Kapitel 5

126 40 105
                                    


Es gab nur ein Wesen, dass Suena bei ihren Vorhaben helfen konnte: Die Zahnfee. Zumindest wusste sie, dass sie in der Lage war, Wünsche zu erfüllen. Wobei sie dies nicht aus purer Höflichkeit und Nächstenliebe tat, sondern immer eine Gegenleistung verlangte.

Ihren Vater konnte sie nicht fragen. Er würde sie nicht verstehen. Hatte es nie getan. Auch wenn er sich vor ein paar Jahrhunderten in eine menschliche Frau verliebt hatte, so hatte er sich gegen sie und für seine Aufgabe entschieden. Nicht einmal das Kind hatte er ihr gelassen.

Fühlte Suena sich deswegen so zu den Menschen hingezogen? Nein, dann hätte sie vermutlich früher diesen Entschluss gefasst. Dass sie sich im Augenblick auf dem Weg zur Zahnfee befand, hatte sie einzig Will zu verdanken.

Sie zog sich die Kapuze ihres Umhangs tiefer in das Gesicht. Bisher war sie unbemerkt vorwärtsgekommen und sie hoffte, dass dies auch so blieb. Zweifellos hatte sie nur diese eine Chance und würde man sie erwischen, so würde sie Will vermutlich nie wieder sehen.

Sich der Zahnfee zu nähern war strengstens verboten. Für die Menschen war sie eine gute Fee, die Kindern im Tausch für ihre Zähne ein paar Münzen unter die Kissen legte, aber Suena wusste es besser. Man erzählte sich, dass sie die Zähne zu feinem Staub zermahlte, den sie für ihre Zauber brauchte und wenn man ihre Hilfe wollte, so musste man einen hohen Preis bezahlen.

Vor ihr lag eine Wüste aus feinem, elfenbeinfarbenen Staub. Sie würgte, denn sie wusste, dass es kein Sand war, den der Wind ihr in das Gesicht blies. Eilig riss sie sich ein Stück Stoff von ihrem Umhang ab und band ihn sich vor Nase und Mund.

Als der Wind nachließ und sich der Staub legte, erkannte sie in der Ferne das weiße Schloss. Fast hätte sie es übersehen, denn es verschmolz nahezu mit seiner Umgebung.

Irgendjemand vor ihr musste diesen verbotenen Weg bereits gegangen sein, denn als sie näher kam, konnte sie ein paar der Details ausfindig machen, von denen sie bereits gehört hatte. Suena trat auf die Brücke, die sich wie eine Zunge vor ihr ausrollte und durch ein Tor führte, dass sie an einen Mund erinnerte. Sie strich mit den Fingern über die hellen Mauern des Schlosses. Eine erneute Welle der Übelkeit brach über sie hinein, als ihr bewusst wurde, dass das Mauerwerk ebenfalls aus Zähnen bestand. Hauptsächlich waren es Milchzähne, was sie an Farbe und Größe erkannte.

Langsam schritt sie auf dem weißen Teppich durch das Schloss, der zu einer großen Flügeltür führte. Nur kurz wunderte Suena sich darüber, dass das Schloss vollständig unbewacht schien. Sie konnte nirgendwo Wachen ausfindig machen und es war mucksmäuschenstill. Dann glitt die Flügeltür wie von selbst auf und ein Schwall Pfefferminz drang ihr in die Nase und raubte ihr fast den Atem.

Der Saal war leer, bis auf einen Thron aus Zähnen, auf dem eine Frau saß. Ihre schneeweißen Haare fielen ihr auf das ebenso weiße Kleid, das sich kaum von ihrer blassen Haut abhob.

Zögerlich trat Suena näher, bis ihr die dunklen Augen der Zahnfee auffielen, die sie neugierig musterten. Sie geriet ins Stocken und konnte den Blick nicht von ihnen abwenden, denn sie passten so überhaupt nicht hier her. Nichts Weißes war in ihnen. Sie waren einfach nur schwarz und je länger sie sie anstarrte, desto mehr schien sie sich in ihnen zu verlieren.

Hastig blinzelte sie ein paar Mal und senkte den Blick. Kurz vor dem Thron kniete sie nieder. Suena wusste nicht, ob die Zahnfee eine Königin war, aber zumindest lebte sie wie eine und deswegen hielt sie es für angemessen.

Der Zahnfee schien es zu gefallen. Ihr Kleid raschelte, als sie ihr Gewicht verlagerte. »Was führt dich zu mir, mein Kind?«

»Man erzählt sich, du kannst einem jeden Wunsch erfüllen?« Noch immer hielt sie den Blick gesenkt. Erst, als sie den bohrenden Blick der Zahnfee auf sich spürte, sammelte sie all ihren Mut zusammen und hob den Kopf.

Die Zahnfee musterte sie noch immer mit schiefem Kopf. »So ist es, mein Kind. Aber mein Zauber hat seinen Preis, also überlege dir gut, ob du diesen Handel mit mir eingehen möchtest.«

»Was ist es, was ich dir bieten kann?«

»Ich nehme mir etwas von dir, aber ich sage dir vorher nicht, was es ist.«

Das ungute Gefühl, welches sich in ihr ausbreitete, ignorierte Suena. Sie musste an das zahnlose Gebiss ihres Vaters denken. Vielleicht war es besser, sie wusste nicht, was die Zahnfee ihr nahm. Für sie gab es ohnehin keinen Weg zurück, denn sie hatte sich längst entschieden und war bereit, jeden Preis dafür zu bezahlen.

Entschlossen nickte sie der Zahnfee zu.

Ein leichtes Lächeln umspielte die Mundwinkel der Fee. »Nun gut, dann äußere deinen Wunsch.«

Suena erhob sich und drückte das Kreuz durch. Ihre Kehle war plötzlich ganz trocken und ließ ihre Stimme krächzen. »Bitte mach mich zu einem vollständigen Menschen.«

Einen Moment geschah nichts und fast hätte sie ihre Bitte wiederholt. Dann aber erhob sich die Zahnfee ebenfalls von ihrem Thron und kam direkt auf sie zu. Der Geruch nach Pfefferminz wurde mit jedem Schritt, den sie näher kam, intensiver.

Eine Sekunde bewunderte sie noch die Schönheit der Fee und unwillkürlich fragte sie sich, warum sie ihr erst jetzt auffiel. Trotz ihrer Augen war sie wirklich feenhaft und ihr Antlitz raubte ihr schier den Atem. Ihr Blick nahm sie erneut gefangen und das Schwarz ihrer Augen schien sich wie flüssiges Pech zu bewegen.

Dann stand sie plötzlich direkt vor ihr. Suena wollte einen Schritt zurückweichen, aber sie konnte nicht. Ihr Körper schien ihr nicht mehr zu gehorchen. Die Zahnfee war in ihrem Körper und in ihrem Kopf, wühlte sich durch Organe und Gedanken.

Ohne Vorwarnung blies die Zahnfee ihr den feinen weißen Staub ins Gesicht, durch den sie zuvor stundenlang marschiert war. Er kroch ihre Atemwege hinauf und drohte sie zu ersticken. Sie japste panisch nach Luft. Ihre Lungen rebellierten und ihre Augen quollen hervor. Flehend blickte Suena zur Zahnfee, aber diese hatte ihr bereits wieder den Rücken zugekehrt und war auf dem Weg zurück zu ihrem Thron.

Und dann fiel sie in ein dunkles, tiefes Loch ...

INSOMNIAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt