Kapitel 6 - Maybelline

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"Ich war in deinem Alter als ich sie kennen gelernt habe, weißt du." begann er und sein Blick war verträumt in die Ferne gerichtet, als hätte er die Bilder noch genau vor Augen. Als wären es wertvolle Erinnerungen an die letzte Woche, nicht an die letzten Jahrzehnte. "Ich weiß nicht mehr was für Kurse ich an diesem Tag hatte, geschweige denn welche Lehrer. Ich weiß weder was ich die Tage zuvor gemacht hatte, noch was mich an diesem Morgen beschäftigte. Alles was ich weiß ist, dass es ihr erster Schultag an der neuen Schule war und dass sie beim Betreten des Schulgebäudes an mir vorbei lief, als ich gerade mit meinen beiden besten Freunden zusammen saß. Sie wirkte unscheinbar und unspektakulär, auch wenn sie selbstbewusst durchs Schulgebäude schritt. Es ist seltsam, wie anders man eine Person wahrnimmt, als wenn man es nie getan hat.
Ich wollte ihr helfen sich in der Schule zurecht zu finden, ihr die Räume zeigen, etwas über sie erfahren, doch ich war nie einer dieser Menschen gewesen, die einfach auf andere zu gingen und Konversationen betrieben, durch ihre lockere Art und ihrem charmanten Lächeln die Leute in ihren Bann zogen. Ich war schüchtern und feige gewesen. Unauffällig und oberflächlich. So war das damals. Als sie noch am selben Tag in unsere Klasse eingeteilt wurde und sich kurz vorstellte, hatte ich die Möglichkeit sie genauer zu betrachten. Ihr Name war Maybelline. Sie trug einen türkisen Mantel, was so ziemlich das Auffälligste an ihr war. Sie hatte dunkele, große Augen mit dichten schwarzen Wimpern, dunkele Haare, die ihr in dicken Locken auf die Schulter fielen. Sie war nicht sehr groß, vielleicht 1.65m. Doch da war etwas in ihrem Blick.. etwas herausforderndes, neugieriges. Etwas besonders.
Als sie sich auf ihren Platz am Fenster setzte, schaute sie niemanden direkt an und erst da bemerkte ich, dass sie alle, - aber wirklich alle - anstarrten, was ziemlich ungewöhnlich war, da sonst der Großteil der Klasse mit sich selbst oder seinem Sitznachbarn beschäftigt war, selbst wenn der Lehrer eine wichtige Durchsage machte. Der Rest des Tages verlief relativ ruhig. Jungs stellten sich ihr vor, baten ihr an sie rumzuführen, doch sie lehnte dankend ab und lächelte sie mit einem Lächeln an, dass die Jungs nicht sauer werden konnten. Die Mädchen hatten mehr Glück, sie gesellten sich zu ihr und redeten und man sah ihr an, dass sie sich deutlich wohler unter ihnen fühlte und offen und freundlich alle Fragen beantwortete, sie lachte sogar. Ich ertappte mich mehrfach dabei wie ich in ihre Richtung lunste.
In den nächsten Tagen sprach ich immer noch kein Wort mit ihr. Nicht dass ich nicht wollte, ich hätte sogar sehr gern mit ihr gesprochen, doch wie gesagt: Ich war feige.
Ich hatte Angst sie könnte mich zurückweisen, wie sie es bei den anderen Jungs auch getan hatte. Außerdem zog sie sich in den Pausen mit ihrem Buch in der Bibliothek zurück oder ging mit den Mädchen in den Park, welcher an unsere Schule grenzte und der uns in den Pausen zur Verfügung stand. Jede Woche las sie ein anderes Buch, jedes dicker als das andere. Auch eine ihrer kleinen Besonderheiten: Während die meisten allein schon bei dem Anblick eines Buches mit 700 Seiten die Flucht ergriffen, war sie schon nach drei Tagen komplett durch damit. Sie liebte Bücher, genauso wie sie das Zeichnen liebte und wenn sie erst einmal mit einem von beidem anfing, verlor sie sich komplett darin. Und obwohl sie sehr in sich gekehrt war musste das Unausweichliche passieren: Darius. Denn Darius' Problem war, dass sie die neue Mitschülerin nicht einschätzen konnte und somit war diese eine Gefahr. Denn Daria war niemand, der bereitwillig die zweite Geige spielte, oh nein.
Also ging sie, so lächerlich es auch klingen mag, in den Angriff über.
Eines Nachmittags, als es nur noch wenige Minuten waren bis zum Pausenbeginn, fragte er Maybelline lautstark, sodass jeder es mitbekam: 》Achso, Maybelline. Ich hab gehört, dass du in einem Hochhaus lebst... ist es dort wirklich so dreckig und asozial, wie man es von Hochhäusern kennt? Und habt ihr viele Ratten im Haus, denn ich bin mir sicher es gibt viele, wo es doch so viel Dreck gibt.《 Augenblicklich war alles leise, alle warteten auf Maybellines Antwort. Diese drehte sich noch nicht einmal um, als sie prompt antwortete: 》Nein, eigentlich nicht. Natürlich kann es schon mal vorkommen, dass sich mal eine kleine, dreckige Ratte im Treppenhaus verirrt, aber wir wissen wie man mit sowas umgeht.《 Und selbst wenn ihr Ton locker und beschwingt war, verstanden natürlich alle die Zweideutigkeit ihrer Worte. Ein paar Kinder kommentierten die Szene mit einem 》Uhh《, doch die Mehrheit war still, darauf gespannt wie es weiter ging. Ich ebenfalls. Darius, der so gar nicht mit dem Verlauf dieses Gespräches gerechnet hatte, presste die Lippen fest aufeinander. 》Außerdem, lieber Darius, 《 fuhr Maybelline fort und räumte ihre Bücher zusammen. 》kannst du mich nicht verurteilen, weil mir unsere Umwelt lieb ist.《
》Was soll das denn bedeuten?《 fragte Darius patzig und selbst die wenigen, die noch ihre Sachen zusammen räumten hielten inne, denn Darius war eigentlich stets darauf bedacht nicht direkt zu demonstrieren wie zickig er eigentlich war. 》Ganz einfach, du, der mit seiner Familie in einem protzigen Ein-Familien-Haus wohnt, seit egoistisch und verschwenderisch, da ihr ohne praktischen Hintergedanken Fläche beansprucht, die für Bäume und andere Pflanzen zur Verfügung stehen könnte. Hochhäuser dagegen sind viel effizienter, da diese locker dutzende von Großfamilien aufnehmen können und dabei nur minimal Platz gebrauchen. Ergo: sind Hochhäuser umweltschonender, als Häuser.  Und du weißt sicherlich auch, dass Bäume Fotosynthese betreiben und uns somit den nötigen Sauerstoff liefern, ohne den Menschen und auch Tiere nicht leben können. Was wiederum bedeutet, dass ich Leben rette.《 Mit den Büchern in der Hand schob sie ihren Stuhl zurück und drehte sich mit einem hinreißenden Lächeln zu ihr um. Darius wurde rot wie eine Tomate und man konnte beinahe sehen, wie seine zornigen Augen Funken in ihre Richtung sprühten, doch das hinderte Maybelline nicht daran mehrere Schritte auf ihn zu zugehen und genau vor seinem Tisch stehen zu bleiben. Provokant warf sie ihre Haare über die Schulter und beugte sich etwas zu ihm vor. Wahrscheinlich hätte ich es gar nicht gehört, hätte nicht eine solche Totenstille im Klassenraum geherrscht, als sie mit einem schelmischen Grinsen sagte: 》Nicht alle Helden tragen Masken.《 Darius  schnaubte verächtlich und wandte sein Gesicht ab, während sich Maybelline mit einem triumphierenden Lächeln aufrichtete und mit beschwingten Schritten, an ihm vorbei zur Tür bewegte, begleitet von dem Läuten der Pausenklingel und dem Gröllen der Klassenmitglieder, die sich vor Lachen nicht mehr einkriegten konnten.

Das war das erste Mal, dass ich ihr mit offnem Mund und anerkennenden Blick hinterherstarrte und dachte, dass sie eben doch nicht so unscheinbar und ruhig sei, wie ich gedachte hatte."

Der Mann, der niemals lachteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt