Wieso siehst du mich nicht?
Ich bin ständig bei dir. Bin so oft in deiner Nähe.
Ich beobachte dich, wenn du an deinem Schreibtisch sitzt und deine Hausaufgaben machst. Wenn du auf der Couch sitzt und an deiner Konsole spielst, wenn du auf deinem Bett liegst und deine Bücher liest.
Ich weiß, dass du sehr viel liest. Dass du es liebst, in fremde Welten einzutauchen, der Realität zu entfliehen, die für dich so viel Schmerz bedeutet...
Ich weiß, wie du behandelt wirst, in der Schule und auch von deinem älteren Bruder. Dass sie sich über dich lustig machen, dich beleidigen, dich herumschubsen.
Ich wünschte, ich könnte dir helfen...
Wenn du mich doch bloß sehen würdest!
Ich bin ständig in deiner Nähe. Zuhause, in der Schule, in dem Café, in das du so gerne gehst um einen Kaffee zu trinken und deine Ruhe zu haben vor der grausamen Welt. Ich sehe, wie du an deinem Lieblingsplatz am Fenster sitzt, wieder einmal ein Buch in der Hand, neben dir die dampfende Tasse.
Ich möchte dir noch näher sein. Aber ich stehe bloß hier draußen, beobachte dich, lege manchmal meine Hand an das Glas, weil ich mir einbilde, so einen Hauch der Berührung deiner Haut empfinden zu können.
Aber du siehst mich nicht.
Manchmal, einige sehr wenige Male, in denen ich den Mut hatte aufbringen können, habe ich deinen Namen gerufen. Ich wollte so sehr, dass du mich endlich siehst, mich wahrnimmst, mit mir redest.
Erkennst, dass du nicht so einsam bist, wie du glaubst. Du bist alles für mich! Das weiß ich, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe.
Doch du hörst mich nicht. Du siehst mich nicht.
Aber manchmal, da scheinst du dich beobachtet zu fühlen. Dann stehst du von deinem Bett oder dem Sofa auf und gehst zum Fenster, oder du stellst deine Kaffeetasse beiseite und siehst nach draußen auf die Straße.
Als würdest du spüren, dass dort jemand ist. Jemand, der dich sieht. Dich wirklich sieht.
Und jedes Mal, wenn du das tust, hoffe ich, dass es jetzt endlich so weit ist. Dass du endlich auf mich aufmerksam wirst, mich wahrnimmst, erkennst, dass ich immer bei dir bin...
Und jedes Mal aufs Neue werde ich wieder enttäuscht.
Denn du siehst immer nur zum Fenster.
Niemals zu den Spiegeln.
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Darkness of Mind
Short StoryEine Sammlung meiner über die Jahre entstandenen Kurzgeschichten. Genres: Horror, Thriller, Drama, Trauriges Eventuelle Triggerwarnungen werden vor den entsprechenden Kapiteln eingefügt.