Kapitel 6 - Verschwunden

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Kapitel 6 - Verschwunden

Irgendetwas seltsames ging an diesem Tag vor sich. Mayra hatte wie so häufig in letzter Zeit nicht schlafen können, doch in der letzten Nacht schien es besonders schlimm gewesen zu sein. Doch noch viel schlimmer, als die schlaflose Nacht, war der Tag, der nicht so begann, wie sonst. Zum einen war ihre Schwester heute noch nicht ausgeritten, wenn sie ehrlich war, hatte sie diese heute noch gar nicht gesehen. Als sie nach ihrem morgendlichen Mahl von ihrer Zofe angekleidet wurde, schien diese einen versteinerten Gesichtsausdruck zu haben, als hätte sie etwas erfahren, was für Mayra nicht offensichtlich war.
"Ist alles in Ordnung mit dir, Elisabeth?", fragte die Erstgeborene besorgt. Diese schwieg jedoch für einen kurzen Moment und sah stattdessen auf die Frisur, die sie soeben in die lockigen Haare der Königstochter flocht. "Es ist wegen Eurer Schwester, Mylady. Sie ist heute noch nicht gesehen worden", antwortete die Zofe schließlich ziemlich steif. "Ja, mir ist aufgefallen, dass sie heute noch nicht ausgeritten ist. Vielleicht ist sie ja heute endlich mal zu Lehrer Kohn gegangen!", entgegnete Mayra, sie hatte etwas schlimmeres erwartet. "Ihr versteht nicht, Prinzessin Mayra. Sie wurde heute noch von niemandem gesehen, weder von Kohn, noch von Eurem Vater, noch von ihrer Zofe!", rief Elisabeth aus und schien dabei ernsthaft besorgt zu sein. "Seit wann machst du dir so viele Gedanken um meine Schwester?", fragte Mayra unbekümmert.
Wie sie ihre Schwester kannte, war diese am heutigen Tage noch früher entflohen, damit sie von keinem aufgehalten werden konnte. "Es liegt nicht an Eurer Schwester, viel mehr... viel mehr an der Art und Weise, wie Euer Vater und die anderen mit dieser Nachricht umgegangen sind." "Was meinst du?", fragte Mayra, während sich ein Lächeln auf ihre Züge stahl, die Art und Weise, wie sich ihre Zofe Sorgen machte, war schon ein wenig übertrieben. "Nun, während die Zofe Eurer Schwester sich ernsthafte Sorgen gemacht hat, ging Euer Vater mit der Nachricht, wie soll ich sagen, eher gefasst um. Um ehrlich zu sein hat er uns nur mit kalten Augen gemustert und gemeint, dass wir-"
"Ach, Elisabeth!", rief Mayra dazwischen und konnte ein Lachen nicht unterdrücken. "Comadreja ist doch schon so oft verschwunden! Sie wird schon wieder auftauchen, wir reden hier schließlich von meiner lieben Schwester! Mach dir keine Sorgen, ich bin sicher, dass sie sich im Wald herumtreibt, um ihren Pflichten zu entgehen. Sie ist vielleicht keine bildhafte Hofdame, doch sie weiß, wie man im Wald herumstreunt. Außerdem ist Morgenstern doch noch bei ihr!"
Die Zofe schwieg, dann entgegnete sie: "Das Pferd Eurer Schwester steht jedoch noch im Stall, Mylady. Vielleicht-" "Hör auf, Elisabeth! Du machst dir wirklich zu viele Sorgen! Glaub mir, Comadreja wird sicher bald wieder zurück sein!" Da sich die Zofe geschlagen gab und ihre Arbeit an der Frisur beendet war, schlug sie die Augen nieder und entschuldigte sich für ihr Verhalten. "Ach, Elisabeth. Es ehrt mich wirklich sehr, dass du dich so viel um meine Familie kümmerst, aber wir reden hier von meiner kleinen Schwester. Man sieht es ihr vielleicht häufig nicht an, doch sie weiß, was sie tut und was sie will!"
   "Jawohl, Mylady", murmelte die Zofe und machte sich auf zum Bett, um dieses auszuschütteln. Kopfschüttelnd verließ die lächelnde Mayra ihr Gemach und ging zum Truppenübungsplatz. Schließlich hatte sie ihrem jüngeren Bruder versprochen, ihm bei seinen heutigen Übungen beizustehen. "Mayra!", rief er schon von Ferne und winkte ihr begeistert zu. Er hatte, wie auch ihre Schwester, die braunen Haare des Königs geerbt, während sie, Mayra, die blonden Lochen ihrer Mutter trug.
Ihr dreizehnjähriger Bruder hielt ein langes Schwert in der Hand, mit welchem er ihr zuwank, mit der anderen hielt er das Visier, welches ihm ständig ins Gesicht fiel, auf. "Sei vorsichtig, Lyrol! Ein Schwert ist kein Spielzeug!", schallte ihn Bruno der Waffenmeister. Dieser besaß Oberarme, die so breit waren, wie Mayras gesamter Körper, sein braun gebranntes Gesicht war durchfurcht durch einen schlecht rasierten Bart und Narben, die nur von einer Schlacht herrühren konnten. Sein Kopf war nur von wenigen schwarzen Haaren bedeckt, doch seine grauen Augen strahlten noch seine jugendliche Kraft aus, mit dem er seine Ritter trainierte.
Mayra lachte, als sie sah, wie ihr Bruder den Kopf einzog. Er war schon ein blauäugiger Bursche, denn nicht nur seine Augen glichen dem hellblauen Himmel, sondern auch ein Talent, sich in Schwierigkeiten zu bringen, war bei ihm angeboren. "Ein Schwert ist im Kampfdein bester Freund, doch auch einen Freund solltest du nicht leichtfertig behandeln, sonst verletzt du ihn. Behandelst du dein Schwert zu leichtfertig kannst du nicht nur anderen, sondern auch dir selbst Schaden zufügen und sei er auch nur in deinem Herzen, weil du vielleicht deine Schwester mit ihm verletzt hast", bläute der Waffenmeister Mayras kleinem Bruder ein.
Dieser erinnerte Mayra häufig an einen kleinen Hund, da er häufig eine kauernde Haltung annahm und den bettelnden Blick sehr gut beherrschte. Während der Tag langsam dahin strich und Mayra ihrem Bruder zusah, wie er versuchte, mit dem Schwert zu kämpfen, machte sich in der Königstochter ein ungutes Gefühl breit, ohne dass sie sagen konnte, warum. Dafür, dass ihr Bruder schon so alt war, konnte er noch nicht allzu gut mit dem Schwert umgehen. Doch wie sie wusste, lagen seine Stärken beim Amboss und Pfeil und Bogen schießen. Dennoch musste er, darüber hatte sich Lyrol schon häufig beklagt, den Kampf mit dem Schwert erlernen.
Mayra selbst hatte nur gelernt, wie man sich mit einem Dolch verteidigte, schließlich war sie eine Prinzessin und kein Soldat. Dass sie überhaupt den Umgang mit einem Dolch erlernen durfte, hatte sie erst durch eine wochenlange Auseinandersetzung mit ihrem Vater erreicht, da diese ihm immer wieder vorgehalten hat, dass sie nachts besser würde schlafen können, wenn sie wüsste, dass sie sich im Notfall auch selbst verteidigen könnte. Schließlich hatte es ihr Vater auch erlaubt, doch die Schlaflosigkeit war nicht gewichen.
"Nun strengt Euch doch ein wenig mehr an, Mylord!", schallte die Stimme des Waffenmeisters erneut über den Platz. "Ich bin sicher, Ihr könntet noch nicht einmal Eure Schwester überwältigen, wenn Ihr so weiterkämpft!" Missgelaunt sah Lyrol zu seiner Schwester. Sie wusste, dass er es nicht ihr übel nahm, sondern Bruno und letztendlich auch sich selber. Sie nickte ihm aufmunternd zu und lächelte. Vielleicht würde es ihm ja helfen.
Erneut griffen sich der Waffenmeister und der Prinz an, wobei Bruno schon sehr schnell Lyrol entwaffnet hatte. Nach geraumer Zeit, wo die Sonne bestimmt schon den höchsten Punkt erreicht hatte, sackte Lyrol neben seiner Schwester zusammen. "Ich kann nicht mehr!", stöhnte er. Sein Gesicht war mit Schweiß überströmt, seine Hände sahen wund aus. "Keine Sorge", lächelnd sah Mayra auf ihren kleinen Bruder hinab. "Irgendwann wirst du auch diese Art von Kampf beherrschen, da bin ich sicher!" Dankbar sah der Prinz zu seiner Schwester hoch, bevor er sich wieder zu Bruno begab, um weiter bis ans Ende seiner Kräfte getrieben zu werden.
Mayra hingegen machte sich auf zu ihrem Vater, vielleicht hatte er ja noch etwas dazu zu sagen, wo ihre Schwester geblieben war. Wahrscheinlich hatten sie sich bei ihrem gestrigen Abendmahl gestritten, worauf sich Comadreja versteckt haben könnte. Unterwegs sah sie, wie sich auf dem Schlosshof mehrere Männer tummelten. Sie erinnerte sich wieder, ihr Vater hatte den Kriegsrat einberufen. Wie er den jedoch noch heute abhalten wollte, war ihr ein Rätsel, schließlich brauchten manche Grafen bis zu drei Tage für die Anreise, ganz zu schweigen von den drei Tagen, die die Boten brauchten, um die Nachricht des Kriegsrates zu überbringen.
Sie würde mit ihm reden müssen, damit er nicht wieder einem Wutanfall erlag. Umso dringender wurde es, mit ihrem Vater zu sprechen. Sie fand ihn, wie erwartet im Thronsaal mit ihrer Mutter. Höflich verneigte sich Mayra, nachdem sie eingetreten war und sah zu ihrem Vater auf. "Habt Ihr schon mit dem Einberufen des Kriegsrates begonnen?", fragte sie ihren Vater, obwohl sie die Boten im Schlosshof schon gesehen hatte. " Es wird jedoch noch ein paar Tage dauern, bis Ihr mit ihm beginnen könnt, schließlich ist es ein weiter Weg." Der graue König fasste sie scharf ins Auge, doch seine Züge wurden weich, als Mayra ihn anlächelte.
"Mayra, Liebes! Eine Frau mischt sich nicht so in die Tätigkeiten des Königs ein!", schimpfte ihre Mutter, doch König Adros hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. Er hatte seine Erstgeborene schon immer geliebt und alles verziehen, wohingegen Comadreja nie mit diesem Respekt behandelt worden war. Sowohl Mayra, als auch ihre Mutter, Königin Ryja, wunderte es daher nicht so sehr, dass Comadreja zu einem kleinen Wildfang geworden war.
"Mein König!", rief plötzlich eine helle Stimme hinter ihnen. Es handelte sich um Priester Johann, welcher hastigen Schrittes eintrat. "Meine Königin!" Er verneigte sich tief vor beiden und keuchte außer Atem. "Eure Tochter! Eure Tochter Comadreja ist entführt worden!" Während der König seinen Priester fassungslos ansah, begann die Königin zu lachen: "Aber Priester Johann! Comadreja ist mit Sicherheit nur mal wieder im Wald!"
Königin Ryja hatte sich schon immer zu ihrer Zweitgeborenen hingezogen gefühlt, schließlich hatte diesen ihren eigenen Weg gefunden und nicht jenen angenommen, den man für sie vorgesehen hatte, was die Königin mit einem gewissen Trotz erfüllte, da sie sich so etwas niemals erlaubt hätte. "Nein, Mylady! Ich bin mir sicher, dass sie entführt worden ist! Ich war mit ihr am gestrigen Abend noch einmal in der Kirche. Ihr wisst sicher, ich habe versucht, sie zu bekehren... Doch mit einem Mal hat sich jemand in die Kirche geschlichen und mich überwältigt!
Eure Tochter habe ich seitdem nicht mehr gesehen und auch ihren Entführer konnte ich nicht erkennen. Doch habe ich das hier gefunden!", er hielt einen kleinen Stofffetzen in die Höhe, welches unverkennbar einen Teil des goldenen Wappens von Horiel zu sehen war. Mayra, die sich wieder daran erinnerte, schon den ganzen Tag ein ungutes Gefühl gehabt zu haben, wurde auf einmal eiskalt, als sie den Blick ihres Vaters sah.
Dieser erhob nun laut seine Stimme: "Ich schicke sofort einen Suchtrupp los und benachrichtigt so schnell wie möglich die Grafen! Horiel soll nicht meine Tochter bekommen! Bringt sie mir so schnell wie möglich zurück!" Mayra hingegen konnte sich kaum rühren. Ihre Schwester fort? Alle Wärme schien aus ihr herausgeflossen zu sein, stattdessen spürte sie etwas anderes in sich aufwallen. Und dieses etwas war nichts anderes als unbändige Wut.


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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 06, 2015 ⏰

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Comadreja - Die Kriegerin der SonneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt