Kapitel 3 - Geh nicht

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Nach dem Vorfall lag ich lange wach und zerbrach mir den Kopf darüber. Mein Kopf dröhnte in meinen Ohren und auch die Erschöpfung machte sich in meinen Gliedern breit, doch ich konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken. Die sorgfältig behütete Kiste erschien mir eigenartig und auch die Reaktion des alten Mr. Chaibans war merkwürdig, wie seine Laune plötzlich von gelangweilt auf feindselig umwechselte. Stirnrunzelnd lag ich auf dem Bett und starrte an die weiße Decke meines Zimmers, ohne sie wirklich anzusehen. Irgendwie erschien es mir wichtig. Als ob das Foto, beziehungsweise das hübsche Mädchen darauf, der Schlüssel zu irgendwas wäre, ein wichtiges Puzzlestück in einem Rätsel. Auch der Junge kam mir vertraut vor... doch ich kam nicht darauf. Ob der Alte wohl mal Kinder gahbt hatte? Ne, kann ich mir nicht vorstellen. Außerdem war das Bild dafür zu alt und die beiden auf dem Foto etwas zu vertraut für Geschwister. Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe, die bereits leicht aufgerissen war, doch das ignorierte ich einfach und setzte mich aufrecht an den Rand meines Bettes. Irgendetwas hat es mit diesem Mädchen auf sich. Es macht mich verrückt, dass ich das Rätsel nicht gelöst bekam. Dazu fehlten mir zu viele Informationen. Er würde, nach seiner Reaktion von heute Nachmittag zu urteilen, nur wütend reagieren und mich wieder rausschmeißen, sollte ich ihn nach dem Bild fragen. Und kurzerhand fasste ich den Entschluss mir meine Informationen selbst zu beschaffen, undzwar im Ursprung des Rätsels: In Mr. Chaibans Haus.

Die Tage vergingen im Flug und immer noch wechselte Mr. Chaiban, trotz meiner Bemühungen und Gesprächsversuche, nur die nötigsten Worte mit mir. Die einzigen Worte, die ich überhaupt zu hören bekam, waren: "Nein.", "Das kommt dahin.", "Geht dich nichts an.". Langsam bekam ich ein Gespür für seine Launen, wann es okay war weiter nachzufragen oder wann ich lieber den Mund halten und leise weiterarbeiten sollte. Er ließ mich stets langweile Arbeiten verrichten, zu denen kein anderer bereit war und die sich in undefinierbare Länge zogen. Ich musste uralte Akten nach den Jahreszahlen und Monaten sortieren; kleine Porellanfiguren, die teils Tänzer und teils Tiere darstellten, mit einem Mittel polieren, dass wahrscheinlich so alt war wie er selbst und mir den Kopf vernebelte. Jedes Mal wenn Mr. Chaiban nicht hinschaute, suchte ich nach Hinweisen - was schwierig war, da er mich nur so wenig wie möglich aus den Augen ließ - doch ich fand nichts. Auch die Kiste mit der Fotografie war verschwunden. Die Tage wurden länger, da ich absichtlich langsam arbeitete - in der Hoffnung eine Möglichkeit zu finden, weiter zu suchen - und erst nach Hause kam, wenn sich der Himmel in der prächtigen Palette seiner verschiedenen Rottöne zeigte.

Eines frühen Morgens schien der Himmel in einem strahlenden Blau, keine Wolken waren zu sehen und auch die Sonne strahlte in voller Pracht auf unsere überhitzten Köpfe hinab. Es war der perfekte Sommertag und ich machte mich mal wieder auf den Weg zu Mr. Chaiban, es machte mir auch nichts mehr aus bei schönem Wetter in seinem alten, muffigen Keller zu verbringen, schließlich war ich schon daran gewöhnt. Und ich glaube, irgendwie hatte sich der alte Mann auch an mich gewöhnt, denn er schien jedes Mal ein bisschen ruhiger und weniger mürrisch zu werden.
Ohnehin war diesen Sommer nichts los. Die Mädels aus der Stadt sind dieses Jahr nicht wie immer für den Sommer in unseren bescheidenen Ort gekommen, sondern fanden plötzlich, dass der Tummel und Qualm von Großstädten wie New York um einiges aufregender war als unser ruhiges und sonniges Örtchen und die Mädchen, die hier lebten, kannten wir alle schon. Tatsächlich gibt es hier außer den Strand und ein kleines Internetcafes, das regelmäßig von spielwütigen halbwüchsigen Jungs überflutet wurde, nichts zu sehen.
Wenn ich meine Kumpel traf, saßen wir meistens selbst in dem müffelnden kleinen Coffeeshop und lieferten uns online Battles, in denen wir das Revier des anderen einnahmen oder Schätze erbeuteten, aber irgendwann hat man einfach keinen Bock mehr auf Drachen und Maschinengewehre. Dann sitzen wir eigentlich den ganzen Tag rum und spielen Streiche oder machen uns anderswie über andere lustig. Und wenn wir niemanden finden, leidet bei den Witzen, die wir über einander reißen, auch gerne mal unsere Freundschaft darunter, aber am nächsten Morgen ist wieder alles okay.

Aber heute hatte ich ein echt komisches Gefühl, dass mich schon seit dem Aufstehen plagte und mich mich nicht losließ. Als ich Mr. Chaiban auf der Veranda sitzen sah, wie er gebannt auf die Innenseite seiner Hände sah, die gefaltet auf seinem Schoß lagen, bestätigte sich mein Gefühl und ließ, trotz der Hitze, Schauer über meinen Rücken laufen. Er saß auf einer vom Wetter und Gebrauch abgenutzten Bank, auf seiner Veranda und schien mich nicht zu sehen, als ich näher kam und ihn eingehend musterte. Die Veranda war alt und abgenutzt, nur die abgeblichene Farbe an der Wand, die leicht ins pfirsichfarbene ging, und die kunstvollverzierten Geländer erinnerten an den schönen Ort, der er einst gewesen sein musste. Mit kleinen Schritten, die vom Knarren der Treppe begleitet wurden, bestieg ich die Veranda und stand nun unmittelbar vor ihm. Seine gebeugten Finger, die leicht zuckten, verrieten mir, dass er mich bemerkt hatte. Doch er schaute nicht auf. Schweigend setzte ich mich neben ihn auf die Bank und schaute hinaus auf die Straße. Es waren keine Autos unterwegs, dafür war es zu heiß, stattdessen erblickte ich ein älteres Paar, dass mit dem Fahrrad unterwegs war und auch eine Gruppe von Jugendlichen in meinem Alter liefen lachend die Straße entlang, auf dem Weg zum Strand. Von weither konnte man das Klingeln des Eiswagens hören und auch das Rauschen des Meeres wehte mit dem Wind seinen salzigen Geruch nach Freiheit herüber. Die Luft war trotz der leichten Brise schwül und klebte wie eine zweite Haut an unseren ohnehin verschwitzten Körper. "Du musst heute nicht arbeiten.", drang seine kräftige Stimme an mein Ohr. Als ich mein Kopf zu ihm drehte, sah er mich nicht an und mir fiel auf, dass er das nie tat. Nie schaute er mir ins Gesicht und wenn doch, nur ganz kurz. Verwirrt über meine Erkenntnis und seiner Aussage runzelte ich die Stirn. "Es macht mir nichts aus zu arbeiten.", erwiderte ich ruhig und merkte im selben Moment, dass das stimmte. Obwohl es abartig heiß war, machte es mir nichts aus, hier zu sein. Zumindest weniger als wie am Anfang. Kurz entstand wieder die stetswärende Ruhe zwischen uns, ehe er sie brach. "Du verstehst mich nicht.", murmelte er so, dass man es kaum verstand. "Du darfst heute nicht arbeiten." Noch verwirrter suchte ich seinen Blick, den er jedoch wieder gewissenhaft vor mir verbarg. "Warum denn nicht?", fragte ich neugierig. "Ich will dich nicht sehen.", beharrte er mit fester Stimme und obwohl ich wusste, dass er mich nur bedingt ertrug - undzwar weil er einer Diskussion mit meiner Tante vermied, die er nicht gewinnen konnte - wusste ich auch, dass das nicht der Grund war. Ich beugte mich etwas weiter zu ihm vor, wobei er schnell das Gesicht abwand und zur Seite schaute. "Das ist nicht der Grund.", sprach ich meinen Gedanken aus. "Geh. Jetzt.", forderte er mich mit feindseliger Stimme auf, wobei er jedes Wort wie einen ganzen Satz aussprach. Ohne ein weiteres Wort erhob ich mich von meinem Platz und wand mich zum Gehen. Wenn er mich nicht mal anschauen konnte, dann sollte ich meine Zeit bei ihm auch echt nicht verschwenden. Wer weiß, vielleicht heckten die Jungs mal wieder was aus, wobei ich mitmachen konnte. Sollte der Alte doch wie immer rumsitzen und vor sich hinglotzen.

Ich hatte gerade den Rasen erreicht, dessen Grashalme sich unter meinem Gewicht widerstandslos beugten, als ich hörte wie von der anderen Straßenseite meinen Namen gerufen wurde: "Jake!" Ich kannte die Stimme, daher suchte ich mit meinen Augen die Straße ab und schaute in das Gesicht eines wildwinkenden und breitgrinsenden Lucas, einer der Jungs mit denen ich Mr. Chaiban einen Streich gespielt hatte. Lächelnd bewegte ich mich auf ihn zu, als ich wieder hörte, wie jemand meinen Namen rief, diesmal hinter mir. Seine raue, beherrschte Stimme ließ mich in der Bewegung inne halten. Nach kurzem überlegen drehte ich mich zu ihm um und schaute ihn an. Er war aufgestanden und hatte seine Hände auf das Geländer gelegt, während ich stirnrunzelnd erkannte, dass er mich ansah. Auf die Distanz hinweg war das jedoch schwer zu beurteilen. "Geh heute nicht ins Meer.", rief er kaum hörbar, gerade so laut, dass der auf mich zukommende Lucas es nicht mitbekam. Auf meiner Stirn bildeten sich nur noch tiefere Falten, als ich in den klaren, lichtüberfluteten Himmel blickte. Der Tag war toll, keine einzige Wolke. Was also war sein Problem? Zögerlich nickte ich, woraufhin er mir noch einen eindringlichen Blick zuwarf, ehe er sich umwand und mit großen Schritten im Haus verstand. Verwirrt schaute ich ihm hinterher, als mich eine Hand auf meiner Schulter in die Realität zurückholte. "Ey, Mann. Was wollte der Alte von dir?", fragte er, als er meinen Blick bemerkte. "Ehh.. nichts.", sagte ich und schüttelte meinen Kopf, während ich mich zu ihm wandt. Seine dünnen Lippen hatten sich zu einem schiefen Grinsen verzogen und seine grünen Augen funkelten vorfreudig. "Bist du bereit?", fragte er. "Wofür?", fragte ich vorsichtig, wofür er mir einen leichten Schlag gegen den Kopf gab. "Was ist denn los bei dir? Hat dir der Alte schon dein Gehirn weg gelangweilt? Schau dich doch mal um! Es ist der perfekte Tag zum Surfen, mann! Kommst du mit, oder was?" Nervös blickte ich über meine Schulter zu dem Haus zurück, als erwarte ich, dass er da immer noch stünde und mich beobachtete. Wieder wandt ich mich an Lucas, der ungeduldig auf meine Antwort wartete. "Bin dabei."
Was sollte schon großartig passieren?

Der Mann, der niemals lachteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt