Cecil

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Irgendwann kam er an einer Leiter vorbei. Beinahe hätte Cecil sie übersehen, wenn das angelaufene Metall nicht einen Lichtschimmer, der von oben durch ein Loch in der Decke hereinfiel, reflektiert hätte.

Er sprang zur Seite und hob die Hände vor sein Gesicht, zu Fäusten geballt. Das Wasser spritzte an seinen Beinen hoch, beschmutzte seinen Mantel und durchnässte zusätzlich seine Hose oberhalb der Knie. Der Geruch von Fäkalien drang stärker an seine Nase und er musste ein Würgen unterdrücken. Sein Atem ging schwer und keuchend und klang viel zu laut in seinen empfindlichen Ohren. Er lauschte aufmerksam, doch nur das stetige Tropfen, das von ihm selbst ausging, erfüllte die Stille.

Langsam, nachdem er sich sicher war, nicht von den steinernen Gargolyes angegriffen zu werden, senkte Cecil seine Fäuste wieder. Seine Finger fühlten sich eigenartig verkrampft an als hätte er diese Haltung über Stunden hinweg eingenommen. Dabei waren es nur ein paar nervöse Atemzüge gewesen, in denen sein Herz gegen seinen Brustkorb geschlagen hatte, als wollte es die Knochen zerbersten.

Bin ich zu schreckhaft?, fragte Cecil sich selbst und sah sich sicherheitshalber noch einmal um, ehe er durch das Wasser auf die Leiter zuging. Oder ist das normal? Doch woher soll ich wissen, was überhaupt normal ist?

Mhernyk.

Gab es in dieser Stadt etwas wie Normalität? Und wenn ja – redeten es sich die Bürger ein, um die Mondscheinzwillinge nicht zu verärgern? Oder glaubten sie tatsächlich daran dass die Nacht der perfekte Zeitpunkt war, sein Leben ausgelassen zu feiern, wie es die Taggeborenen machten?

Seine behandschuhten Finger umschlossen die Sprossen. Er hob den Kopf in den Nacken und sah, dass die Leiter ihn durch ein Loch in der Decke hinaus aus der Kanalisation führte. Es sah jedoch nicht so aus, als wäre dies der reguläre Aus- oder Eingang. Die Enden der grob aufgebrochenen Steine ragten wie dunkle Silhouetten vor dem grauen Himmel auf, der mit roten Schlieren durchzogen war.

Cecil erschauerte.

Die Dämmerung.

Er befand sich am Anfang der Nacht und hatte keine Ahnung, wie lange sie gehen würde. Bei Solars, er hatte wusste noch nicht einmal, wie lange der Tag gegangen war? Wie viele Stunden die Sonne für sich beansprucht hatte, ehe sie Lunaris langsam weichen musste. Die Länge eines jeden Tages und einer jeder Nacht war unterschiedlich. Und die Tag- und Nachtgeborenen arbeiteten nicht zusammen, im Gegenteil; sie waren sich gegenseitig die größten Feinde, obwohl sie alle doch nur Menschen waren.

Cecil forschte in seinen lückenhaften Erinnerungen danach, ob er einen Weg kannte, die Länge des Tages auszumachen, doch er fand nichts. Das einzige, was ihm in den Sinn kam, war eine einfache Regel, mit denen man sich die Nacht ausrechnen konnte.

Zweidrittel Tag. Eindrittel Nacht.

Doch dafür brauchte er die genaue Stundenanzahl, die der Tag geherrscht hatte. Waren Hunderte vergangen? Tausende? Oder gar mehr?

Cecil wollte eigentlich nicht darüber nachdenken. Die Angst, zu erfahren, dass er womöglich in einer der längsten Nächte überhaupt gefangen war, sorgte dafür, dass seine Finger in seinen Handschuhen zu schwitzen anfingen, obwohl es in der Kanalisation kalt war. Er schüttelte den Kopf um den unliebsamen Gedanken abzuschütteln wie ein lästiges Insekt und begann den Aufstieg. Wenn er ein belebtes Viertel in Mhernyk fand, würde er vielleicht Antworten auf seine Fragen finden – falls jemand überhaupt bereit war, sie ihm zu geben. Der Alte von vorhin hatte ihn bereits gelehrt, dass sich Cecil besser nicht allzu sehr auf andere verlassen sollte.

Die Sprossen waren mit einer schleimig-glänzenden Substanz überzogen und obwohl Cecil seine robusten Lederhandschuhe trug, rutschte er immer wieder ab. Cecil biss die Zähne zusammen und wagte es nicht einmal, nachzuforschen, was da zwischen seinen zusammengepressten Fingern an Schleim hervorquoll, sondern kletterte vorsichtig nach oben.

Die Kirche des reinen Blutes (Runen aus Fleisch und Kreide 01)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt