15. Türchen

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I Will Catch You If You Fall

„Wir können doch nicht einfach weglaufen!" – „Harry, wir sind doch keine Kinder mehr.", antwortet Louis ihm und zieht ihn mit sich mit. Sie sind eigentlich mit ihren Familien gemeinsam auf dem Weihnachtsmarkt, aber Louis kam gerade auf die grandiose Idee Schlittschuhlaufen zu gehen (auch auf dem Weihnachtsmarkt versteht sich). „Du vergisst vielleicht, dass ich zwei Jahre jünger bin als du." – „Du bist zwölf, wo ist das Problem, mhm?" – „Wir haben nicht Bescheid gesagt.", antwortet Harry ihm und sieht sich um. Er sieht weder seine noch Louis' Familie irgendwo. Das kann nicht gut gehen.

„Komm schon.", fordert Louis und Harry seufzt. Er will nicht allein hier auf dem großen Weihnachtsmarkt herumirren. „Wenn du ehrlich zu dir selbst bist, willst du doch auch Eislaufen, oder nicht?" Harry zögert einen Moment, kann aber nicht verhindern zu grinsen, als er auf die Eisbahn zu ihrer Linken schaut. „Du kannst mich nicht anlügen, Haz.", schmunzelt der Ältere und zieht seinen besten Freund weiter. Sie müssen nur wenige Minuten warten, bis sie sich die Tickets holen können. „Oh Mist, ich hab kein Geld mehr, Louis. Ich hab mein letztes Taschengeld gerade für Poffertjes ausgegeben.", bemerkt der Gelockte und seufzt traurig. „Ich habe schon bezahlt, mach dir deswegen keine Sorgen.", lächelt Louis und gibt Harry seine Eintrittskarte. „Komm, wir müssen uns noch Schlittschuhe ausleihen."

Wenig später sieht der Jüngere etwas unbeholfen auf seine Schuhe. „Lou?" – „Du bekommst sie nicht fest genug zugeschnürt, habe ich recht?" Harry schnaubt nur und verschränkt die Arme vor der Brust. „Idiot.", antwortet er nur, aber da hat Louis sich längst vor ihn gekniet und zieht die Schnürsenkel fest. „Danke.", sagt Harry schüchtern und fragt sich, wieso seine Wangen plötzlich so warm sind. Wieso sollte er schon rot werden, es ist doch nur Louis, der hier vor ihm kniet? Schnell verdrängt er diese Gedanken wieder und lässt sich von seinem besten Freund in die Vertikale ziehen. „Bereit?" Harry nickt lächelnd. Ihre Schuhe verstauen sie in einem der Spinde und dann laufen sie zur Bande.

Sie beide können so gut Schlittschuhlaufen, dass sie vorwärts kommen und nicht hinfallen, aber das kümmert sie nicht. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen – jedenfalls sagt Harrys Mum das immer. Es ist schon dunkel draußen und die Lichterketten und warmen leuchtenden Lampen rund um die Eisbahn tauchen die Szene in ein romantisches Winterwunderland. Harry liebt es hier, er liebt Weihnachten generell, nicht nur den Weihnachtsmarkt. Aber er freut sich jedes Jahr besonders darauf, mit Louis herzukommen und Kinderpunsch mit ihm zu trinken. Es ist fast schon eine Tradition. Das erste Mal waren sie vor vier Jahren mit ihren Familien hier. Harry war damals neu in der Schule, gerade in der ersten Klasse, und Louis hat sich seiner sofort angenommen.

Sie kannten sich nicht, aber als Harry es einige Tage nach der Einschulung geschafft hat, seinen Schulranzen zu verlegen und partout nicht wiederzufinden, hat Louis ihn angesprochen und so haben sie fast eine Stunde das gesamte Schulgebäude durchforstet, nur um zu merken, dass er die ganze Zeit vor Harrys Klasse unter seiner Jacke lag. Louis konnte nicht anders, als den neuen Jungen anzusprechen, immerhin wusste er ganz genau, wie schwierig die ersten Tage in der Schule sein können.

Seitdem sind sie unzertrennlich (was nicht zuletzt daran liegt, dass sie zufälliger Weise auf der gleichen Straße Wohnen und entsprechend fast jeden Nachmittag miteinander verbringen). Dass sie zwei Jahre trennen, stört keinen der beiden und wirklich darüber nachdenken, tun sie ebenfalls nicht. Wieso sollten sie auch?

Louis singt leise die Weihnachtsmusik mit, die im Hintergrund gespielt wird und Harry überlegt, ob es Louis wohl beim Eislaufen stören würde, wenn er seine Hand nähme. Wieso er es machen möchte, kann er selbst nicht sagen, aber ist da wichtig? Vermutlich nicht. Sie fahren um den großen Brunnen in der Mitte herum, als Louis plötzlich auf die Idee kommt, er könnte doch ausprobieren, ob er rückwärtsfahren kann. „Ich glaube nicht, dass du das hinbekommst.", kichert Harry und hält sich an der Bande fest. „Doch, das schaffe ich!", betont Louis noch einmal und wartet ab, bis hinter ihm niemand mehr ist. „Und was ist, wenn du hinfällst?" – „Wieso sollte ich?" – „Du bist doch noch nie rückwährts Schlittschuh gefahren." – „Na und?", grinst Louis und tatsächlich, es klappt. Harry beobachtet ihn glücklich und fährt auf ihn zu. „Ich bin ein Naturtalent." – „Natürlich, Lou.", antwortet Harry ironisch und Louis grinst breit. Er ist glücklich, wenn Harry glücklich ist. Das hat er schon vor einiger Zeit herausgefunden.

„Jetzt du!", fordert Louis und bremst mehr oder weniger gekonnt. „Was? Nein, vergiss es!" – „So schwierig ist das nicht." – „Mhm." – „Versprochen, Haz!", versucht Louis ihn zu überzeugen. Harry ist skeptisch. Was ist, wenn er hinfällt? Als könnte Louis seine Gedanken lesen, sagt dieser plötzlich: „Ich fange dich auf." – „Und das soll ich dir glauben?" – „Du wirst nicht fallen. Und wenn, dann fällst du eben auf mich.", erwidert Louis schulterzuckend und immer noch unschlüssig, ob das so eine gute Entscheidung ist, dreht Harry sich um.

„Und jetzt?" – „Rückwärtsfahren." – „Haha.", antwortet Harry trocken. Louis kann nicht anders, als ihn amüsiert anzusehen. Dann greift er spontan nach Harrys Hüfte. „Ich schiebe dich einfach am Anfang an, okay?" – „Äh... ja.", zögert Harry und legt augenblicklich seine Hände auf Louis' Schultern, als dieser sich in Bewegung setzt.

„Siehst du? Klappt doch gut." – „Ich mache gar nichts, das kann man nicht wirklich Eislaufen nennen.", überlegt Harry laut. „Gut, dann fang an.", fordert Louis und löst seine Hände von Harrys Hüfte. Stattdessen verschränkt er spontan ihre Finger miteinander. Harrys Herz macht einen Hüpfer. Aber wieso nur? Er versucht sich zu konzentrieren. Louis achtet gleichzeitig auf ihn und darauf, dass er niemanden umfährt.

„Du kannst es, Haz!", freut er sich und Harry lacht glücklich. Stimmt, er kann es. Sie gleiten noch wenige Minuten über die Eisfläche.

„Louis!" – „Harry!", hören sie plötzlich ihre Mütter laut rufen. Harry zuckt erschrocken zusammen und erinnert sich augenblicklich daran, dass sie gar nicht hier sein dürften. Dadurch verliert er das Gleichgewicht. Aber er fällt nicht hin, zumindest nicht auf den harten Boden. Louis hat sich zwar auch erschrocken, aber augenblicklich galt seine Aufmerksamkeit wieder Harry. Ohne weiter darüber nachzudenken hat er ihn zu sich gezogen und so ist Harry auf ihn gefallen. Er liegt auf dem Rücken auf dem Eis und hält den Jungen in seinen Armen.

„Ich sag doch, wenn du fällst, fange ich dich auf.", grinst er und ignoriert seinen schmerzenden Po. Harry sieht zu Louis hoch. „Du hast mich wirklich aufgefangen." – „Hast du etwa daran gezweifelt? Ich werde dich immer auffangen, das habe ich dir versprochen.", erwidert Louis grinsend. Das was Harry als nächstes macht ist mehr als nur unüberlegt. Man könnte schon fast behaupten, es ist instinktiv, als er Louis einen Eskimokuss gibt. „Harry!", hört er seine Mutter erneut rufen. Oh Mist.

„Es war meine Idee, ich habe ihn überredet.", sagt Louis sofort zu Harrys Mum, als sie am Rand der Eisfläche ankommen. „Ihr beiden kommt da sofort wieder herunter!", befiehlt Louis' Mutter. Auch, wenn beide mächtig Ärger bekommen, so ist Harry sehr glücklich, dass er doch mit Louis auf die Eisfläche gegangen ist, anstatt den erwachsenen bei ihren langweiligen Gesprächen zuzuhören.

Und wer weiß. Vielleicht haben sie sich einige Jahre später auf dieser Eisfläche erneut geküsst – nur war es dann kein Eskimokuss, sondern ein französischer Kuss.

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