Erschöpft materialisierte Suena sich im letzten Schlafzimmer ihrer Doppelschicht. Sie war heute um den gesamten Planeten gereist, um den Menschen auch auf der anderen Seite der Erdkugel einen erholsamen Schlaf zu schenken.
Ironischerweise stellte sie fest, dass auch sie heute so müde war, dass sie kurz überlegte, sich selbst eine Prise Schlafsand zu gönnen. Aber das war unmöglich. Für die Menschen war er essenziell, für sie selbst und ihresgleichen, aber unnötig. Sie schliefen nie. Zumindest nicht so, wie es die Menschen taten.
Gedämpft drangen Stimmen aus einem kleinen Kasten, der an einer Wandhalterung hing, an ihr Ohr. Sie hatte diese bewegten Bilder schon des Öfteren gesehen. Trotzdem konnte sie sich noch immer dafür begeistern und fast verstehen, warum manche Menschen sie als Einschlafhilfe benutzten.
Sie wussten es ja nicht besser.
Es irritierte sie nur kurz, als sie noch zwei weitere Monitore herumstehen sah, aber als sie die große Fensterfront erblickte, war sie so abgelenkt, dass sie sich nicht weiter darüber wunderte.
Suena warf einen Blick hinaus und konnte weit unten auf der Straße vereinzelt die Scheinwerfer von ein paar vorbeifahrenden Autos und das Licht der Straßenlaternen ausfindig machen. Sie liebte es, in einem der zahlreichen Hochhäuser zu arbeiten. Dort hatte sie den besten Blick über die Stadt, in der sie sich gerade befand - auch wenn sie keine Ahnung hatte, wo dieser Ort war. Außerdem war sie so den kleinen leuchtenden Punkten am Himmel noch ein Stück näher. Diese kleine Auszeit gönnte sie sich nur allzu gerne. Zumindest solange, wie das letzte Sandkorn in ihrer Sanduhr noch nicht gefallen war.
»Bist du ein Engel?«
Erschrocken fuhr Suena herum und während sie zu Staub zerfiel, waren das Letzte, was sie wahrnahm, die wohl wunderschönsten grünen Augen, die sie je gesehen hatte.
»Scheiße, scheiße, scheiße«, fluchte sie. Planlos schritt sie auf dem großen Flachdach des Gebäudes auf und ab. Sie hatte schon wieder nicht richtig aufgepasst und Mist gebaut.
Verstohlen blickte sie auf die Sanduhr, die sich neu gefüllt hatte und noch nicht wieder zu rieseln begonnen hatte. Der junge Mann schien sich noch nicht wieder in der Einschlafphase zu befinden, was für sie bedeutete zu warten. Denn ein unerledigter Auftrag kam nicht infrage.
Stundenlang hypnotisierte sie die feinen Sandkörner, die sich einfach nicht in Bewegung setzen wollten. Wollte er etwa die ganze Nacht wach bleiben?
Dann und wann huschten ihre Gedanken erneut zu seinen Augen. Bisher hatte sie in Abertausende geschlossene menschliche Augen geblickt, aber noch nie in offene. Irgendetwas faszinierte sie daran. Ob es daran lag, dass man den Menschen so etwas wie eine Seele nachsagte?
Energisch schüttelte sie den Kopf in der Hoffnung, diese Gedanken aus ihrem Kopf vertreiben zu können. Sie durfte sich nicht ablenken lassen und schon gar nicht von einem Menschen. Sie musste konzentriert bleiben.
Plötzlich quetschten sich die ersten Sandkörner durch die Verengung, als der Sand zu rieseln begann. Suena schnappte sich die Sanduhr und tat es dem Sand gleich, indem sie sich auflöste und zu Boden fiel.
Sie hatte sich die hinterste und dunkelste Ecke des Schlafzimmers ausgesucht, wo sie ihren Körper wieder in einen festen Zustand brachte. Suena hielt die Luft an. Ihr Herz klopfte so laut in ihrer Brust, dass sie befürchtete, sie würde ihn erneut wecken.
Sie warf einen weiteren Blick auf die Sanduhr. Der feine Sand rieselte in gleichbleibendem Takt in den unteren Glaskörper. Der Boden war bereits vollständig mit Sand bedeckt.
Auf Zehenspitzen schlich sie auf direktem Weg zum Bett, die große Fensterfront diesmal ignorierend.
Er lag auf dem Rücken, die Bettdecke bis zur nackten Brust gezogen. Sie wusste nicht, warum sie dieses Detail überhaupt zur Kenntnis nahm, hatte sie doch schon so manche Merkwürdigkeit in den Betten der schlafenden Menschen erblickt.
Dass er ihr das Gesicht zugewandt hatte, machte es ihr einfach. Schlimmer waren die Bauchschläfer, die ihr halbes Gesicht in den Kissen vergruben. Dann musste sie genau aufpassen, wohin sie den Schlafsand pustete.
Sie stellte die Sanduhr neben sich ab und öffnete den Lederbeutel an ihrem Gürtel, nicht ohne ihn aus den Augen zu lassen. Friedlich sah er aus, wie er ruhig atmend dalag.
Erst als sich ihre Hand bereits auf den Weg zu seinen etwas zu langen blonden Haaren gemacht hatte, um sie ihm aus der Stirn zu streichen, wurde ihr bewusst, was sie hier gerade beinahe tat. Verwirrt schloss sie für einen Moment die Augen und atmete tief durch.
Als sie ihre Augen wieder öffnete, sah sie, wie er die Hände zu Fäusten geschlossen hatte und die Augen zusammenkniff. Schnell warf sie einen Blick auf die Sanduhr und erschrak halb zu Tode. Der Sand hatte aufgehört zu rieseln: Er war wach.
Langsam streckte Suena den Arm aus, um nach der Sanduhr zu greifen. Sie konnte nicht einfach verschwinden. Sie musste sie mitnehmen.
»Bitte warte«, sprudelte es plötzlich aus ihm heraus.
Hastig wich Suena ein paar Schritte zurück, was sie von der Sanduhr nur weiter entfernte. Sie kauerte sich in der dunklen Ecke des Zimmers zusammen. Warum war sie überhaupt noch hier? Sie war so dumm.
Das Bett ächzte, als er sich aufsetzte. »Ist schon gut«, sagte er beruhigend, »ich tue dir nichts.«
Sie sah auf und hätte beim Anblick seiner Augen beinahe laut geseufzt. Ihr komisches Benehmen machte sie wütend.
»Natürlich tust du mir nichts.« Missbilligend schnalzte sie mit der Zunge. »Dazu bist du nicht in der Lage.«
Amüsiert legte er den Kopf schief. »Also doch ein Engel?«
»Nein.« Sie verdrehte die Augen. Dann fügte sie murmelnd hinzu: »Etwas Ähnliches.«
Er nickte, als würde er jedes Wort verstehen und fragte nicht weiter. Stattdessen musterte er sie neugierig.
Als Suena die Stille zwischen ihnen zu unangenehm wurde, griff sie in ihren Beutel und holte die doppelte Menge Schlafsand hervor. Wenn er nicht freiwillig schlafen würde, so musste sie ihn eben dazu zwingen. Er würde nicht sanft einschlafen, sondern direkt komatös zusammensacken und sich morgen wie erschlagen fühlen. Aber wenigstens würde er schlafen und sie konnte endlich Feierabend machen.
Ihr Körper war noch nicht ganz zerfallen, als sie sich auch schon wieder neben ihm materialisierte. Er fuhr mit dem Kopf zu ihr herum, wollte etwas sagen und bekam die volle Ladung ihres Schlafsandes ab. Augenblicklich kippte er über den Rand des Bettes direkt in ihre Arme. Sie konnte ihn nur mit Mühe und Not halten. Mit letzter Kraft drückte sie ihn zurück in die Kissen.
Schwer atmend rutschte sie an der Wand in ihrem Rücken hinab. Sie dachte, es würde an der Anstrengung liegen, aber als sich ihre Atmung bereits wieder normalisiert hatte, glühten ihre Wangen noch immer und ihr Herz pochte kräftig und unaufhörlich in ihrer Brust.
Mit zittrigen Beinen trat sie erneut zum Bett. Seine langen Wimpern lagen friedlich auf seinen Wangen und er atmete ruhig und gleichmäßig.
Ihre Gestalt schien ihn nicht sonderlich zu überraschen, was sie wunderte. Zwar hatten sie ihr Äußeres dem der Menschen angepasst, aber trotzdem hatte er von Engeln gesprochen. Sie hatte viele Geschichten gehört, von Menschen, die Wesen wie sie gesehen hatten. Meistens brachen die Menschen in Panik aus und warfen Dinge nach ihnen. Manchmal weinten sie auch nur oder fielen in Ohnmacht. Aber keine dieser Geschichten endete in einer Unterhaltung.
War man nicht vorsichtig genug, musste man dem Sandmann Bericht erstatten. So wie sie es jetzt tun musste. Er kümmerte sich dann darum, dass die Menschen die Erinnerung an sie verloren. Und obwohl Suena wusste, dass sie keine andere Wahl hatte, so wusste sie auch, dass ihr dieser Weg dieses Mal unglaublich schwerfallen würde. Sie wollte nicht, dass er sie vergaß und dass sie zu nichts anderem als einer gelöschten Erinnerung in seinem Gedächtnis wurde.
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INSOMNIA
FantasySuena bringt den Schlaf. Gelangweilt von ihrer Tätigkeit, schleichen sich ihr immer öfter Fehler ein. Wie gut, dass ihr Boss, der Sandmann, diese Fehler immer wieder aus dem Gedächtnis der Menschen löschen kann. Als sie aber Will begegnet und er sie...