Kapitel 3

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Wann zum Teufel hatte sie angefangen, noch bei ihm zu bleiben, nachdem er eingeschlafen war? War es bevor oder nachdem er sie ein paar weitere Male tückisch hereingelegt hatte?

Er schien einen wirklich leichten Schlaf zu haben. An einigen Tagen musste sie wieder schwere Geschütze auffahren und ihm die doppelte Menge Schlafsand zukommen lassen, damit er endlich schlief und sie gehen konnte. Sie sprach nie mit ihm und hoffte, dass er irgendwann einfach aufgeben würde, denn sie hatte dem Sandmann bisher noch nichts von ihm erzählt.

Eines Tages war er schließlich so erledigt gewesen, dass er tatsächlich vor ihrem Erscheinen eingenickt war und auch nicht aufwachte, als sie ihm die einfache Dosis Schlafsand ins Gesicht hauchte.

Zufrieden blickte sie auf ihn hinab. Er hatte es ihr wirklich nicht leicht gemacht, aber sie saß nun mal am längeren Hebel und hatte diesen Kampf ganz eindeutig gewonnen.

Sie verstaute gerade die Sanduhr, als ihr Blick etwas streifte, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein weißer Briefumschlag lehnte gegen eine Tasse mit erkaltetem Tee. Perplex überflog sie die Wörter, die in fein säuberlicher Handschrift darauf geschrieben waren:


Für Dich, mein Engel.


Sekundenlang starrte sie auf diese vier Wörter. Konnte er tatsächlich sie meinen?

Es war nahezu lächerlich, wie sie sich in seinem Schlafzimmer umblickte, ob jemand sie beobachtete. Schließlich waren sie ganz eindeutig alleine. Suena presste die Lippen zusammen und nahm den Brief von der Tasse. Sie hatte Glück, denn er war nicht zugeklebt. Falls er nicht an sie gerichtet war – und Suena war sich sicher, dass er das nicht war – würde sie ihn einfach wieder so hinstellen, wie sie ihn vorgefunden hatte. Aber für den Moment war ihre Neugier einfach zu groß.


Dachte ich es mir doch,

dass du nicht widerstehen kannst.


Suena rollte mit den Augen, konnte sich aber ein Lächeln kaum verkneifen. Sie hatte eine Ewigkeit nicht gelächelt. Gegrinst ja, aber gelächelt...? Unwillkürlich fragte sie sich, ob sie überhaupt schon mal einen Grund zum Lachen gehabt hatte.


Da du dich ja anscheinend nicht mit mir unterhalten möchtest,

schreibe ich dir nun also einen Brief.

Ich weiß auch nicht, warum.

Aber ich finde,

du schuldest mir wenigstens deinen Namen,

wenn du schon in meine Privatsphäre eindringst.

Also, mein Name ist Will und ich würde mich freuen,

wenn du mir auch deinen verraten würdest.


Will.

Jetzt kannte sie seinen Namen. Sie hatte noch nie einen Namen gekannt. Ihr wurde ein bisschen schwindelig und sie musste sich auf einem der beiden Stühle niederlassen.

Was kümmerte sie das überhaupt? Es war nur ein Name. Ein Name, der gut zu ihm passte, wie sie fand.

Suena seufzte tief. Vielleicht wurde sie krank? Ja, das musste es sein. Ihre Art lebte zwar ewig, aber sie waren gewiss nicht immun gegen Krankheiten.

Sie fasste sich an die Stirn. Nein, Fieber hatte sie keins, aber sie würde ihre Gesundheit im Auge behalten müssen, denn ihr Herz machte ihr große Sorgen. Es klopfte neuerdings so schnell, als würde es ihr aus der Brust springen wollen und sie wusste, dass auch sie nicht ohne Herz leben konnte.

Unschlüssig trat sie von einem Bein auf das andere. Was hatte sie schon groß zu verlieren? Wenn es schief ging, würde sie den Sandmann die Situation einfach bereinigen lassen.

Kräftig rüttelte sie Will an der Schulter. Als er aus dem Schlaf aufschreckte, wich sie in die hinterste Ecke zurück.

Verschlafen blinzelte er in die nur vom Bildschirm erleuchtete Dunkelheit. Seine Hand tastete nach dem Schalter einer kleinen Lampe an seinem Bett. Als er sie erblickte, wirkte er mit einem Mal hellwach.

»Suena«, sagte sie leise. »Mein Name ist Suena.«

Er lächelte, während er sich in eine aufrechte Position begab. »Es freut mich dich kennenzulernen, Suena.«

Schweigend fixierte sie ihn. Würde er auch nur eine zu hastige Bewegung machen, würde sie verschwinden, da war sie sich sicher. Aber er saß nur da, musterte sie neugierig und spielte mit den Fingern an einem Kabel herum.

»Nett hast du es hier«, durchbrach sie die Stille.

Amüsiert zog er die Augenbrauen hoch. »Danke«, sagte er und sie fragte sich, ob der Sarkasmus in seiner Stimme Absicht war. »Was tust du hier?«

»Ich warte, bis du schläfst.«

»Und warum tust du das?« Vermutlich hielt er sie für irre, aber er ließ es sich nicht anmerken.

Suena sog die Unterlippe zwischen die Zähne. Ehe sie sich fragte, wie viel sie ihm erzählen durfte, wurde ihr bewusst, dass er schon viel zu viel wusste. Aber da sie es früher oder später sowieso dem Sandmann beichten musste, konnte sie ihm genauso gut auch alles erzählen, denn er würde es ohnehin alles wieder vergessen. Gleich morgen würde sie um ein Gespräch bei ihrem Boss bitten.

»Also, nur damit du es weißt, ich bin kein Engel«, begann sie.

»In Ordnung«, sagte er.

Noch ein Mal zweifelte sie an ihrem Vorhaben, doch dann sprudelte es einfach aus ihr heraus. »Meine Art hat keinen Namen. Wir arbeiten für den Sandmann und sorgen dafür, dass die Menschen in den Tiefschlaf übertreten können.« Sie rechnete damit, dass er in schallendes Gelächter ausbrechen würde, wenn er schon nicht schreiend davon lief oder etwas nach ihr warf. Als er seine Hand bewegte, zuckte sie kurz zusammen, aber dann sah sie, dass er sich lediglich in den Arm kniff und sie anblinzelte.

»Das ist die Wahrheit«, sagte sie gekränkt. »Ich bin nicht verrückt.«

»Wenn ich nicht träume, dann bin ich es wohl«, murmelte er.

Sie schürzte beleidigt die Lippen und griff in ihren Beutel. Das war eine wirklich dumme Idee von ihr gewesen. Was hatte sie erwartet? Sie wollte einfach nur fort von hier.

Schneller als er begreifen konnte, stand sie neben ihm und pustete ihm den Schlafsand ins Gesicht. Will sackte vorne über, und anders als beim letzten Mal hielt sie ihn nicht fest, als er aus dem Bett fiel.

Ihr Blut rauschte in ihren Ohren. Dass man Angst vor ihr hatte, damit kam sie klar. Aber sie hatte geglaubt, er wäre anders. Sie kämpfte gegen den Kloß in ihrem Hals an, als sie hastig näher kommende Schritte auf dem Flur vernahm.

Das Rauschen wurde zu einem schrillen Piepen und Übelkeit stieg in ihr auf. Ihr Herz klopfte wie wild und als die Tür aufflog, zerfiel sie in Abertausende Sandkörner, löste sich auf, bis nichts mehr von ihr übrig blieb.

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