𝟸𝚑 𝟶𝟸𝚖𝚒𝚗 𝚟𝚎𝚛𝚋𝚕𝚎𝚒𝚋𝚎𝚗𝚍
„Hattest du nicht noch diesen großen, klobigen Schlüssel, oder hast du den auch verloren?", fragte Finnie, während sie in einem dunklen Gang, der drohte, sich jede Minute erneut umzustrukturieren, mit verstärkten Armen vor einer der massiven, verschlossenen Türen stand. „Groß und klobig. Wundervoll, wie präzise du doch bist. Sieht ja nur so aus wie etwa die Hälfte aller anderen Schlüssel, die du in den letzten sechsundneunzig Stunden aufgehoben hast. Und nur zu deiner Erinnerung, ich habe nichts verloren.", hallte es in ihrem Kopf wieder. „Ach ja? Dann verschwindet das ganze Zeug also auf magische Weise?" „Ja! Ich bin hier eingesperrt und habe alles vor mir liegen. Etwas zu verlieren ist so ziemlich unmöglich." Finnie konnte sich Narus selbstgefälliges Grinsen schon ausmalen, dabei hatte sie noch nicht einmal ein Gesicht vor Augen. Sie kniff sich in die Nasenwurzel und sagte, diesmal dringlicher: „Du willst doch hier raus, nicht? Dann gib mir endlich den verdammten Schlüssel. Nimm einfach die drei breitesten, die du siehst." Kurz darauf erschienen drei rostige, alte Schlüssel in Finnies Handfläche, woraufhin sie alle der Reihe nach testete. „Geh doch auf...", murmelte sie leise und drückte sich gegen die Tür, in der Hoffnung, dass sie sich so leichter öffnen ließ. Vergebens.
„Was kannst du eigentlich?" „So als hättest du das besser gekonnt! Die Tür klemmt." „Vielleicht könnte ich es besser, wer weiß. Du kennst mich nicht, vielleicht bin ich eine muskelbepackte Weltmeisterin im Gewichtheben." Finnie schnaufte und warf sich erneut mit voller Wucht gegen die Tür. Tatsächlich bewegte sie sich diesmal und die Blondine stolperte in den Raum hinein. „Oh fuck!" „Was ist? Was siehst du?" „Nichts, nichts neues. Ich bin jetzt wieder bei diesen unheimlichen Uhren." „Schon wieder?" „Höre ich da etwa vage Besorgnis heraus?", lachte Finnie amüsiert und rappelte sich auf. „Nein.", kam es entnervt zurück: „Ohne dich komme ich nur nicht aus diesem Raum heraus. Du darfst mir hier nicht wegsterben, solange wir nicht den Ausgang gefunden haben." Auch Finnie hörte nun auf, vor sich hin zu grinsen. Es war seltsam. Alles an diesem Ort war seltsam. Vor genau achtundneunzig Stunden war Finnie auf einem der vier Sofas in der großen Lobby eines zehnstöckigen Hochhauses aufgewacht, alle Türen und Fenster verriegelt und unmöglich einzuschlagen - das hatte sie getestet. Weder die Pagen, noch der junge Mann an der Rezeption waren ansprechbar. Shit, sie bewegten sich ja nicht einmal. Und zu allem Überfluss hatte Finnie auch noch plötzlich diese fremde Stimme im Kopf. Naru, auf der anderen Seite, wachte zur selben Zeit in einem dunklen, scheinbar schalldichten Raum auf, in dem nur ein einziges Licht hoch oben an der Decke existierte. So hoch, dass Naru nicht einmal die Quelle identifizieren konnte. Sie hatte versucht, eine Tür zu finden, doch jedes mal, wenn sie von dem Licht in die Dunkelheit trat, kam sie nach einiger Zeit immer wieder dahin zurück, wo ihre Suche angefangen hatte. Ein unendlicher Schattenraum, so nannte sie es. Als die beiden Mädchen bemerkt hatten, dass sie miteinander kommunizieren konnten, war beiden ihre Mission bewusst: Findet einander und entkommt zusammen. Sie waren sich nicht sicher, warum sie es machten. Keine von ihnen kannte die andere und ihnen wurde diese Aufgabe auch nicht aufgetragen. Es gab keine Hinweise oder Schriften. Nur die kleine rote Anzeige, die innen am Handgelenk aufleuchtete, zeigte ihnen einen ablaufenden Countdown. Um ehrlich zu sein, wussten sie nicht einmal, wie sie darauf kamen.
„Was glaubst du, wird passieren, wenn die Zeit abläuft?", fragte Naru. „Ich denke mal, dann ist erstmal Game Over für uns. Vielleicht werden wir sterben. Vielleicht sind wir schon tot und das ist eine Art Vorhölle. Wer weiß das schon?", antwortete Finnie und konzentrierte sich dabei, vorsichtig auf das zerbrechliche Glas zu steigen, das in dem nächsten Raum boxartig gestapelt durch mehrere Treppenkomplexe zu einem schmalen Schacht mit der nächsten Tür führte. „Fuck!", fluchte sie, als das Glas unter ihrem rechten Fuß zersprang und eine Scherbe ihren Knöchel bluten ließ. Nichtsdestotrotz kletterte sie weiter an den Boxen, mal größer mal kleiner, hinauf und erreichte - wenn auch mit ein paar Kratzern - den Schacht. Keuchend lehnte sie sich in dem schmalen Gang zurück und betrachtete die Wunden, die sie an Händen und Füßen davongetragen hatte. „Meine Fresse, je höher ich in den Etagen komme, desto demolierter verlasse ich sie.", zischte sie. „Falls du jetzt ein Pflaster oder so willst, ich habe keins." Finnie lachte bitter und entgegnete sarkastisch: „Ich bin zutiefst getroffen. Dabei hätte ich jetzt gehofft, dass du dein T-Shirt zerreißt und mir einen Fetzen als Bandage sendest." „Träum weiter, wir sind hier nicht in einem verdammten Film und ich bin nicht deine edle Heldin im roten Cape." „Ach wirklich nicht? Das ganze fühlt sich nämlich gerade genau so an wie ein schlechter Actionfilm." Naru schwieg daraufhin, nach ein paar Minuten fragte sie: „Kannst du weiter? Ich weiß du bist verletzt und ich möchte dich auch nur ungern daran erinnern, aber die Zeit rennt. Wir haben nur noch etwa eineinhalb Stunden." „Ja ja, ich weiß. Der Flur am Ende des Schachts ist übrigens dunkelrot tapeziert." „Version 5 also. Weißt du, in welchem Stockwerk du bist?" Finnie humpelte zu dem defekten Aufzug, 10. Stock. „Das ist das einzige Stockwerk, das wir noch nicht ganz untersucht haben, oder?", fragte sie. „Ja. Du musst noch die Zimmer 87 und 88 untersuchen. Dann sind keine mehr übrig." „Was ist eigentlich, wenn-„ „Fang erst gar nicht damit an! Du wirst mich finden." Einen tiefen Atemzug nehmend ging Finnie auf Zimmer Nummer 87 zu, als sie bemerkte, dass die Tür bereits einen Spalt offen stand und ein weißes Licht heraustreten ließ. Sie überlegte kurz, erstmal zu der anderen Tür zu gehen, doch dann spürte sie plötzlich, wie ein Luftzug aus dem Spalt pustete. Sie hoffte nicht auf einen Ausgang, nicht mehr. Zu oft wurde sie enttäuscht, von Zimmern, in denen ein Unwetter tobte oder von Räumen, die scheinbar einen Garten, draußen zeigten, der im Endeffekt aber doch nur eine Illusion war. Sie zog überrascht die Augenbrauen hoch. In diesem Raum war es windstill. Hatte sie sich die leichte Brise nur eingebildet? „Wahrscheinlich hast du das." Finnie zuckte zusammen. „Habe ich das eben laut gesagt?" „Ja, du murmelst manchmal, aber das ist jetzt egal. Was siehst du?" „Oh, stimmt. Hier ist auf jeden Fall wieder dieses kleine Mädchen." „Gruselig. Ist die wirklich in jedem Stockwerk?" „Scheinbar." „Ist diesmal irgendwas anders? Bei dem Kind meine ich." „Sie trägt immer noch ein Kleid, das die gleiche Farbe hat, wie der Anstrich im Flur. Sie ist immer noch blond und spielt immer noch mit ihrem Kuscheltier-Schwan. Nope, nichts hat sich verändert." „Ich nehme an, du kannst immer noch nicht mit ihr reden?" „Hey, du.", sagte Finnie, nun an das Mädchen gerichtet. Keine Reaktion.
Enttäuscht verließ sie den Raum und achtete dies mal darauf, dass die Tür vollständig geschlossen war. „Raum 88 also.", murmelte sie, und drückte die Klinke herunter. Verschlossen. „Nur weil 87 offen war, hattest du doch nicht erwartet, dass alle Türen plötzlich offen sind, oder?", stachelte Naru. „Für jemanden in deiner Lage bist du ziemlich überheblich, weißt du das? Du solltest etwas netter sein. Immerhin hängt deine Freiheit von mir ab.", entgegnete Finnie. „Und du solltest dich beeilen. Wir haben noch vierzig Minuten. „Was?!" „Ich weiß auch nicht recht, wie die Zeit so schnell vergangen ist. Als du in dem Raum mit dem Mädchen warst, hat sich das Tempo des Countdowns urplötzlich erhöht." „Das ist neu... Hey Naru, kannst du mir den dreieckigen Schlüssel geben?" „Den, den du in diesem Fledermausbild gefunden hast?" "Ja." Als Finnie die Tür öffnete, erschrak sie. Jenseits der Tür war kein Zimmer. Sie konnte den Flur sehen, in dem sie sich gerade befand und sie konnte sich selbst sehen, wie sie auf der anderen Seite im Türrahmen stand. Aber das wohl erschreckendste, dass sie sah, war wohl die Tür Nummer 87, die einen Spalt offen stand.
Schnell trat sie in den „zweiten" Flur, lief auf die Tür zu und riss sie energisch auf. Wieder war es die gleiche Szene: Das kleine Mädchen, das in einem weißen Raum sitzend mit ihrem Kuscheltier spielte. Finnies Herz hämmerte schnell in ihrer Brust, als sie es nicht mehr aushielt: „WAS IST DEIN PROBLEM?!", schrie sie das kleine Mädchen an, rannte auf sie zu und packte sie an den Schultern. Doch egal wie stark sie sie schüttelte, das Mädchen sah sie nicht mal an. „Scheiße, Scheiße, Scheiße!" Finnie fasste sich an die Stirn. „Ist das hier ein fucking Scherz? Findest du das witzig?" Immer noch keine Reaktion. „Ist das hier die Hölle? Ist d- Das muss die Hölle sein. Das ist es, ich bin schon tot, ic-" Riesige Eisgraue Augen bohrten sich plötzlich in Finnies Seele und ließen sie augenblicklich verstummen. Eine zarte Stimme sprach: „Wie kannst du denn tot sein, wenn du nie gelebt hast?"
Finnie brachte nicht einmal eine Antwort zustande. Alles was sie tun konnte, war, sprachlos in die halbtoten Augen des Kindes zu starren. Als sie bemerkte, dass das Mädchen ihre Hand hob, sah sie ein Armband, mit der Aufschrift „WINNY" drauf. „Danke, dass du mit mir gespielt hast." Die Tonlage des Mädchens war monoton, doch ihr Mund verzog sich zu einem leichten, kaum sichtbaren und doch so herzzerreißenden Lächeln und plötzlich wirkte sie ganz alt. Dann deutete sie mit dem Kopf nach unten, dahin, wo Finnie nun den Plüschtier-Schwann hielt. Beim genaueren Hinsehen bemerkte sie einen kleinen Reißverschluss, den sie mit zitternder Hand herunterzog. „Ein Schlüssel...", stellte Finnie atemlos fest. Ihre Gedanken waren wirr. Die Stille so unerträglich, so erdrückend laut. Sie bemerkte nicht, dass Naru nicht mehr mit ihr sprach. Und sie bemerkte auch nicht, dass sich die Wände um sie herum schwarz färbten. Das einzige, was sie bemerkte, war wie das Mädchen ihre dicken, blonden Haare hochband und Finnie umarmte, sodass sich das winzige Schlüsselloch im Nacken des Kindes offenbarte, kaum groß genug, um es zu sehen. Finnie atmete also zum letzten Mal tief ein, und drehte den Schlüssel um. Dann verschwand sie.
Winda Wilson (†54), 2021
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Save me - as long as you can
NouvellesZwei Fremde, 100 Stunden Zeit. Beide in einem leeren Hochhaus eingesperrt und es gibt nur einen einzigen Weg heraus: Einander zu finden und zu retten. Wer hätte gedacht, dass ein kleines Mädchen dies so schwer macht.