"Wir Menschen sind wie ein Vogelschwarm. Wir fliegen nur falsch, um uns gegenseitig allen Windschatten zu geben, ohne einander können wir nicht fliegen. In unserem Schwarm musste ich vorne fliegen, ohne das mich jemand ablöste. Deswegen bin ich abge...
"Was ist schon Vernunft gegen Wagemut, wenn letzteres einfach mehr Spaß macht?"
~Davin
Der Ton klang panisch. Atemlos. Als wäre etwas nicht in Ordnung. Und das beunruhigte mich. Schreie hörte ich öfters. Irgendwelche Besoffenen, die was anstellten. Doch diesmal war es anders. Die Tonlage des Schreies gefiel mir nicht. Wo der bloß herkam? Ich rollte mich aus meinem Bett.
Meine Füße trippelten leise über den Boden, die morschen Dielen gaben ab und zu ein verräterisches Knarzen von sich. Zu versuchen, so wenig Lärm wie möglich zu machen, war quasi unmöglich.
Nachts hörte man bei uns zwar immer irgendetwas, aber das war nicht so laut, wie zum Beispiel ein Topf, der einem runterknallte. Das war mir ab und zu schon passiert, als ich mir nur ein Wasser holen wollte.
Mein Vater war einmal erschrocken aufgesprungen, und hatte sich die Blumenvase geschnappt, die auf dem Couchtisch vor sich hin gammelte. Er war kurz davor gewesen das Ding auf den vermeintlichen Einbrecher zu werfen. Ich hatte ihn damals gerade noch stoppen können.
Zum Glück nicht heute. Damals hatte er nur ein ersticktes „Davin" hervorgebracht und war auf der Stelle wieder eingeschlafen.
Das Geräusch kam von der Straße. Ich schlüpfte in meine Schuhe und schnappte mir den Wohnungsschlüssel vom Holzboard. Gerade wollte ich schon aus der Tür gehen, da fiel mir meine Jacke ein. Ich schnappte sie mir vom Haken und versuchte so leise wie möglich die Wohnungstür zu schließen.
Meine Neugierde hatte mir nicht einmal Zeit gelassen, mich umzuziehen. Egal. Ich wollte wissen, was es mit diesen Schreien auf sich hatte. Normalerweise machte ich mir darüber keine Gedanken. Doch heute war es anders. Eine Intuition.
Ich rannte so leise wie möglich die Steintreppen hinunter. Teilweise ließ ich drei oder mehr Stufen aus, ich sprang eher, als dass ich rannte.
An der Haustür blieb ich stehen. Mein Atem raste, genauso wie mein Herz. Doch Zeit hatte ich keine. Die Schreie waren leiser geworden, dennoch waren sie zu hören. Das Blut rauschte in meinen Ohren.
Das automatische Licht ging aus. Na toll. Jetzt musste ich mich erst wieder bewegen, um etwas zu sehen.
Doch das konnte ich jetzt nicht riskieren. Ich spürte, dass die Ursache der Schreie nicht weit entfernt sein konnte. Es war sicherer, wenn mich vorerst niemand sah. Meine Hand legte sich auf meinen Mund, um ein in mir aufsteigendes Husten zu unterdrücken.
Irgendwie musste ich doch was tun. Ich sah mich im dunklen Flur um. Brachte mir relativ wenig. Egal. Eine Waffe könnte ich gut gebrauchen. Das Einzige was ich bei mir hatte, war der Schlüssel. Im Notfall könnte man den doch gut jemanden gegen den Kopf schmeißen. Würde wahrscheinlich im Ernstfall trotzdem nichts bringen.
Am Schlüssel waren nur der Haustürschlüssel, mein Fahrradschlossschlüssel und so ein alberner Laserpointer befestigt. Vielleicht würde der mir etwas Licht spenden.
Ich drückte auf den Knopf und ließ den roten Punkt des Pointers durchs Treppenhaus schweifen. So viel mehr erkannte ich dadurch zwar auch nicht, aber zumindest ein bisschen was. Vor der Tür der Solitas, unserer Nachbarn, stand ein Regenschirm. Immerhin.
Ich bewegte mich langsam darauf zu. Irgendwie war es mir zu riskant geworden, das automatische Licht auszulösen. Meine Hand griff nach dem Regenschirm. Prinzipiell war das Diebstahl, aber es ging nicht anders.
Die Schreie, die ich einer Frau zuordnen würde, kamen nämlich näher. Ich bewegte mich langsam, aber auch lauernd, auf die Haustür zurück. Fehler durfte ich mir jetzt keine mehr erlauben.
Ich hörte eine Stimme. Sie schrie irgendetwas. Ich konnte nur Wortfetzen wie „Hör auf!" verstehen.
Selber wusste ich auch nicht, warum ich die Sache so interessant oder halt bedrohlich fand. Irgendetwas war damit. Etwas, was ich nicht zuordnen konnte.
Irgendwie wollte ich auf der Stelle wissen, was los war. Meine Neugierde trieb mich voran. Den Regenschirm unter dem Arm geklemmt, öffnete ich die Tür. Gerade mal einen Spalt weit. So, dass ich was sehen konnte, mich aber niemand sah. Gut. Was jetzt?
Ich spähte nach draußen. Zu erkennen waren zwei Personen, die ich nicht identifizieren konnte. Noch nicht.
Ich vergrößerte den Schlitz. Warum war es bloß so dunkel? Die Schreie der Frau waren im Moment nicht zu hören. Ich starrte weiterhin angespannt durch den Schlitz.
Ein Klirren durchbrach die Stille. Als wäre etwas heruntergefallen, ein Glas oder so. Komisch. Die Straßenlaterne, die eigentlich als einzige Aufgabe hatte, zu beleuchten, war auch kaputt. Schon seit drei Monaten brachte einem das olle Ding nichts, Vandalen hatten es zerstört.
Jeder Fleck hier hatte eine Geschichte. Wortwörtlich genommen, der weiße Farbklecks auf dem Bürgersteig zum Beispiel. Da hatte ich mal aus Versehen einen Farbeimer von der Fensterbank geschmissen. Das Wohnzimmerfenster war offen gewesen, welches nicht mehr ordentlich schloss.
Der Farbeimer war zwar nicht tief gefallen, hatte aber trotzdem seinen Inhalt verkippt. Hatte niemanden gejuckt, der Fleck war, glaube ich, auch niemandem aufgefallen.
Die Tür quietschte leise. Scheiße. Ich hatte, in Gedanken versunken, nicht mehr dran gedacht. Dass ich hier an der Tür stand.
Meine Entschlossenheit herauszufinden, was los war, war von einem Moment auf den anderen weg. Nicht gut.
Es sah bestimmt komisch aus, wie ich da so unentschlossen stand, durch die Tür spähte und nichts tat, Wenn jetzt jemand kommen würde.
Ich war vollkommen ratlos. Alles war irgendwie aus meinem Kopf verschwunden. Ach was soll's, mach die Tür auf und zieh durch, dachte sich die wagemutige Seite von mir.
What the fuck, wurdest du irgendwie von dem Minzgestank von Verenas (oder Veras, wie sie sich nannte) Kaugummis benebelt?, fragte sich die vernünftige Seite von mir.
Ich höre jetzt auf die wagemutige Seite, beschloss ich. Ha, Problem gelöst. Niemals die Vernünftige nehmen, die bringt einem sowieso nie was, dachte ich mir mit einem Lächeln. Was ist schon Vernunft gegen Wagemut?
Ich schnappte mir die Türklinke und drückte, so leise wie möglich, die Tür vollständig auf. Die Personen waren nur noch ungefähr 17 Meter von mir entfernt. Zwei Personen und ich war alleine. Na toll. Davin, 16 Jahre, hat nichts besseres zu tun, als zu versuchen irgendwelchen Leuten zu helfen.
Die er noch nicht mal kannte. Ich pirschte mich auf nicht ganz so leisen Sohlen näher ran.
Ein lautes „Lass mich los!" kam von der einen Person. Frauenstimme, ungefähr 35 Jahre alt. Ich konnte die zwei Personen nur schemenhaft erkennen, bei der anderen Person tippte ich allerdings, rein der Silhouette nach, auf einen Mann. Nicht ganz klein, aber auch kein Riese.
Ich musterte die beiden leise. Sie hatten mich noch nicht bemerkt.
Und plötzlich geschah alles ganz schnell.
Ein Auto näherte sich, die Scheinwerfer beleuchteten die zwei Personen und ich blickte in zwei Augen. In zwei sehr bekannte Augen.
Es waren die verquollenen Augen meines eigenen Vaters.
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