Kapitel 1 - Erwachen

145 8 114
                                    

Jens schaut Lee, welcher bei ihnen Bote und Diener ist, aber eigentlich alle möglichen Aufgaben dort übernimmt, noch kurz nach und dreht sich dann wieder zu den Kindern. „Also Lee hat aufgehört als ich das erste Mal in meiner Drachenform war?“

Die Kinder nicken eifrig, neugierig auf die weitere Erzählung und Jens führt die Geschichte fort.

~●~●~●~●~●~●~●~●~●~●~

„Ich öffnete meine Augen und starrte gegen eine Holzdecke. Meine Glieder waren schwer und schmerzten, aber sonst schien alles in Ordnung. Abgesehen davon, dass ich mich an gar nichts erinnern konnte. Ich wusste nicht, wo ich war oder was passiert war, bevor ich mein Bewusstsein verlor. Alles in meinem Kopf schien wie leer gefegt.

Allerdings war ich nicht panisch, hatte Angst oder so etwas. Im Gegenteil; ruhiger hätte ich nicht sein können. Nur war ich mächtig verwirrt und verstand gar nichts. Ist es normal, wenn man sich an nichts erinnern kann? Langsam drehte ich meinen Kopf nach links und schaute in einen runden Raum.

Abendliche Sonnenstrahlen bahnten sich mühsam den Weg durch die Baumkronen und ein sehr schmutziges Fenster, sodass sie als einzige Lichtquelle im runden Raum dienten. Das Fenster war zusammen mit einer Tür und einer Treppe die einzige nicht bedeckte Stelle der Wand.

Der ganze Rest wurde von uralt aussehenden Regalen verdeckt, in denen sich unzählige Bücher, Schriftrollen, Gläser mit undefinierbaren Inhalt und Kisten so stapelten, dass keine weiteren Gegenstände hinein gepasst hätten. Es sah so aus, als würde einem sofort alles entgegen fallen, wenn man versuchte etwas herauszunehmen. Man könnte meinen, dass nicht einmal Luft dort Platz hätte; die wenigen, kleinen Lücken waren vollständig mit grauem Staub ausgefüllt.

Der restliche Raum machte auch keinen besseren Eindruck. In der Mitte stand ein großer, runder Tisch auf dem sich alles stapelte, was nicht mehr in die Regale passte, zusammen mit ein paar Kerzenständern und anderen Gegenständen, die ich nicht kannte – und ehrlich gesagt, auch heute immer noch nicht kenne. Lediglich Staub lag nicht ganz so viel darauf wie in den Regalen, aber dafür schwebte er zwischen den getrockneten Kräutern, Wurzeln und Blättern, welche an Fäden von der Decke hingen.

Der Geruch nach den verschiedenen Kräutern, dem alten Papier und der nicht ganz so frischen Luft, sowie die angenehme Wärme von den Sonnenstrahlen ließen das Bild perfekt aufeinander abgestimmt wirken.

Trotzdem hatte ich keine Ahnung, wo ich war, aber Angst machte es mir immer noch nicht. Die Atmosphäre dieses Raumes löste irgendwie ein wolliges Gefühl in mir aus. Eigentlich hätte ich mich erhoben und mir alles etwas genauer angeschaut, aber als ich meinen Plan in die Tat umsetzen wollte, stellte ich fest, dass ich mich nicht bewegen konnte.

Ich spürte alles, hatte Gefühl in den Gliedmaßen, nahm den Schmerz in ihnen war und konnte den leichten Stoff meiner Kleidung und das alte Holz auf dem ich lag spüren, aber bewegen ging nicht, so sehr ich mich auch anstrengte. Nur meinen Kopf konnte ich drehen.

Erst in diesem Moment fing ich an mir wirklich Gedanken über die Situation zu machen. Ohne irgendwelche Erinnerungen in einem völlig unbekannten Raum aufwachen, ohne die Möglichkeit sich zu bewegen oder zu wissen, wer dort überhaupt wohnte.

So gemütlich es auch wirkte, jeder mit allen möglichen Absichten konnte der Bewohner sein. Sofort dachte ich an die schlimmsten Szenarien. Als ich dann auch noch realisierte, dass ich durch meine Bewegungsunfähigkeit keine Chance zur Flucht hatte, war es endgültig vorbei mit der Ruhe. Panik und Angst stiegen in mir gleichermaßen auf, mein Herzschlag und damit auch meine Atmung beschleunigten sich.

Verzweifelt versuchte ich mich wieder zu beruhigen, was mir erst nach mehreren Anläufen gelang.

Vielleicht irrte ich mich und der Bewohner hatte gute Absichten und es gab gute Gründe, weshalb ich mich nicht bewegen konnte. Mir fiel zwar kein einziger positiver ein, aber ich war auch derjenige ohne Erinnerungen, also vertraute ich in diesem Moment nicht auf mich.

Schließlich wusste ich selber nicht einmal wirklich, wer ich denn überhaupt war. Von einem normalen Bauern bis hin zum König dieser Welt war alles möglich, wobei mir letzteres eher unwahrscheinlich vorkam.

Allerdings ging es um das Prinzip und das Prinzip war, dass ich jeder und alles hätte sein können. Ich wusste nicht einmal, wie ich aussehe, wie meine Familie und Freunde waren, wenn ich überhaupt welche hatte. Sogar an meinen eigenen Namen konnte ich mich nicht erinnern.

Das löste in mir wieder ein kleines Gefühl der Angst aus. Man kann ohne Vorwarnung ausnahmslos alles vergessen, als hätte man sein ganzes Leben geschlafen und ist dann einfach aufgewacht.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen als die Tür aufgemacht wurde. Die frische Luft wirbelte etwas Staub auf und der ganze Raum wurde deutlich heller. Sofort drehte ich meinen Kopf in die Richtung und sah ein Mädchen hineingehen. Wegen dem Lichtfall konnte ich sie erst richtig sehen, als sie die Tür mit einem kurzen Fußstoß zuknallen ließ. Überrascht musterte ich sie.

Sie wirkte so um die 16 Jahre alt und dafür ziemlich groß, meine liegende Position verstärkte diesen Eindruck auch deutlich. In ihrer linken Hand hielt sie einen kleinen Stapel Erdbeeren, eine dieser steckte sie sich gerade mit der rechten Hand in den Mund. Die Früchte hinterließen ein paar rote Saftflecken auf ihrer sonnengebräunten Haut, welche sie schnell mit der Zunge verschwinden ließ. Ihre hellblauen Augen wirkten kalt, genauso wie der ganze Rest an ihr. Ihre Kleidung, welche komplett aus dunkelblauen Drachenschuppen bestand, unterstrich diesen Eindruck noch etwas. Sie wirkte in diesem Raum sehr fehl am Platz. Dann bemerkte sie mich.

„Oh!“, kam es überrascht von ihr und ihre sanfte, klare Stimme passte gar nicht zu dem kalten Gesamteindruck „Du bist wach!“

Sie strich sich eine lange, schwarze Haarsträhne, welche sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, hinters Ohr, ließ die restlichen Erdbeeren in eine Schüssel auf dem Tisch gleiten und stellte eine braune Umhängetasche, welche ihre Kapazität um ein Vielfaches überstiegen zu haben schien, daneben, nachdem alles im Weg liegende mit dem Arm beiseite geschoben wurde. „Wie geht es dir?“

Bevor ich etwas sagen konnte, musste ich kurz die Situation abschätzen. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit einem 16-jährigen Mädchen. Sollte ich ihr antworten? Wollte sie mir helfen? Sie hat gefragt, wie es mir geht, da wäre dies doch logisch gewesen, oder? Da sie einfach so in den Raum herein kam, nahm ich einfach an, dass sie die oder eine Bewohnerin der Hütte war und da sie nicht überrascht schien, dass ich dort lag, müsste sie dies auch schon vorher gewusst haben.

Wenn ich ihr antworten sollte, stellte sich die Frage, was? Sie sah mich geduldig an und auch, wenn ich es hätte später bereuen können, antwortete ich mit der Wahrheit „Mir tut alles weh, ich kann mich nicht bewegen und habe keine Erinnerungen an irgendetwas, weswegen ich nicht weiß, wer und wo wir sind.“

„Na dann,“, erwiderte sie als wäre das nichts Besonderes „mein Name ist Aurelia, wir sind hier in einer Waldhütte, dessen Bewohnerin ich unter anderen bin, und ich weiß fast genauso gut wie du, wer du bist. Gestern ist ein Drache hier in der Nähe abgestürzt und ich habe Grund zur Annahme, dass du dieser warst, weswegen ich dich hierher brachte und anfing dich zu heilen.“

Diese Aussage überraschte mich noch mehr. Es klang nicht nach einer Lüge, aber dennoch ziemlich unlogisch. Wie sollte ich ein Drache sein, wenn ich offensichtlich ein Mensch war? Warum geht man zu der Absturzstelle eines Drachen? Würde man nicht die nächsten Drachenkrieger aufsuchen und ihnen Bescheid geben? Wieso bringt man einen Menschen, welcher bewusstlos an der Absturzstelle eines Drachen liegt, zu sich nach Hause und heilt ihn?

Mir schwirrte der Kopf vor lauter Fragen. Sollte ich sie ihr stellen? Würde sie sie ehrlich beantworten? Aus irgendeinem Grund empfand ich Misstrauen ihr gegenüber und ich hatte das Gefühl, so schnell würde das nicht verschwinden.

1.289 Wörter

DrachenjungeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt