Kapitel 4 - Ein wahrer Mann

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Die Sonne schien heiß und unnachgiebig auf unsere Köpfe hinab, erwärmte das tobende Wasser des klaren Meeres nur oberflächlich. Die Luft war erfüllt von den Rufen der Verkäufer, dem Rauschen des Meeres, dem Gelächter der verschiedenen Gruppen, dem dumpfen Aufprall der Wasserbälle und dem freudigen Kreischen der Kleinkinder, wenn sie mit dem kalten Wasser in Berührung kamen. Doch von den Vögeln fehlte jede Spur. Leicht verwirrt runzelte ich die Stirn. Wo waren die Möwen, die zu dieser Tageszeit ihre Runden über den steinigen Felsen drehten und nach Beute Ausschau hielten? Ein Schlag traf mich mitten auf die Brust und riss mich aus meinen Gedanken. Viel mehr aus Überraschung als vor Schmerz zuckte ich zurück, ehe ich irritiert in das grinsende Gesicht eines klatschnassen Lucas blickte. Seine blonden Haare hingen ihm in nassen Strähnen in den Augen, die schon immer ein außergewöhnliches grün waren. Seine schiefe Nase, die er sich mal gebrochen hatte - ebenfalls bei einer Mutprobe - und die nie ordentlich zusammengewachsen war, verzog sich bei seinem breiten Grinsen zu einer dicken Knubbel. Trotzdem kannte ich kein Mädchen in unserer Schule, die nicht schon einmal für ihn geschwärmt hatte. "Kommst du, oder was?" Benommen schüttelte ich den Kopf, ehe ich nickte und mein Surfbrett aus dem Sand zog, es unter den Arm klemmte und auf das plätschernde Wasser zu rannte. Dicht gefolgt von Lucas, der sich lachend ins tobende Wasser warf und darin verschwand. Wie tausend winzige Nadeln traf mich die eisige Kälte des Wassers, als mich die eisige Flut erwischte und mitriss. Die Kälte drang in jede Zelle meines Körpers und entnahm meinem Körper jegliche Wärme bis ich am ganzen Körper zu zittern begann. Die Wellen schienen heute besonders stark, denn sie warfen mich beinahe um, bei dem Versuch mich aufzurichten. Ich geriet sichtlich ins Wanken und versuchte mich mit meinen Füßen im Sand festzukrallen, der ungehalten zwischen meinen Zehen zerrann, während meine Hände erfolglos in der Luft nach Halt suchten. Meine Beine knickten widerstandslos unter der Kraft des Meeres ab und mein Verstand schrie mir zu, dass etwas mit dem Wasser nicht stimmte und ich schleunigst kehrt machen sollte. "Geh heute nicht ins Meer", hallten die Worte des alten Mannes durch meinen Kopf, während ich weiterhin verbissen versuchte, einen festen Stand zu erlangen und ein mulmiges Gefühl beschlich mich. "Weichei!", hörte ich eine bekannte Stimme höhnen. Als ich in einen halbwegs festen Stand erlangte, hob ich den Kopf und erblickte kurz darauf Lucas und Daniel, die weiter draußen auf dem Meer scheinbar seelenruhig auf ihren Brettern saßen und mir entgegengrinsten. Lucas hatte seine Hände zu einem Trichter um seinen Mund gelegt und brüllte mit voller Kraft. Sein Gesicht war zu einer spöttischen Visage verzogen. "Du bist schwach geworden. Willst du dich nicht vielleicht erst zu den anderen Mädchen setzen und ein bisschen quatschen? Vielleicht hast du ja Glück und ein wahrer Mann kommt vorbei um dir deinen Rücken einzucremen!" Bei seinen Worten kniff ich die Lippen fest zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Beide brachen in schallendes Gelächter aus und Daniel boxte Lucas spielerisch auf den Arm. Es war nur Spaß. Reg dich nicht so auf, sie sind deine Freunde.
Unwillkürlich entstand das Bild vor meinem inneren Auge, wie ich auf dem Bauch im warmen Sand lag und eingecremt wurde, und ich lächelte verschmilzt, ehe ich mich auf das Surfbrett schwang und hinaus zu den Jungs padelte.

Auf einmal ging alles ganz schnell.
Der Wind brauste die Meeresoberfläche auf und schleuderte den Sand wie Peitschenhiebe um die nackten Beine der Strandbesucher. Von Weitem beobachteten wir, wie die Leute vor dem eisigen Wind und dem tobenden Meer flohen, im kläglichen Versuch ihre spärlichbekleideten Körper vor den Naturgewalten zu schützen. Männer mit roten Shorts und weißen Trägerhemden erzeugten mit ihren Trillerpfeifen aufgebracht schrille Geräusche und bedeuteten den Schwimmern das Meer zu verlassen. "Mutprobe: Traust du dich weiterhin hier im Meer zu bleiben? Trotz Sturms?", raunte mir Lucas ins Ohr und grinste teuflisch. Mutproben waren der größte Zeitvertreib unserer Freizeit, wir spielten es fast tagtäglich... und es hat uns allen schon einigen Ärger eingebracht. Langsam schüttelte ich den Kopf. "Sie werden uns sehen." Ich deutete mit ausgestreckten Arm auf die Bademeister, die unaufhörlich in ihre Pfeifen trillerten, während sich das Meer leerte und alle das Weite suchten. Schirme und Plastiktüten flogen hilflos in der Luft umher und der Himmel wurde von unzähligen dunkelen Wolken bedeckt, die ein gewaltiges Unwetter prophezeiten. Gelassen zuckte er die Achseln, wobei ihm seine blonden Haare ins Gesicht wehten und den Ausdruck in seinen grünen Augen verbargen. "Und was wollen sie tun? Sie werden ganz bestimmt nicht reinkommen, um uns rauszuzerren." Mit diesen Worten drehte er der sich auf dem Brett herum und padelte in Richtung zweier gigantischer Felsen, die meterhoch aus dem Wasser hervorragten.
Trotz der eisigen Kälte froren wir nicht. Denn unsere Körper zeugten von Wärme und Energie und ein dünner Schweißfilm bedeckte unsere Haut, verwies auf die sportlichen Aktivitäten des Surfens kurz zuvor. Mein ganzer Körper rebellierte bei dem Gedanken, dem Unwetter schutzlos im Meer ausgeliefert zu sein, dessen Wellen mit einer solchen Wucht gegen mein Surfbrett stießen, als versuchten sie mich runter zu werfen. "Also.. Ich bin raus, Leute. Wenn ihr euch umbringen wollt, ohne mich" Daniel war schon auf halbem Wege zum Strand, wo ihn die Bademeister aufgeregt erwarteten und wild in unsere Richtung gestikulierten. Mein Verstand schrie, ich solle umgehend das Wasser verlassen, doch die Tatsache, dass Lucas mich herausgefordert hatte, ließ sich nicht abstreiten. Entweder man nimmt die Herausforderung an oder man bekennt sich für alle Ewigkeit als Feigling, wozu ich definitiv nicht bereit war. "Geh heute nicht ins Meer" waren die Worte, die mir unaufhörlich und zuletzt durch den Kopf gingen, als ich ihm widerstandslos folgte.

Mühsam kämpfte ich mich durch das wütende Meer hindurch, bis ich die rutschige Oberfläche des Felsens zu fassen bekam und sich meine Finger so gut es ging an den Unebenheiten des Gesteins festkrallten. Das Gewitter hatte bereits an Stärke und Gewicht zugenommen. Das Meer wütete und entsandte gewaltige Wellen in alle Himmelsrichtungen, die uns mit voller Kraft trafen und gegen den Felsen warfen, nur um uns kurz darauf wieder ins Meer zu ziehen versuchten, während wir verzweifelt nach Halt suchten. Das Wasser zog an uns, wälzte mit einem unglaublichen Gewicht über unsere Köpfe hinweg, dass ich das Gefühl bekam mein Kopf könnte platzen. Hilfesuchend blickte ich in Lucas Richtung, der meinen entsetzten Blick und von Panik verzerrte Grimasse erwiderte. In dem Moment wurden mir zwei Dinge klar:

Er hatte keine Ahnung, worauf er sich da eingelassen hatte. Und er hatte mindestens genauso viel Angst wie ich. Lucas, der immer gelassen und ruhig wirkte, als hätte er nie Sorgen. Lucas, der selbst als Kind nie panisch war, selbst nicht, als wir beide uns im Alter von drei Jahren im Freizeitpark verlaufen hatten und unsere Mütter nicht finden konnten. Ich hatte hysterisch angefangen zu heulen, während er die Ruhe selbst zu sein schien.

In diesem Moment schlug mir eine gigantische Welle ins Gesicht und schleuderte mich rückwärts in die Fluten des brausenden Meeres. Mit einem Mal wurde ich vom Chaos der Wellen verschluckt und verschwand in die tiefen des Meeres, während ich die gedämpften Schreie von Lucas Stimme wahrnahm, die verzweifelt und immer wieder meinen Namen riefen, während ich immer tiefer und tiefer sank. Die eisige Kälte ließ mein Blut zu Eis gefrieren, verbannte alle Wärme aus meinem Körper. Erfolglos versuchte ich die Luft anzuhalten, die mir jedoch innerhalb weniger Sekunden entwich. Augenblicklich nahm das Salzwasser den Platz ein und presste den restlichen Sauerstoff aus meinen Lungen, der in etlichen Luftblasen aus meinem Mund strömte. Von Panik ergriffen schnappte ich mehrmals nach Luft, atmete jedoch nur noch mehr dreckiges Salzwasser ein. Ich strampelte wild mit Armen und Beinen, versuchte mich verzweifelt auf die Wasseroberfläche zu zu bewegen, wobei die Ränder meines Blickfelds langsam verschwammen. Mit letzter Kraft stieß ich mich die letzten Meter hinauf. Meine Sicht war verschwommen und das Wasser floß in dünnen Rinnsalen an meinem Gesicht hinunter, als ich keuchend nach Luft rang. Blind sah ich nicht die Welle, die mich augenblicklich wie eine Plattwalze überrollte und wieder unsanft unter Wasser drückte. Kaum wollte ich wieder an die Wasseroberfläche, brach erneut eine Welle über meinem Kopf zusammen und wirbelte mich herum, sodass ich wild herum wirbelte und jeden Sinn für Orientierung verlor. Und noch eine. Und noch eine. Der Druck in meinen Ohren wurde unerträglich, als mich die Wellen unter Wasser erneut hin und her warfen. Mit der Schulter stieß ich grob und schmerzhaft gegen etwas hartes und zackiges. Automatisch riss ich den Mund auf um zu schreien, gewährte jedoch nur mehr und mehr Wasser den Einlass in mein Innerstes. Obwohl ich zu ertrinken drohte, fühlte es sich eher so an, als ob ich in Flammen stünde. Alles in meinem Körper schmerzte und verlangte nach Sauerstoff, doch ich wusste nicht einmal mehr wo oben und unten war. Alles drehte sich, mein Sicht glich dem Blick durch milchiges Glas. Alles schien in unerreichbarer Ferne. Die Wasseroberfläche. Sauerstoff. Halt. Hilfe. Selbst einen Gedanken zu fassen, schien wie nach dem Greifen nach einem glitschigen Gegenstand, der dir, sobald du ihn hast, zwischen den Fingern zerrinnt und entflieht. Erschöpft und mit den Kräften am Ende gab ich das Kämpfen auf. Man konnte nicht gegen die Natur ankämpfen. Völlig entspannt ließ ich das Meer gewähren. Es war schwer dem Bedürfnis nach Sauerstoff nicht nachzugeben, doch es war leichter als der Kampf gegen das Meer. Die Anspannung wich aus meinen Gliedmaßen und auch den Drang zu Leben, der unaufhörlich in meinem Kopf schrie, verbannte ich in die hintersten Ecken meines Verstandes. Eine tiefe, innere Ruhe erfasste mich, die ich schon lange nicht mehr gespürt habe und auch wenn es seltsam klingt: Ich war glücklich. Genau in diesem Moment erfüllte mich ein solch überwältigender Seelenfrieden, dass es mich zum Lächeln brachte. Ich vergaß Lucas, vergaß das tobende Meer und den Druck in meinen Ohren. Blendete das Geräusch der wütenden Wellen aus, das seltsame Rauschen in meinen Ohren, selbst die Stimme, die ich nicht zuordnen konnte, die meinen Namen rief, nahm ich nur am Rande war. Ich dachte nicht daran, was mit Lucas passiert war, den ich nicht mehr hörte, ich dachte nicht daran, was Tante Ann sagen würde, wenn sie sehen würde, wie ich aufgab. Alles, was ich wahrnahm, war dieser alles umfassende und vollkommen ausfüllende Frieden in mir.

Der Mann, der niemals lachteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt