Er weiß, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt.
Ich kann es ihm ansehen – der Ausdruck in seinen Augen, die Art, wie er die Finger in seine vor der Brust verschränkten Arme krallt.
Er weiß, dass ich hier bin. Bei ihm, ganz nah. Auch, wenn er mich im Moment nicht sehen kann.
Wo genau ich mich befinde weiß er nicht, aber das ist auch nicht wichtig. Das gehört zum Spiel.
Wie langweilig wäre es, wenn meine Freunde all meine Tricks bereits kennen würden, meine Verstecke, die verborgenen Wege auf denen ich ihnen folgen kann, ohne selbst in ihr Blickfeld zu geraten. Wenn sie immer wüssten, wie nahe ich ihnen bin, ohne, dass sie auch nur den Hauch einer Ahnung von meiner Anwesenheit haben.
Seine Lippen bewegen sich leicht, formen stumme Worte. Sein Blick huscht über die Wände, die Decke, den Boden, flackernd vor Nervosität und Verzweiflung.
Ich bin so nah, dass ich seinen Atem hören kann. Und er sieht mich nicht.
Ich spiele dieses Spiel bereits seit Jahren. Fehler, die dafür sorgen, dass meine Freunde mich entdecken, bevor ich es will, mache ich schon lange nicht mehr. Jede meiner Handlungen ist geplant, jeder Schritt genau durchdacht.
Ich habe gelernt, das Verhalten der Leute im Vorraus einzuschätzen. Weiß, wer leicht zu beeinflussen ist, und in welchen Fällen ich mehr Mühe invenstieren muss. Es ist gar nicht so schwierig, jemanden zu durchschauen, wenn man die Muster im Verhalten erst einmal begriffen hat.
Ein Schluchzen reißt mich aus meinen nahezu nostalgischen Gedanken, lenkt meine Aufmerksamkeit zurück auf meinen Spielpartner.
Er ist auf die Knie gesunken und kauert nun auf den verwitterten Dielen, starrt mit weit aufgerissenen Augen seine Hände an.
Als sähe er das Blut, das daran klebt, zum ersten Mal.
Es ist immer wieder amüsant, zuzusehen, wie jene Menschen, die da draußen in ihrer gewohnten Umgebung so selbstbewusst auftreten und in dem Glauben agieren, absolut alles unter Kontrolle zu haben, in Situationen wie dieser brechen, als wären sie aus Glas.
Zugegeben, es ist nachvollziehbar.
Mein Freund, der nun so verängstigt dahockt und nichts mehr mit der Person gemein hat, der ich vor ein paar Tagen in der Stadt begegnet bin, muss nun verarbeiten, dass er Dinge getan hat, von denen er nie geglaubt hätte, dass er dazu in der Lage sein würde.
“Ich werde das ganz sicher nicht tun!”, hatte er gesagt, mit zittriger Stimme und entschlossenem Blick.
Und keine halbe Stunde später hatte er über dem Körper seines besten Freundes gestanden und die Klinge des Messers immer wieder in dessen Hals gestochen.
Entschlossenheit und Glaube, zu etwas nicht in der Lage zu sein, oder zumindest stark genug zu sein, diesem Drang wiederstehen zu können, sind vollkommen bedeutungslos.
Wie gesagt, ich spiele schon lange; und ich spiele fair.
Jemand, der wirklich nicht tun will, was ich von ihm verlange, der kann sich auch dagegen zur Wehr setzen.
Ich kann die Menschen manipulieren, in ihren Kopf eindringen, ihre Psyche verbiegen und verformen – aber ich kann sie nicht vollends kontrollieren. Natürlich weiß ich, was ich tue, weiß, wie ich es am besten tue.
Aber trotzdem hat jeder eine Chance. Sie müssen nicht tun, was ich ihnen sage. Sie hätten nichts zu befürchten, wenn sie sich weigern; so funktioniert das Spiel nicht, sie könnten einfach gehen. Den Drang in sich ignorieren, sich einfach abwenden und verschwinden, ihr normales Leben weiterleben als wäre nichts geschehen.
Aber das hat noch nie jemand getan. Sie alle haben nachgegeben.
Manche Leute sagen, dass jeder Mensch, egal, wie er sich gibt und was er selbst von sich denkt, in sich das Potenzial hat, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Dass es bloß eine Frage der Umstände ist, verschiedener Faktoren, die zusammenkommen, bei jedem unterschiedlich, doch im Ergebnis stets gleich. Jeder könnte dazu gebracht werden, jemand anderen zu töten.
Nun, meinen eigenen Erfahrungen nach ist diese Annahme absolut korrekt.
Sie haben es alle getan, jeder einzelne meiner Freunde, egal, wie sicher sie sich zu Beginn auch gewesen waren, widerstehen zu können.
Die junge Frau, die ihrem Vater mit einer Axt den Schädel spaltete.
Der Mann, der seinem Bruder drei mal in den Kopf schoss, nachdem er vorher immer wieder beteuert hatte, wie nah die beiden sich doch standen.
Die treue Ehefrau, die voller Wut mit einem Hammer auf ihren Mann einschlug, wieder und wieder, bis von seinem Gesicht nicht mehr übrig war als eine Masse aus Blut, Fleisch, Hirnmasse und Knochensplittern.
Ich habe unzählige Beispiele wie diese.
Gewöhnliche Menschen, mit Familien, Freunden, einem Job. Manche von ihnen waren bisher in ihrem Leben nicht einmal in eine Schlägerei verwickelt, haben niemals jemandem etwas zuleide getan.
Doch sobald sie das Ticken hören vergessen sie all ihre Vorsätze.
Freundschaft, Liebe, Familie, das alles verliert jegliche Bedeutung. Der Drang, zu töten, ist tief in ihnen verwurzelt, und er bahnt sich seinen Weg und reißt jeglichen Widerstand mit sich wie eine Sturmflut.
Mein Freund, der noch immer fassungslos seine Hände anstarrt, hatte gelacht, als ich ihm erklärt hatte, was passieren würde. Er hatte mich nicht ernst genommen, geglaubt, ich würde Witze machen, oder ich wäre einfach irgendein verzweifelter Typ, der sein Geld wollte und sonst nichts, und dann, als ihm bewusst geworden was, dass das alles wirklich passierte, dass er hier war, in diesem verlassenen Haus, gefesselt an einen Stuhl, und dass das kein Scherz irgendwelcher Freunde von ihm war die mich bezahlten, um ihm einen Schrecken einzujagen, hatte er begonnen, mich zu beleidigen.
Er hatte mich einen gestörten Freak genannt, einen kranken Bastard.
Unhöflich, ja. Aber ich bin es gewohnt.
So werden die Menschen, wenn sie begreifen, dass ihnen der Boden unter den Füßen weggerissen wurde, dass sie sich in einer Situation befinden, die sie weder begreifen noch kontrollieren können. Wie wilde Tiere kratzen und beißen sie, fauchen und spucken.
Wer jetzt wohl der gestörte Freak hier ist?
Ich bin nicht derjenige, an dessen Händen Blut klebt, neben dem das Messer liegt, mit dem vor kurzer Zeit ein lebendiger Mensch in einen Leichnam verwandelt worden war, dessen Kopf durch die angewandte Brutalität beinahe vom Körper abgetrennt worden war.
Ich habe ihn lediglich darum gebeten, es zu tun, mit ruhiger Stimme und meiner Taschenuhr, die ich meinem Freund dabei vors Gesicht gehalten habe, damit er das Ticken besser hören konnte.
Habe dafür gesorgt, dass er sich beruhigte, damit ich ihm die Fesseln abnehmen konnte.
Später, als er seinen besten Freund vorgefunden hatte, ebenfalls gefesselt an einen Stuhl, nicht wissend, dass ich mich wieder unmittelbar in seiner Nähe befand, habe ich ihn das Ticken erneut hören lassen.
Und er hat das Messer genommen, ohne eine weitere Aufforderung.
Das Ausmaß der Wut, die in den Stichen lag, der Ausdruck auf dem Gesicht meines Freundes, ließen in mir die Vermutung aufkeimen, dass irgendetwas in der Vergangenheit der beiden vorgefallen sein musste, dass das Band der Freundschaft beschädigt worden war.
Ein alter Streit vielleicht, oder Eifersucht wegen irgendeiner Frau.
Wie tragisch. Die beiden würden sich niemals mehr darüber aussprechen können.
Nachdenklich betrachte ich meinen Freund, während ich eine Hand in die Tasche meines Mantels schiebe.
Ich hätte ihm zugetraut, dass er es schafft. Dass er meinen Worten widerstehen würde, sich nicht auf den Klang des Tickens einlassen würde. Ich war mir keinesfalls sicher gewesen, dass dem so wäre, aber es hätte mich nicht überrascht.
Aber am Ende war er nicht anders gewesen als all die anderen. Der Drang, zu töten, war in ihm, und als er die Möglichkeit bekommen hatte, sich aus den Fesseln von sozialen Normen und Gesetzen loszureißen und zu handeln, war jegliches zuvor vorhandene Sträuben dagegen zerbrochen.
Er war wie jeder andere. Nicht nur bereit, zu töten, sondern begierig darauf lauernd. Auch wenn er jetzt, im Nachhinein, wo er das Ticken nicht mehr hören konnte, geschockt davon zu sein schien.
“Wie schade”, murmle ich, gerade laut genug, dass er mich hören muss.
Er zuckt zusammen, stößt einen leisen Schrei aus. Rappelt sich auf und wirft wieder hektische Blicke um sich, versuchend, die Quelle meiner Stimme ausfindig zu machen, aber ohne Erfolg.
Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. Gleichzeitig ziehe ich die Taschenuhr aus meiner Tasche.
Ich gebe mir keine Mühe, leise zu sein, während ich durch den Hohlraum unter den Dielen krieche, meinen Freund dabei weiterhin beobachtend.
Das Spiel neigt sich dem Ende zu. Es gibt keinen Grund mehr, leise zu sein.
Dumpfe Schläge schallen durch den Raum, als Fäuste gegen die verriegelte Tür hämmern und dabei die modrigen Wände zum Beben bringen.
Er sollte wissen, dass dieses Unterfangen sinnlos ist, er hat es schon vorher probiert, bevor er in seine vorübergehende Starre nach dem Mord an seinem Freund verfallen war.
Die Tür ist verschlossen. Die Fenster verriegelt.
Es gibt keinen Ausweg für ihn.
Die Bodenluke knarrt, als ich sie öffne, und sofort fährt er herum und starrt mich an. Ich kann sehen, wie ihm Tränen übers Gesicht laufen, seine weit aufgerissenen Augen gerötet, die Unterlippe blutig gebissen.
Wie wenig Zeit es doch braucht, um aus einem gewöhnliches Menschen ein verstörtes, mentales Wrack zu machen.
Einige Sekunden lang steht er einfach bloß da. Betrachtet mich, und scheint gleichzeitig durch mich hindurchzusehen, als wäre ich nichts weiter als eine Kreatur aus einem bösen Traum.
Ja, vielleicht denkt er sich in diesem Moment genau das. Dass das alles hier bloß das ist – ein Alptraum, aus dem er jeden Moment erwachen wird, die Augen öffnen und sehen, dass alles gut ist.
Ich verstehe diesen Gedanken. Ich habe mir auch oft gewünscht, einfach aufwachen zu können, und mich in einem normalen Leben wiederzufinden; ein Leben, von dem ich früher einmal geglaubt habe, dass ich es haben könnte.
Aber es wird kein Erwachen geben. Nicht für mich, und nicht für ihn.
Für niemanden von uns gibt es ein Happy End; ich werde weitermachen wie bisher, und für ihn wird es überhaupt kein Erwachen mehr geben, wenn das hier vorbei ist. Niemals mehr.
Mein Lächeln wird ein wenig breiter, während ich meine Hand hebe und die Taschenuhr aufziehe. Einen Moment lang herrscht Stille, dann beginnt es.
Tick. Tick. Tick.
Die Angst, die eben noch das Gesicht meines Freundes gezeichnet hat, verschwindet auf einen Schlag. Sein Blick wird stumpf, seine zuvor so angespannten Muskeln erschlaffen.
Ausdruckslos betrachtet er mich, jede Spur von Panik oder auch Kampfbereitschaft ist verschwunden.
Ich genieße die Situation eine Weile, bevor ich die letzte Runde des Spiels einläute.
“Nimm das Messer.”
Wortlos gehorcht er. Geht zurück in die Mitte des Raumes, dorthin, wo noch immer die Leiche seines Freundes liegt, doch diesmal würdigt er ihr keines Blickes. Hebt einfach das Messer auf, betrachtet es kurz, und dreht sich dann wieder zu mir.
Zufrieden nicke ich.
“Gut, sehr gut. Jetzt halte es dir an den Hals. An der Seite, etwas unterhalb deiner Kieferknochen.”
Er erwidert nichts. Folgt einfach meinen Anweisungen. So, wie sie es alle tun.
“Gut”, wiederhole ich. Mein Blick ruht auf der Klinge, ich wage kaum, zu blinzeln, aus Angst, etwas zu verpassen. Die Uhr in meiner Hand tickt weiter.
Wieder lasse ich etwas Zeit verstreichen, bevor ich schließlich und endlich meine letzte Aufforderung hervorbringe: “Jetzt drück das Messer in deinen Hals und schneide dir die Kehle durch.”
Kein Zögern. Kein letzter Versuch, sich dem Drang zu widersetzen, die Macht des Tickens zu bekämpfen, auszubrechen aus dem, von dem der Geist denkt, dass es der eigene Wille ist.
Er schneidet langsam, aber ohne Pause. Blut läuft ihm aus dem Mund, er beginnt zu röcheln und zu gurgeln, das Messer fällt ihm aus der Hand und zu Boden, dicht gefolgt von seinem Körper.
Er ringt nach Aten, die Glieder zucken, aber das sind bloß Reflexe, der instinktive Lebenswille, der immer aufzutreten scheint, wenn es bereits zu spät ist.
Egal, sie bereitwillig sie zuvor auch meinen Anweisungen Folge geleistet haben, in den letzten Sekunden auf dieser Erde überkommt sie alle noch einmal das Bedürfnis, zu kämpfen.
Zu spät. Es kommt jedes Mal zu spät.
Ich sehe zu, wie die Bewegungen schwächer werden, die Geräusche allmählich verstummen.
Es war ein gutes Spiel, auch, wenn meine Hoffnungen, einen ebenbürtigen Mitspieler gefunden zu haben, ein weiteres Mal enttäuscht wurden. Aber das ist nicht schlimm. Ich habe trotzdem meinen Spaß.
Während ich die Taschenuhr zurück in meinem Mantel verstaue, denke ich darüber nach, was ich als nächsten tun soll. Ich brauche einen neuen Freund; nicht sofort, aber ich sollte mir schon einmal überlegen, wo ich als nächstes suchen will.
In einer Bar oder einem Café? In einer Bibliothek, im Kino, einfach im Supermarkt? So viele Möglichkeiten…
Ich weiß es noch nicht. Ich werde darüber nachdenken, aber wie gesagt, es eilt nicht. Ich werde schon jemanden finden, das ist ganz sicher.
Und wenn diese Person dann das Ticken hört, ist es bereits zu spät für sie.
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Darkness of Mind
Short StoryEine Sammlung meiner über die Jahre entstandenen Kurzgeschichten. Genres: Horror, Thriller, Drama, Trauriges Eventuelle Triggerwarnungen werden vor den entsprechenden Kapiteln eingefügt.