Schärfe zur Rede zu stellen und damit das Mittel seiner Vorteils zu wählen. "War das Mycrofts Idee? Hat er Sie ins Verhör genommen und als Einflussnehmer vorgeschoben?", forderte er zu erfahren, was er längst kombiniert hatte. Erneut ein aufwallendes Unbehagen verspürend, gab ich meine Bestätigung. Das Kopfschütteln, mit dem er sich von uns abwandte, zeigte, dass es nicht das war, wovon er sich beeinflussen ließ. Trotzdem setzte ich nach.
"Wir alle finden das."
Holmes schellte herum.
"Da hören Sie es, Inspektor! Da ich ja anscheinend nun zwei große Brüder habe, die meinen, auf mich achtgeben zu müssen, zuzüglich Ihnen und Ihrer halben Armee, werde ich die ach so gewagten Ermittlungen von hier aus fortführen, falls sich die Bande überhaupt nochmal zeigt. Bis dahin können Sie mir den Fall getrost überlassen und sich all den anderen Dringlichkeiten zuwenden, die sich in Ihrem Büro so türmen." Entschlossen drehte er sich zurück zum Flur, bevor er uns, schon im Begriff zu gehen, mit einer weiteren zielsicheren Einschätzung verblüffte: "Ich nehme an, mein findiger Bruder hat angeregt, in französische Außendomizile abzutauchen, was Sie ihm ja wohl hoffentlich unter Berücksichtigung aller für den Körper und Geist relevanten Aspekte ausgeredet haben, Doktor! Guten Tag, die Herren."
Damit verschwand er wieder ins Nachbarzimmer. Den ratlosen Inspektor und mich ließ er hinter seiner hörbar herangezogenen Tür zurück. Ich zuckte die Schultern, ratlos für den Moment, hatte jedoch nichts anderes erwartet, als derartigen Missmut zu ernten.

Den mundtot gewordenen Besucher zur Garderobe zu geleiten, war mein nächster Impuls. Nachdenklich ging er voraus, zog ausgiebig den Stoff seiner Jacke glatt, während ich, ihm mit wenig Geschwindigkeit folgend, dabei zusah und die vertrackte Lage verinnerlichte. Abgesehen von seiner generellen Abneigung, London zu verlassen, verstand ich nicht wirklich, wieso sich Holmes so vehement wehrte. Wo es doch durch und durch logisch erschien, unterzutauchen. Kam diese kompromisslose Verweigerungshaltung durch eine willentliche Demonstration von Protest zustande? Weil er sich in seiner Unangepasstheit von uns getrieben fühlte? Das fragte ich mich in diesem Moment und führte den Gedankengang weiter bis hin zu einem aufrüttelnden Einfall, der mir plötzlich kam, mich erschreckte und noch längere Zeit besetzt hielt: Bisher waren mein Freund und ich allerorten unserer eigenen Gesellschaft genug gewesen. Unsere Abenteuerlust war in stundenlangen Dialogen gegipfelt, Berührungsängste hatte es nie gegeben, ein Gegeneinander nicht stattgefunden. Konnte man doch viel eher behaupten, dass von Fall zu Fall zunehmende Vertrautheit aufgebaut worden war, während wir ermittlungsreiche Tage in Gasthöfen und wochenlange Phasen sowohl in Ruhe als auch in Enge in Gutshäusern verbracht hatten, genährt nur durch unseren eigenen Wissensdurst. Derart verwoben waren wir selbst zu unserem zweiten zu Hause geworden.
War es möglich, dass hinter seinem reaktionsstarken Bekundungen mehr im Argen lag, eine tiefere Absicht? Rührte sein Widerwille gegen einen außerstädtischen Aufenthalt unter Umständen daher, dass wir in der Ferne, weg von seinen Klienten und meinen anderen Patienten, einer zweisamen Nähe intensiver ausgesetzt wären, als im Labyrinth Londons? War er meiner satt, so schnell nach der Eröffnungsscharade unserer ureigenen Epoche, weil er die Raffinesse eines neuen Reizes in Windeseile erforscht hatte?
Ich wusste es nicht, trug aber die traurige Gewissheit in mir, dass Holmes meine These blitzgeschwind und zweifelsfrei widerlegen würde. Leugnen. Als müsse er sich vor sich selbst rechtfertigen. Albern.
Trotz des ausgebremsten Vorhabens würde ich mich nicht vom Wege abbringen lassen. Ich hatte ihn einmal fast verloren, keines anderen Mannes Hände, und sei er auch ein noch so dubios erfolgreicher Wissenschaftler, und keine Reise der Welt, würden mich ihm nun wieder ferner bringen! Zumindest nicht auf lange Sicht.

"Sie müssen ihn wachrütteln, Doktor, notfalls verpassen Sie ihm eine Injektion Gehirnwäsche!", erinnerte der Inspektor, den ich fast vergessen hatte, mich an meine kommunikative Pflicht als Gastgeber. "Wenn er nicht einsichtig wird, sehe ich mich gezwungen, eigenständige Maßnahmen zu ergreifen. Wir wollen ja nicht, dass seine Hinhaltetaktik in Behinderung von Polizeiarbeit ausartet."
"Das wagen Sie doch nicht!"
"Lassen Sie ihn nicht aus den Augen!" In seinem Gesicht blitzte der Schalk auf, die Furche auf seiner Stirn war verschwunden. Um außer Hörweite zu gelangen, machte er mir ein Zeichen, ihn auf seinem Weg zur Haustür zu begleiten. "Vielleicht aber bleibt uns vorerst noch eine andere Chance. Es gab zwar eine Zeit, da unser geplagter Freund hier seinen Bruder verheimlicht hat. Aber zugegeben, seit sich unsere Wege ein paar Mal kreuzten, sehe ich diesem Urgestein aus Phlegmatismus sein kauziges Auftreten nach und gebe was auf seine politische Stellung. Er war es auch, der mich auf die Idee brachte, die Hintertür über Sie zu nehmen.
Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, Doktor, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Einwürfe dieser zweiten intellektuellen Größe eine zielgerichtete Wirkung auf meine Absichten haben sollten. Wie dem auch sei, er rechnete bereits damit, dass sein Stand und Blut einem Ortswechsel abgeneigt wäre. Die Rechtfertigung in das Argument setze, vergangenen Monat genug Müßiggang gelebt zu haben.
Vielleicht verfolgen wir daher besser eine alternative Taktik, um den einen zu kriegen und den anderen zu sichern. Ich sehe das im Übrigen genauso als meine Pflicht an, wie Ihren Schutz. Denn Sie müssen wir ja ebenfalls zwingend aus der Schusslinie bringen, nicht wahr? Vorzugsweise ohne, dass Coyle der wahre Grund dafür vorliegt, weshalb Sie nicht mehr in seinem Dienstplan auftauchen. Es würde ihn sicher nicht übermäßig wundern, wenn Sie Ihre Entscheidung kundtäten, etwas kürzerzutreten und zu einem kleinen Erholungsurlaub aufzubrechen, statt ihm am Arbeitsplatz direkt an die Gurgel zu gehen."
"Es ist wahr", stimmte ich mit fehlendem Enthusiasmus zu. Ich ließ mir Zeit bei meinen Ausführungen, dass Coyle einige Tage nicht in der Stadt gewesen sei. "Wenn er im Barts auftaucht, bedarf es eines Vorwandes, ihm nicht mit falscher Höflichkeit gegenüber treten zu müssen."
"Unser eigensinniges Exemplar da oben", deutete Lestrade mit dem Daumen zum Geländer, "stellt sich zwar quer, Sie pflichten mir aber gewiss bei, dass er Sie unter den momentanen Umständen ungern alleine aufbrechen ließe. Selbstredend würde ihre humanmedizinische Gewissenhaftigkeit ihn nicht ohne Hilfe zurücklassen."
"Ich soll den Lockvogel spielen", dachte ich einmal mehr. Ich erwischte mich dabei, weiter in seine Überlegungen einzusteigen, ob ich mich diesmal selbst um Einsatz machen sollte, anstatt mich, im Sinne von Mycroft, nur meiner beruflichen Befähigung zu bedienen. Nichts lag mir ferner, als die Bedürfnisse meines eigenen Freundes zu übergehen, auch wenn er sich so unzugänglich zeigte. Dennoch muss ich zugeben, dass mich die Argumente meiner beiden Fürsprecher überzeugten, wogen ihre ehrenhaften Motive an seinem wiederaufzubauendem Sein schließlich schwer. Und hatte ich doch über die Zielvorkehrungen seiner geistigen Erschöpfung entgegenzuwirken, ein weitaus persönlicheres Interesse.
"In die Richtung wird es wohl gehen. Denken Sie noch eine Nacht darüber nach, wie wir diesmal darauf achten, unsere Hand über ihn zu halten, wenn ich meine eigenen Ermittlungen anschiebe. Wir können uns keine weiteren Fehler erlauben."
"Mh, so rum könnte es funktionieren. Zumindest über kurze Sicht, bis Holmes dies wackelige Konstrukt durchschaut. Auf einen Versuch käme es dennoch an, viele Alternativen bleiben uns ja nicht. Aber ganz ohne seine Arbeit, das soll gutgehen?"
Der Inspektor zupfte ein paar imaginäre Flusen von seiner Kleidung.
"Nun, er wird genug Arbeit im Kopf befördern. Für Sie beide, Doktor", druckste er herum, womit er nicht ganz Unrecht hatte. "Bis wir näheres wissen, Seien Sie alle vorsichtig!" Er tippte an den Bowler und stapfte los.
Seine Umsicht mit unserem Wohlergehen war mir neu. Dies und die in der mitschwingenden Betroffenheit erhaltene Warnung, an deren Umsetzung ich keinen Zweifel hegte, verstärkten meine Unruhe. So fing ich an, ein wenig durchs Haus zu streifen und traf, anstatt mich zurückzuziehen, auf Mrs. Hudson.
"Bringen Sie ihm noch eine Karaffe hoch, nur Wasser bitte! Und feuern Sie oben ein", beauftragte ich sie. Denn ich verspürte ein inneres Schauern. "Es wird frostig."

Der folgende Nachmittag brachte ungemütliche Nasskälte. Aber keinerlei Neuigkeiten.
Im Laufe des Tages hatte ich ein paar Rechnungen zu aktualisieren, anschließend ließ man mich an ein Krankenbett rufen. In der Hoffnung, Teile meiner Konzentration zurückzuerlangen, mied ich sämtliche Fahrgelegenheiten und legte den Weg zu Fuß zurück.
Die Schwester eines Greises war auf das Bewahren der Würde bedacht, im Allgemeinen ein löblicher Charakterzug. Diverse Segmente wohl behütender Heimeligkeit umfingen mich in seiner Stube. Der Geruch von Rasierseife, der in der Luft hing, widersprach meinem ungeordneten Gemütszustand, so frisch und rein. Widerlich. Florale Eindrücke benetzten die Riechorgane und weckten den Vergleich mit meinen eigenen vier Wänden, die mir so gar nicht behaglich erschienen waren. Unentwegt musste ich an unser häusliches Spannungsfeld denken.
Der frühere Holmes hätte mit Enthusiasmus eine ganze Biografie an dem hier aufgereihten Nippes abgelesen. Mir war es schon eine Herausforderung, mich auf die wenigen Symptome des griesgrämigen Alten Schwindsucht zu fokussieren. Eingeschleppt, vermutlich von seiner Arbeit in Schuldengefängnissen und Armenhäusern. Die Betttücher unter seinem fahlen Leib waren blütenweiß. Ich fühlte mich dreckig, als ich sie berührte. Beschmutzt.

Endlich wieder zu Hause entledigte ich mich sofort meiner Überkleidung. Ich schlang die Hälfte einer kalten Mahlzeit hinunter, spülte mit einem schalen Schluck Tee nach und übte mich in angewandter Kombination, dass Holmes von beidem noch nichts angerührt hatte.
Ich begab mich zum Waschzunder, setzte die Arme auf. Dann streckte ich sie durch und starrte mein Spiegelbild an. Es erzählte von einem Mann, der sich aufstützen musste, obwohl sein Alter es noch nicht erforderte. Der prüfte, wo die neue Realität versteckt war. Der sein altes Leben zurückwollte und doch Anteile aus dem Neuen mit hinübernehmen. Er wollte zu viel. Ich erkannte ihn kaum noch.
Es waren nicht etwa die Körpersekrete des Greises, die an mir klebten. Es war nicht das Wissen um den nahenden Tod, der ihn bald holen würde. Es war die Beimischung von Äther, die ich zu riechen meinte. Ich griff eine Bürste, um meine Hände zu waschen, kraftvoll, als hätten sich beißende Duftnuancen ins Nagelbett gefressen. Zielstrebig verfiel ich in ein ekstatisches abschrubben, bis ihr hautfarbener Ton sich rötlich färbte. Wenn ich nicht aufpasste, wäre das Wasser bald getrübt von all dem realen und eingebildetem Unrat auf meiner Haut. Dennoch vermochte ich nicht, aufzuhören. Es hätte mich übermäßige Anstrengung gekostet. So fuhr ich fort. Gedankenverloren und doch darauf fokussiert.
Ich nahm ihn kaum wahr. Seine Schritte, wie sie sich leise näherten.
"Genug davon. Legen Sie die Bürste weg, mein Freund." Seine Sprache, die gedämpft über meine Schulter ins Ohr drang- sich ihren Weg wie durch ein Rohr bahnte, bis sie mich unter Nebel erreichte. Er zog an meinem Ärmel, als ich nicht reagierte. Holmes griff um mich, griff um das Gelenk unter meinen Manschetten, so dass ich mich halb zu ihm umwandte. "Es sind nicht Ihre Hände, die sich mit fremdem Blut beschmutzt haben." Er schlug einen besänftigenden Ton an und wies auf das Utensil. "Geben Sie mir das". Ich umkrampfte es, konnte mich nicht rühren.
Es erforderte einiges an Anstrengung und Konzentration herauszufinden, wie ich meine Finger überhaupt lockern sollte, nicht zuletzt kostete es mich immense Willenskraft, zuzulassen, dass er es tat.
Holmes löste sie einzeln und geschickt, löste das Problem. Er nahm die Bürste und schmiss sie in den Müllkorb, nahm ein trockenes Tuch und stopfte es in meine Faust. Er bedachte mich mit einem eindringlichen Blick, anzumerkender weise einem Blick des Bekümmerns. Seine Schritte entfernten sich wieder, das irreale blieb.

Verborgen im Selbst (Fortsetzung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt