Das Schweigen hatte Inhalt.
Ich ließ mich in den nächstbesten Sessel fallen. Dort überschlug ich die Beine auf jede erdenkliche Weise und begann, mich der Szenarien der Vorstunden zu entsinnen. Den ganzen Abend noch hatte ich bis in den Vormittag hinein die Frage mit mir herumgeschleppt, mit welcher Taktik bestenfalls vorzugehen sei. Am Ende hatte ich mich überfordert gefühlt. Mein Hirn war nach Lösungsansätzen durchforstet worden, die uns dazu verhelfen würden, der komplexen Brisanz der Komplikationen gerecht zu werden. Ich war bestrebt, es besser zu machen als der Sessel, der schon viele verzweifelte Gemüter beherbergt hatte und in dem ich mich ruhelos hin und her bewegte, weil er einen nicht mehr wirklich mit Bequemlichkeit versorgte. Ich verzehrte mich danach, eines der bezeichnenden Indikatoren zu finden, in denen Holmes selbst immerfort untrügliche Hinweise entdeckte und erhaschte nur den Eindruck seiner Abwehr.
In Unrast, ja vergeblicher Erwartung war mein Nächster von mir beäugt worden, von der Morgenstille bis zur Abendstille und wieder von vorn. Ein Teil von mir hatte gehofft, dass er sich selbst positionieren würde, wie er uns fortzusetzen gedachte. Eines Tages, wenn das dumpfe Gefühl, welches durch das Aufdecken der schmuddeligen Anhängerschaft über uns hereingebrochen war, bekämpft worden wäre und Platz schuf für..., ja, wofür eigentlich? Bisher aber, hatte ich mich in dieser Annahme getäuscht. Keinerlei Thematisierung der Zugänglichkeit, derer wir in den letzten Wochen fündig geworden waren, die, kaum auf ihrem Höhepunkt angelangt, mit grausamer Hartnäckigkeit gestört, wenn nicht sogar massiv erprobt worden war. Mal sickerte eine Zugewandtheit durch, die mich mit Wärme ummantelte. Dann folgte die unkooperative Abkehr in seinen eigenen Starrsinn. Würde er mich deutlich von sich weisen, wäre mein Schmerz ein anderer als jener sich dahin ziehende, der durch wechselhafte Signale meine Hoffnung nährte. Balance los baumelten wir zwischen Abstand und Annäherung. Das Irgendwo war dort gemeißelt, wo wir nicht mehr funktionierten, das sahen wir beide. Wie Coyle dieses Schwanken herbeigeführt hatte und wichtiger, wie es sich begradigen ließ, bevor sich die Thematik womöglich in einer Schwermut verfestigte, in Holmes und zwischen uns, musste ich herausfinden- um jeden Preis.
"Populus plantae."
Mit diesem weit hergeholten Begriff hatte er sich mir noch im vergangenen Monat während eines redseligen Moments auf seine ureigene Art offenbart und den Zeigefinger erhoben.
"Pappelgewächse?"
"Tückische Fauna. Watson, das entspricht ganz Ihnen!"
"Wie darf ich das bitte verstehen?"
"Sie haben etwas von diesem Flaum- und fasern produzierenden Weidengewächs an sich. Mit weißer Pappelwolle umwebt und behütet es den kompletten Radius verästelter Umzweigungen einer Baumkrone. Ergo, Sie sind eine wandelnde populus plantae und dabei mit Abstand der einzige, dem ich so etwas wie Vertrauen entgegenbringe." In innerem Wohlgefühl hatte ich ein Lächeln zu verbergen gesucht. "Schmunzeln Sie nicht über eine Feststellung, die einigermaßen bedeutsam für unsere Charakterstudien fehlerbehafteter Menschlichkeiten ist- und nicht minder erschreckend! Ich habe es gewiss nicht forciert, aber objektiv betrachtet, deutet alles darauf hin: Ich fürchte, etwas in mir ist auf dem Weg, Ihnen mit beinahe jeder Faser meiner verräterischen Hülle zu vertrauen. In den Bereichen, die Wissen um Wirrungen des Gemüts betreffen und in körperlichen Belangen. In allen körperlichen Belangen."
"Verblüffend, in der Tat."
Er selbst hatte damals noch elanvoll mit den Händen gestikuliert, mit von unten geneigter Kopfhaltung, als wolle er seine Worte in eindrücklicher Demut bekräftigen. Um sie uns beiden glaubhaft zu machen. Nun seufzte ich darüber.
Sowohl mein Mitbewohner, der sich bald zu mir gesellte, als auch ich waren Verstandesmenschen genug, einen Schritt zurückzutreten, seit sich die Notwendigkeit ergeben hatte. Aber traute er nun niemandem mehr? Dem Mann in mir? Dem Freund? Dem Arzt? Wo er einst von Skepsis markiert war, zeichnete ihn jetzt übersteigerte Achtsamkeit aus. Früher war er kritisch und damit nachvollziehbar. Seit Coyle war er undurchsichtig gegenüber allen und jedem. Früher war es sein denkwürdiger Allgemeinzustand, der mich beschäftigt hielt. Seit Coyle waren es die Bedenken um die seelische Labilität, die eine Verschiebung meines Focus bewirkt hatte. So widerwärtig die Hintergründe auch waren, schien es nicht so recht zu ihm zu passen, langanhaltend verstört darauf zu reagieren. Unbeugsam, wie er war.
Holmes hielt sich tapfer seit den einschneidenden Vorfällen, allen voran dem des Hamperson, in seiner aggressiven Zerstörungswut. Noch so einer Bestie. Mehr als einmal hatte ich aus Gründen des Selbstschutzes davon absehen müssen, mir die Auswirkungen an meiner eigenen Person auszumalen, wäre ich an seiner statt gewesen. Allmählich gewann ich den Eindruck, dass sich zu den belegbaren Schlag- und Stichwunden durch ihr Versorgungsgeschehen innere Narben gesellt hatten, die unter Verschluss gehalten wurden. Schon früher hatte ich ihn körperliche Schmerzen ertragen sehen. Hier aber ging es um mehr, um Wunden, die sich unsichtbar breit machten- unberechenbar im Verlauf. Anders als ich es selbst erlebt hatte, tief im Zerwürfnis stehend wegen unserer Verbindung, gab es den feinen, aber bemerkenswerten Unterschied, dass ich meinen Freund seinerzeit in Kenntnis gesetzt hatte. Entbehrungen hatte ich viele kennengelernt, materielle, sicherheitsgebende. Aber solche, wortlosen, trafen anders.
Gesegnet mit einer furchtlosen Natur, da er sich auf seine intellektuellen Leistungen zu verlassen wusste, schlug Holmes gewöhnlich Bewunderung entgegen. An Tatorten, wo sich die Menschenmengen teilten, um sein Urteil abzuwarten, schob er sich gelassen hindurch- oft genug dicht gefolgt von mir. Seit ihn die Umstände selbst eiskalt erwischt hatten, war er der zu Begutachtende, mit dem Schicksal eines zu Betrauernden und dem Ringen um rationale Bewältigung. Und nun? Nun stand ich noch immer herum, hinter ihm- und fühlte seine Qual in meiner Brust.
"Dann werden wir doch gegen ihn aussagen", legte ich deshalb am Ende reiflicher Überlegungen fest. "Wir müssen es schaffen, uns dadurch nicht erpressbar zu machen! Er hat nichts in der Hand gegen uns."
"Wir? Wir werden nicht gegen ihn aussagen!"
"Ich kann Ihnen nicht folgen, Holmes. Bei Gericht wird man sich eindeutig positionieren."
Er wandelte auf den Spuren seiner eigenen Logik. Konzentriert drehte er seinen Sessel so, dass der Lichtflimmer von ihm weg fiel.
"Das Gericht wird keine Informationen über mich bekommen."
"Jeder Richter..."
"Weil wir keine haben."
"Wir haben Ihre Erinnerungen. Und wir haben den Mut, auch eine Koriphäe öffentlich in Frage zu stellen"
"Wer urteilt und beschließt nach einer Geschichte, die auf diffusen Fragmenten beruht? So einfältig ist nicht mal der jüngste Yardler."
"Es sind nicht nur Fragmente, werten Sie sie nicht zu tief", überlegte ich laut weiter. "Wie dem auch sei, bringe ich eben ein paar aussagekräftige Beweise in Form fiktiver Befunde über Ihren geschundenen Zustand zu Papier."
"Wenn ich sage, dass wir keine haben, impliziert das nicht, dass wir uns nicht welche beschaffen werden. Finden wir weitere Opfer, dürfte das fürs erste Anklagematerial bieten. Watson, ich werde Sie gewiss nicht Ihren Ruf gefährden lassen, indem Sie mir zuliebe fragwürdige Gutachten erstellen! Bedenken Sie, dass dieser Grobian noch irgendwo Duplikate der alten Originalbefunde versteckt haben wird. Wie könnte ich ruhig damit leben, wenn Sie eines Betrugsversuchs um meinetwegen riskierten?"
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Verborgen im Selbst (Fortsetzung)
Short Story"Holmes, ein ewig geheimnisvolles Rätsel, das sich von selbigen nährte." Im Fortlauf der Reihe "Verborgen in vier Himmelsrichtungen" und "Verborgen in 221b" wird Holmes von seiner jüngsten bedrohlichen Vergangenheit eingeholt. Widersprüchlichkeiten...