Falls sich jemand fragt warum meine Wikinger den weiten Weg in die Normandie unternommen haben und nicht in das viel nähere England gereist sind hier eine kleine Erläuterung: Zu ihrem heutigen Namen kam die Normandie im Mittelalter als Heimstatt der Normannen, die sich als Volksstamm aus einheimischen „französischen“ Bewohnern und hinzugekommenen Wikingern gebildet hatten. Nach Ausweis der Sprach- und Ortsnamenforschung stammte die Mehrzahl der ansässig gewordenen Wikinger aus Dänemark, ein kleinerer Teil aus Norwegen.
Lucian 6
Erschrocken fuhr ich aus dem Schlaf hoch, als ich die riesige Pranke auf meiner Schulter spürte. Ich setzte mich ruckartig auf dem weichen Lager auf und panisch wanderte mein Blick durch den schwach beleuchteten Raum. Bis ich Ragnars blaue Augen fand. Er überragte mich selbst noch im Hocken. Gänsehaut überzog meine Arme bei der Erkenntnis das ich mit dem großen Krieger vollkommen allein war. Und Angst stieg wie bittere Galle in meine Kehle empor, als mir bewusst wurde das Jerome nicht mehr an meiner Seite war.
Eingeschüchtert wand ich meinen Blick von Ragnars intensiven Starren ab und dieser huschte sehnsüchtig zu der offenen Tür, durch die warmes Sonnenlicht strömte. Ich hörte fröhliche Stimmen und das helle Lachen eines Mädchens. Diese alltäglichen Geräusche beruhigten mich ein wenig und ich nahm allen Mut zusammen meinen Herren zu fragen. „Wo ist Jerome?“ Meine Stimme klang rau und heiser. Ragnar lachte leise bei dem kläglichen Laut und legte beschwichtigend seine schwielige Hand auf meine Schulter. Ich konnte spüren wie sich die Hitze seines Körpers durch den groben Stoff meiner Mönchskutte fraß.
„Sorge dich nicht um ihn. Er ist mit den Mägden Wasser holen.“ antwortete er freundlich und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Ich erhob mich ebenfalls und schob die Strohmatratze in die dafür vorgesehene Ecke damit sie am Tage niemanden im Weg war. Meine Finger krallten sich unsicher in die Falten meines Gewandes und ich kam mir seltsam entblößt vor, als ich mich an das fehlen des dicken Stricks um meine Leibesmitte erinnerte. Der braune Stoff stand wie ein Zelt von mir ab und ich fühlte mich weibisch und war mir meiner Blöße darunter nur allzu bewusst.
„Lucian setzt dich zu mir.“ bedeutete mir der große Wikinger, der es sich bereits bequem in einem herrschaftlichen Stuhl gemacht hatte. Vorsichtig lies ich mich auf einer schmalen Bank neben ihm nieder und beäugte sehnsüchtig die köstlich duftenden Speisen die wild verstreut auf dem Tisch standen. Ragnar folgte meinem Blick und ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen. „Greif zu.“ sagte er aufmunternd. „Am Ende der Bank liegt Kleidung für dich, welche besser geeignet ist für die Arbeit auf dem Hof und die Felder.“ Ich nickte dankbar und nahm mir zögerlich ein Stück Brot.
Der blonde Hüne beobachtete eine geraume Zeit lang wie ich verstohlen das weiche Brot aß und einen Becher Wasser trank. Ich getraute mir nicht mehr zu nehmen, denn ich befürchtete es könnte jeden Moment vorbei sein mit seiner Freundlichkeit. Doch er lehnte sich nur weiter vor und betrachtete mich nachdenklich. „Kein Wunder das ihr so leicht zu besiegen wart, wenn ihr nur esst wie die Mäuse.“ murmelte er zu sich selbst. Er erhob sich kopfschüttelnd und ging in den Rückwärtigen Teil des Langhauses. Erst als der breitschultrige Mann die Vorhänge beiseite schob erkannte ich das sich dort noch ein weiterer Raum verbarg. Wahrscheinlich damit sich Ragnar und seine Familie von den gewöhnlichen Mägden und Knechten zurück ziehen konnten. Ein weiteres Indiz für seine gehobene Stellung und sein Vermögen.
Ich nutzte seine Abwesenheit und schlüpfte hastig in die braunen Beinlinge und das grobe Hemd. Grade als ich mir das schlichte ausgeblichene Wams über den Kopf streifte kehrte Ragnar zurück. „Schau an, unter den weibischen Gewand steckt doch ein Junge. Ich war doch etwas unsicher geworden was das anbelangt.“ grinste er amüsiert.
DU LIEST GERADE
Ice Blue
Historical FictionRagnar Lodbrock fällt mit seinen Wikingern in der Normandie ein und plündert dort ein kleines Fischerdorf und das angrenzende Kloster. Doch er ahnt nicht welch kostbare Beute ihm bei diesem Raubzug in die Hände fallen wird. Und sein ganzes bisherige...