I. Die Busfahrt

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Abschiedswetter. Ein regnerischer Herbsttag. Ich sitze im Bus mit dem Kopf an der Fensterscheibe lehnend und beobachte die Landschaft, welche schnell an mir vorbeisaust. Der Regen prasselt an den Scheiben entlang und ich spüre das kalte Glas an meiner Stirn. Ich setze mich aufrecht hin und taste mit meinen Fingern an die kühle Stelle meines Kopfes. Die Fahrt wird noch sehr lang dauern. Seit dem Abschied von meinem Vater an der Haltestelle ist gerade mal eine Dreiviertelstunde vergangen. Noch viereinhalb weitere Stunden und dann habe ich es geschafft.

Auch wenn ich keine Lust auf die Großstadt habe, freu ich mich auf meine kleine Wohnung. Beim Gedanken daran fällt mir auf, dass ich noch einen großen Berg Klamotten von dem Wäscheständer abnehmen muss. Egal, das mach ich morgen in aller Ruhe. Sobald ich angekommen bin, werde ich duschen gehen und mich ins Bett legen.
Die Zeit zuhause war schön und seitdem es meiner Schwester besser geht, können wir alle wieder aufatmen. Verdammt, die Zeit war so beschissen, dass ich ständig vergessen möchte, wie beschissen sie war. Papa gibt sich jedoch sehr viel Mühe. Es ist jedenfalls nicht mehr so erzwungen wie damals. Kein Überspielen von kritischen Situationen, kein Verschweigen, kein Unterdrücken von Gefühlen. So eine Busfahrt an einem herbstlichen Abend regt immer zum Nachdenken an.

Der Bus fährt ruckartig um eine Kurve und reißt mich aus meinen Gedanken an Zuhause, von dem Küchentisch an dem wir uns vorhin noch unterhielten und Zitronenkuchen aßen. Ich schau aufmerksam nach draußen und versuche zu erkennen, wo wir gerade sind. Anscheinend habe ich die Durchsage nicht wahrgenommen. Für einen Moment prasselt kein Regen mehr auf den Bus, wir befinden uns auf einem bedachten Parkplatz neben einer Tiefgarage. Wir halten an. Ein paar Leute geben der Busfahrerin ihre Koffer, andere steigen mit leichtem Gepäck ein.
Der Bus füllt sich und ein Mädchen mit langen, roten und klitschnassen Haaren sucht ihren Sitzplatz  und rempelt dabei versehentlich meinen Rucksack an. Daraufhin entschuldigt sie sich und dreht erschrocken ihren Kopf zu mir. Ein paar Tropfen ihrer vor Nässe triefenden Haare treffen mich, wofür sie sich erneut entschuldigt. „Haha, kein Problem", schmunzele ich und streiche mir die Tropfen von der Wange. Sie sitzt schräg hinter mir und trocknet ihr Gesicht mit einem Schal ab. Ich drehe mich wieder Richtung Bustür und sehe einen Jungen mit silber-weiß gefärbten Haaren den Bus betreten. Gerade eben gab er seinen Koffer ab und sucht nun ebenfalls seinen Sitzplatz. Er hat ein markantes, helles Gesicht mit einer hohen Stirn, vollen Augenbrauen und schmalen Lippen, welche er presst leicht angespannt zusammenpresst. Diese lösen sich, als sich unsere Blicke kurz treffen. Er begibt sich direkt auf den Sitz neben mir in dieselbe Reihe. Seine Haare sind zurückgekämmt. Ein schöner Anblick. Der Bus wird jeden Moment losfahren, ich sollte jetzt versuchen, es mir so bequem wie nur möglich zu machen und setze mir meine Kopfhörer auf.
Schau ich eine Serie oder höre ich einen Podcast? Oder doch das neue Album von - „Hey, Sorry?" höre ich den Jungen dumpf neben mir sagen, welcher sich über seine Sitze zu mir lehnt und eine leichte Winkbewegung mit seiner Hand macht. „Ja?" erwidere ich und zieh den Kopfhörer von meinem linken Ohr. „Du hast da etwas fallen lassen.", und zeigt auf meine Trinkflasche. Er hat eine relativ hohe und liebe Stimme. Der Bus startet und die Flasche rollt bei der ersten Kurve durch den Gang. „Oh, danke für Hinweis." antwortete ich. Beim Vorbeischieben meines Rucksacks fiel nun auch mein Handy auf den Boden. Typisch. Ich heb mein Handy auf, hol meine Trinkflasche und lächele den Jungen auf dem Rückweg noch einmal dankend an. Er lächelt nickend zurück. Plötzlich wird mir warm und ich nehme meinen Platz viel zu schnell ein. Ein nervöses Gefühl durchströmt meinen Körper.

Weiter gehts. Das Mädchen mit den roten Haaren hat ihren Laptop ausgepackt und scheint bereits davor eingeschlafen zu sein. Ab und zu schau ich auch zu dem Jungen links neben mir und mustere sein Seitenprofil. Er lehnt, genau so wie ich vor knapp einer Stunde, mit dem Kopf an der Scheibe des Busses und hat als Stütze seinen grauen Pulli zu einem Kissen zusammengerollt. Er hat Kopfhörer in den Ohren. Aus irgendeinem Grund kann ich meine Augen nicht von ihm lassen. Ich frage mich, woran das liegen könnte. Vielleicht war es ja die kurze, aber nette Interaktion zwischen uns beiden von vorhin. Er schließt die Augen, atmet tief ein und verschränkt die Arme. Sieht bequem aus. Seitdem er hier ist, fühle ich mich weniger melancholisch. Dabei kenn ich ihn doch gar nicht? Am liebsten würde ich mich direkt neben ihn setzen und schweigend meinen Kopf auf seine Schulter legen. Doch davon lässt sich nur fantasieren. Noch dreieinhalb Stunden und auch ich sollte nun meine Augen schließen.

„Liebe Fahrgäste.." - hallt es durch das Mikrofon. Ich öffne ruckartig meine Augen und blicke aufmerksam durch den Bus. Sind wir etwa schon da?  „Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass unsere Busfahrt aufgrund eines bevorstehenden Unwetters, welches nicht möglich ist zu umgehen, hiermit endet." , fährt die Busfahrerin fort und ich nehme erstmals ihren osteuropäischen Dialekt wahr. Was meint sie damit? Reflexartig schau ich zu dem Jungen mit den weißen Haaren und unsere Blicke treffen sich erneut. „Wir sind noch über zwei Stunden vom Ziel entfernt. Es besteht die Möglichkeit, ein Hostel zu beziehen, bis eine Weiterfahrt möglich ist."
Ein lautes Raunen zieht sich durch den Bus. „Kann doch nicht wahrsein!", „Das sind doch nur zwei Stunden, das schaffen wir doch wohl?", „Ich verpasse meinen Flug!", höre ich sämtliche Fahrgäste schimpfen. Eine Diskussion bricht aus, einige Fahrgäste versuchen die Busfahrerin zu überreden. Parallel checken die Leute die Nachrichten auf ihren Handys und teilen diese den restlichen Mitfahrenden mit. „Klingt gefährlich, lass uns einfach mit ins Hostel fahren. Schreib Denny, er soll uns besser nicht abholen.", höre ich ein Paar sagen. „Ich möchte Sie außerdem darauf hinweisen, dass die Abholung durch andere mit einem Auto gefährlich ist, ab diesem Zeitpunkt haften wir nicht mehr für Ihr Wohlergehen. Diese Entscheidung liegt dennoch bei Ihnen. Die Fahrt zu dem Hostel dauert 20 Minuten."
Einige Personen diskutieren weiter, „ [...] eine Nacht in einem Hostel käme nicht in Frage [...]."
Dennoch bleibt nicht viel Zeit und letztendlich willigen alle ein, zu dem Hostel zu fahren. Der Junge neben mir tippt leicht nervös auf seinem Handy, ich tu dasselbe und teile Papa mit, dass ich erst morgen in meiner Wohnung ankommen werde und dass er sich keine Sorgen machen soll.
Es ist 19:49 Uhr. In der nächsten Ansage der Busfahrerin teilt diese uns mit, dass wir in wenigen Minuten das Hostel erreichen werden und sie uns darum bittet, nach Ankunft noch einen Moment sitzen zu bleiben. Wahrscheinlich wird sie die Formulare besorgen. Alle packen langsam ihre Sachen zusammen, es raschelt aus allen Ecken. Die Leute reden, sind besorgt und genervt und scheinen die Situation noch nicht wirklich zu akzeptieren. „Lieber ins Hostel begeben, als in einem dieser Busse zu sterben, die auf der Autobahn verunglücken.", höre ich eine selbstbewusste Stimme hinter mir sagen.

Das Mädchen mit den roten Haaren hat recht. Der Bus hält, die Busfahrerin steigt aus. Gespannt warte ich darauf, wie es weitergehen könnte. Die Bustür öffnet sich wenige Minuten später  stellt sie sich mitten in den Gang: „Es sind mehrere Doppelzimmer und sämtliche Vierer- und Sechserzimmer zu vergeben. Bitte füllen Sie zunächst die Formulare aus, danach würde ich Sie bitten sich im Foyer zu versammeln."
Es regnet nach wie vor, jedoch nicht mehr so stark wie zu Beginn der Fahrt. Nichts desto Trotz ist mittlerweile dunkel, windig und kalt. Aus dem Fenster mustere ich das Hostel, welches von außen jedenfalls ganz ok aussieht. Das wird dann wohl heute nichts mehr mit duschen in meiner Wohnung und ins Bett einkuscheln mit einem Tee.
Alle Fahrgäste geben die ausgefüllten Formulare ab und steigen aus, ich begebe mich auf direktem Wege zum Foyer. Dort setze ich mich auf ein Sofa, das rothaarige Mädchen setzt sich auf einen Stuhl in meine Nähe. Hinter ihr der Junge mit den weißen Haaren und seinem großen Koffer, er scheint zu telefonieren und schaut dabei ständig auf den Boden. Er blickt in meine Richtung und setzt sich neben mich auf das Sofa ohne mich dabei anzuschauen und beendet das Telefonat. In diesem Moment wage ich einen Blick zu dem Mädchen, sie lächelt mich an. „Wollen wir uns ein Zimmer teilen?", fragt sie mich. „Klar, können wir machen.", antworte ich erleichtert. Ich bin froh, dass sie mich gefragt hat.
Die Busfahrerin schlägt vor, die Doppelzimmer den älteren Personen zu überlassen und die jüngeren in die großen Zimmer einzuteilen. Das Mädchen teilt ihr mit, dass sie und ich in ein Zimmer möchten. Ein anderer Junge, er scheint noch recht jung zu sein, klinkt sich mit ein. Das Mädchen wendet sich auch zu dem Jungen neben mir auf dem Sofa. „Möchtest du auch mit zu uns? Dann können wir ein Viererzimmer nehmen."
Er nickt und lächelt. Ich mustere seine Hände. Silberne Ringe und schwarzer Nagellack zieren sämtliche seiner Finger. Er schaut zu mir, als benötige er mein Einverständnis. „Also gut.", sage ich und lasse mir die Schlüssel geben.

Silver Warmth ~ MexifyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt