Funkstille

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Drei Tage waren vergangen, seit Keigo mit Dabi im Bett gelandet war. Nachdem der Schwarzhaarige die Wohnung verlassen hatte, reagierte sein Körper, wie erwartet. All die Gefühle, Gedanken und Panik kam mit einem Mal und entrissen ihm die Sicherheit, in der er sich wiegte. Keigo wusste nicht wieso, weshalb oder warum, aber Dabi schien mit seiner bloßen Anwesenheit die Dinger leichter zu machen. Selbst dann, wenn er ihn vorher bis an seine Grenzen trieb.
Wie sollte er sich sonst erklären, dass er den Schurken immer wieder in seine Wohnung ließ, dass er ihm sowohl einen geblasen, als auch mit ihm geschlafen hatte. Der Alltag blieb weiterhin sehr schwierig, während ihm diese Ausnahmesituationen so viel leichter erschienen, wenn der Größere anwesend war.

Als Keigo an diesem Abend die Tür ins Schloss fallen hörte, kam alles, was sich an diesem Abend angestaut hatte, in ihm hoch. Die Tränen liefen ihm über die noch erhitzten Wangen, fielen auf seine blassen Schenkel und er fantasierte währenddessen über seinen möglichen Tod. Dennoch fühlte es sich an wie ein Fortschritt, denn eine Panikattacke war doch besser, als mehrere, dachte er sich... im Nachhinein. Die unausweichliche, verfluchte 10... Dabi hatte es darauf angelegt, er wusste also worauf er sich einlassen würde und das konnte Keigo sich nicht im geringsten erklären.

Der heutige Tag begann besser als die vorherigen. Einer der Gründe war, das die Schmerzen in seinem Hintern endlich nachgelassen hatten und er sich wieder bewegen konnte ohne sich zu krümmen. Natürlich hatte er direkt am Tag nach der besagten Nacht ein Treffen mit Endeavor und es war ihm ziemlich schwergefallen, sich nichts anmerken zu lassen. Keigo war sich sogar ziemlich sicher, das der Rothaarige bemerkt hatte, wie er sein Gesicht verzog, als er sich setzte. Endeavor besaß aber die nötige Reife, oder es war ihm auch einfach schlichtweg egal, was oder mit wem er es trieb, weswegen er es einfach ignorierte.

Nachdem Keigo etwas gegessen und geduscht hatte machte er sich schließlich auf den Weg zur Patrouille. Als er mit den Händen in den Hosentaschen durch die Straßen lief, schweiften seine Gedanken wieder einmal ab. Ihm fiel auf, das er sich nicht mehr daran erinnerte worüber Dabi an dem besagten Abend reden wollte, er hatte ihn schließlich unterbrochen und gebeten zu gehen. Dennoch kamen sie nicht mehr auf das Thema zurück und in den vergangenen Tagen meldete sich der Schwarzhaarige auch nicht noch einmal bei ihm.

Grelles Gekreische holte ihn aus seinen Gedanken, er ging sofort in Angriffsposition, umsonst, wie er nüchtern feststellte. Vor ihm standen einige Frauen, deren Augen förmlich funkelten, als sie ihn ansahen. Sie kreischten und tuschelten, bis eine von ihnen direkt auf ihn zukam, um nach einem Foto zu fragen. Keigo nickte freundlich, er war es inzwischen gewohnt, es gehörte beinahe zum Alltag.
Leider waren die Damen wenig gnädig und veranstalteten eine wahre Fotosession mit jeder Menge Gruppenbildern und Selfies. Keigo tat vom Lächeln bereits der Kiefer weh und als sich ihm eine der jungen Frauen an den Hals schmiss, verflog es gänzlich.
›Entschuldigen Sie, bitte lassen Sie mich los‹, versuchte er freundlich aus dieser unangenehmen Situation zu entfliehen, aber die Dame dachte nicht daran seiner Bitte nachzukommen.
Keigo griff nach ihren Armen, entfernte sie von seinem Hals.
›Bitte, fassen Sie mich nicht an‹, die Worte hatten einen bitteren Beigeschmack, was auch der Frau nicht entging.
›Pfh, was für ein Arsch bist du denn?‹, sie sah ihn abfällig von oben bis unten an und dann stampfte sie davon. Immerhin folgte ihr die restliche Weiberschar, dachte sich der Blonde.

Er atmete einmal erleichtert aus.. „Fünf", dachte er sich.
Seit Dabi mit diesem System begonnen hatte, nutze er es in den letzten Tagen häufiger. Es besänftigte seine sonstigen Gedanken, wenn er sich sofort eingestand, wie schlimm es in diesem Moment um ihn stand.
Er setze seinen Weg fort und die Zeit verging wie im Flug. Als die Hälfte des Arbeitstages rum war, wechselte er in seine geliebte Vogelperspektive. Hier oben würde ihn niemand um ein Foto bitten, ihn ansprechen oder gar berühren. Es war auch einfach stets beruhigend für ihn über die Dächer zu fliegen und in die glücklichen Gesichter der Bewohner zu blicken. Er beendete den Tag ohne weitere Vorkommnisse. Wann hatte er das letzte Mal eine Patrouille ohne irgendeinen Aufruhr erlebt? Während er eine Antwort auf diese Frage suchte, stand er auf einem Dach und genoss die frische Luft.

Eine Sache ließ ihm über den Tag dennoch keine Ruhe und so zog er sein Handy aus der Jackentasche, um sogleich den Chat mit Dabi zu öffnen. Er selbst war es, der die letzte Nachricht verfasst hatte. Seine Finger schwebten ein paar mal über das Ziffernblatt, bevor er wirklich zu schreiben begann. Er Löschte mehrere Male den Text und begann von vorne, bevor er seine Nachricht abschickte.

„Guten Abend, mir ist aufgefallen, das wir nicht mehr über dein Anliegen gesprochen haben. Wollen wir das nachholen? Hawks"

Dabi saß auf einem alten Gemäuer, sah dabei zu, wie ein paar Diebe in seinen blauen Flammen aufgingen. Man konnte meinen, Schurken anwerben wäre keine seiner Stärken. Sein Handy vibrierte und er zog es aus seinem Mantel, ohne den Blick von seinem Kunstwerk abzuwenden. Erst als nichts mehr von den Anderen übrig war, senkte er seinen Blick.
Er las den Namen immer und immer wieder, bis sich das Handy wieder sperrte. Erneut entsperrte er den Bildschirm und öffnete die eingegangene Nachricht.

Was sollte er darauf antworten? Es gab kein Anliegen, es gab nie eins. Wahrscheinlich war es sogar besser gewesen, das sie an dem Abend nicht weiter darüber sprachen. Sonst hätte er sich irgendwann um Kopf und Kragen geredet und das hasste er abgrundtief. Außerdem verspürte er eine gewissen Reue. Auch wenn Dabi es nie zugeben würde, so bereute er es ein klein wenig, was er dem Kleineren an jenem Abend angetan hatte. Er hatte, wie schon beim ersten Mal, einfach die Situation ausgenutzt und sich von seinen Trieben leiten lassen. Über diese eine Grenze hatte er zwar nachgedacht, aber all die Gedanken sogleich wieder über Bord geworfen. Er ließ ihn leiden und erfreute sich daran, aber nicht auf die Art und Weise, wie wenn er Möchtegern-Schurken in Flammen aufgehen ließ. Sondern er fand einfach Gefallen daran, dass Keigo ihm gehorchte, dass er mehr Macht über ihn hatte, als diese Phobie, die sein Leben bestimmte.
Er entschied sich dazu, ihm einfach nicht zu antworten. Immerhin war er ihm ja auch keinerlei Antwort schuldig.

Keigo war inzwischen Zuhause, da er heute mehr als pünktlich in den Feierabend gehen konnte. Er hatte sich dazu entschieden den Abend mit einem Bier in der Hand vor dem Fernseher ausklingen zu lassen.
Er setzte sich aufs Sofa, kuschelte sich in eine Decke und zappte durch das Programm. Er blieb an einer Dokumentation über Helden hängen.
›Ach... Was solls‹, nuschelte er zu sich selbst und ließ seinen Blick derweil auf das Glas auf seinem Couchtisch fallen. Er hatte sich angewöhnt Getränke in Gläser zu füllen und mit einer extra dafür vorgesehen Abdeckung zu bedecken. So verhinderte er das irgendwelche Unreinheiten in sein Getränk gelangen konnten.
Doch heute... fühlte sich das nicht ausreichend an. Er sah stirnrunzelnd zu seinem Bier, dachte mehrmals daran zuzugreifen, aber konnte es schlichtweg nicht.
Er rieb mit seinem rechten Daumen über seine Fingerspitzen. Ein Zeichen seiner Unsicherheit. „Drei", ging es ihm dabei durch den Kopf.

Dieses Phänomen konnte er in den darauffolgenden Tagen immer wieder beobachten. Vorsichtsmaßnahmen, die ihm sonst durch den Tag halfen, wurden neu bewertet. Reichten sie aus, um ihn zu schützen?

Nach einer weiteren Woche ging es Keigo zunehmend schlechter, mehrmals am Tag kam er bis zur 5. Bei Dingen, die er sonst als „leicht" abtat, kam er ins Grübeln und seine Gedanken kreisten wie wild. Außerdem hatte sich der Schwarzhaarige seit jenem Tag nicht mehr bei ihm gemeldet, hatte er irgendwas herausgefunden? Misstraute er ihm oder wollte er ihn einfach nicht sehen? Keigo hatte ihm noch zwei weitere Nachrichten geschrieben, aber er erhielt keinerlei Reaktion von Dabi. Das belastete ihn, da er nicht einschätzen konnte, was der Schwarzhaarige als Nächstes vorhaben könnte.

Inzwischen waren mehr als vier Wochen vergangen, in denen sich Dabi nicht gemeldet hatte. Keigo gab es ebenfalls auf den Kontakt zu suchen und so herrschte einige Zeit komplette Funkstille zwischen den Beiden.

Keigo litt derzeit unter heftigen Schüben seiner Mysophobie. Er konnte nicht sagen, was genau der Auslöser war, aber er schaffte es nicht einmal mehr seinen Alltag ohne weiteres zu meistern. Fast täglich kämpft er inzwischen mit Panikattacken. Wegen Dingen, die er vorher als nichtig empfunden hätte, oder maximal mit einer 3 bewertet und zusammengebissenen Zähnen überwunden hätte.

Er brauchte Hilfe, sonst würde bald jeder in der Agentur Bescheid wissen und dann würde es wohl auch jedem der Top 10 zu Ohren kommen.
Sein Assistent wusste, wie es derzeit um ihn stand. Zu oft benötigte er in den letzten Wochen eine Auszeit oder musste früher Feierabend machen, einfach, weil er während der Arbeit das Gefühl hatte zu ersticken. Bei einem Kampf hatte er vor kurzem seine Handschuhe verloren und auch seine Jacke wurde stark beschädigt. Als das Adrenalin danach verschwand, bekam er Herzrasen und Schnappatmung. Ihm wurde so schwindelig, das er ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.
Dank seines Assistenten hatte niemand etwas mitbekommen, aber das durfte keineswegs sein neuer Alltag werden. Nicht nachdem er sich das alles so mühselig aufgebaut hatte.

Keigo hatte sich einen Termin bei einem Therapeuten besorgt. Beziehungsweise sein Assistent hatte ihm diesen besorgt. „Das geht so nicht weiter, Hawks", dachte er an dessen Worte, als er vor dem Gebäude stand, wo ihn sein Handynavi hingeführt hatte.
Leider sah es nicht so aus, als würde hier jemand eine Praxis führen. Er entschloss sich, das Gebäude einmal zu umrunden, vielleicht fand er den Eingang. Er bog in eine Seitengasse ein, aber nichts wies auf die gewünschte Adresse hin.

›Suchst du jemanden?‹, drang es fragend an seine Ohren und er wollte die Chance nutzen, um nach dem Weg zu fragen. Als er sich aber umdrehte und direkt in ein bekanntes, türkises Augenpaar sah, stockte ihm der Atem.
›Da..Dabi?‹, er runzelte fragend die Stirn, seine Stimme klang fast heiser und Dabi zog skeptisch die Braue hoch.
›Du suchst mich?...Gefunden‹, erwiderte er monoton und Keigo schüttelte verlegen den Kopf.
›Was machst du hier?‹, er wich dem Blick des Größeren aus, aber im selben Moment sprachen sie Beide.
›Nachforschungen‹
Dabi sah sich um, er wollte gar nicht das der Blonde ihn bemerkte, aber es gefiel ihm nicht, wie er durch diese abgelegene Gasse wanderte. Er hatte ihm zwar in den letzten Wochen keinerlei persönliche Beachtung geschenkt, aber er hatte ihn gewiss nicht aus den Augen gelassen.

›Also, Vögelchen? Seit wann treibst du dich wieder in solchen Gassen rum?‹, er sah ausdruckslos an ihm vorbei.
Keigo überlegte einen Moment, ob er Dabi wirklich erzählen sollte, wie es ihm erging.
›Ich habe einen Termin, aber scheinbar hat mich mein Handy an den falschen Ort geschickt‹, entschied er sich für die halbe Wahrheit. Dabi antwortete ihm nicht, aber das war Keigo inzwischen gewohnt.

›Nächste Woche treffen wir uns hier, es gibt Neuigkeiten‹, er zückte sein Handy und schickte Hawks per SMS einen Standort. Keigos Blick ruhte derweil auf dem Mobilgerät und ein Ziehen machte sich in seiner Brust bemerkbar. Er hatte seine Nachrichten also wirklich ignoriert, stellte der Blonde etwas wehmütig fest. Erst danach realisierte er die Aussage des Schwarzhaarigen
›Du kommst nicht zu mir?‹, seine Stimme klang überraschter als gewollt, Dabi blinzelte und sah ihn wieder direkt an.
›Nein‹, erwiderte er trocken und machte kehrt, blieb aber nochmal kurz stehen.

›Der Eingang für die Praxis ist dort vorn, bis nächste Woche‹, sprach er und verschwand.
Keigo sah ihn noch einen Moment hinterher, dann drehte er sich um. Woher? Er sah an dem alten Gemäuer des Hauses ein großes Plakat, welches seine Frage sogleich beantwortete. Er war wirklich leicht zu durchschauen. Er betrat die Praxis, meldete sich bei der Schwester an und nahm im Wartebereich noch einen Moment Platz. Keigo nahm sein Handy und begann die erhaltene Adresse in sein Navi einzugeben.

›Das ist doch ein schlechter Scherz...‹, murmelte er ungläubig. Das wäre in seiner derzeitigen Verfassung wohl eine..7, dachte er sich.

Liebe oder Abhängigkeit?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt