Kapitel 3

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So böse der Bauer auch war, in einem behielt er Recht: Es gab wirklich sehr viele Kaninchen.

Ein paar Kilometer von dem Kaninchenbau entfernt – es war in der Zivilisation – lebte ein Kaninchen, das komplett anders aussah als die kleinen wilden Tiere. Aber das Erschreckendste war: Es war eingesperrt, und das nicht seit kurzem, sondern schon sein ganzes Leben lang. Es hatte zwar einen recht großen Stall mit Außengehege, beides stand in einem Garten, aber trotzdem zu wenig Platz. Es konnte nicht rasend schnell und hakenschlagend durch die Gegend rennen, allerhöchstens im Kreis und in den Stall rein und wieder raus. Das Kaninchen war schwarz mit weißem Bauch und hieß Bommel. Bommel gehörte, sofern man das so sagen konnte, einem kleinen Mädchen. Dieses kümmerte sich gut um ihn, aber eines gefiel ihm nicht: Manches Mal jagte es ihn durch den Stall, weil es ihn hochnehmen und streicheln wollte. Dann hatte das schwarze Kaninchen ziemliche Angst. Wenn es erst mal auf dem Arm seiner Besitzerin war, ging es ihm schon besser, aber er hasste es, eingefangen zu werden. Er glaubte immer und immer wieder, ein Raubtier sei hinter ihm her, obwohl er den Anfang solcher Streicheleinheiten schon so oft erlebt hatte. Auch wenn das Mädchen noch so nett war und ihn noch so sehr liebte, Bommel konnte nicht mehr. Er wollte nicht mehr eingesperrt sein. Er musste hier raus. Am nächsten Morgen saß er vor dem Draht, der seinen Bereich umzäunte und überlegte: Wie stelle ich es am besten an? Sollte ich vielleicht den Draht durchknabbern? Wenn ich mit meinen Krallen ein wenig nachhelfe, könnte es doch funktionieren. Die Möglichkeit, sich unter dem Draht durch zu buddeln bestand nicht, da das Gehege sogar unter der Erde mit Draht ausgelegt war, damit kein Kaninchen raus konnte. Frustriert saß das Kaninchen da, hinter dem Draht. Einen langen Tunnel hatte er sich, so gut es ging, schon gegraben. Er hatte sogar einen Mitbewohner, er hieß Kasimir und war braun-weiß gefleckt. Doch ihn störte es nicht im Geringsten, hier zu wohnen, auch wenn das Heim doch so klein war.

Plötzlich hatte Bommel eine Idee. Eine sehr gute Idee, wie er fand. Das musste einfach funktionieren.

Manchmal erlaubte das junge Mädchen ihnen, frei im Garten herum zu hoppeln. Das war für Kasimir und Bommel immer das Größte. Wäre es nicht am allereinfachsten, da einfach wegzulaufen? Im Nachbargarten gab es einen Schuppen, der jedoch nicht bis auf dem Boden verschlossen war. Zwischen Boden und Wand war ein Spalt, der hoch genug war, dass Bommel hindurchschlüpfen konnte. Er hatte es schon einmal ausprobiert. Aber er hatte seine Ausbrüche bisher noch nie richtig durchziehen können, da er sich nie richtig angestrengt hatte und deshalb immer wieder eingefangen wurde. Er hatte es auch immer eher aus Spaß gemacht. Aber beim nächsten Mal würde es der Ernstfall sein. Bommel würde sich von niemandem mehr fangen lassen, auch wenn das bedeutete, dass er damit seinen Freund Kasimir verlassen musste. Kasimir konnte auch ein gutes Leben ohne ihn führen, da war sich Bommel ganz sicher. Die Menschenfamilie würde ihm bestimmt einen neuen Freund kaufen, wenn Bommel erstmal weg war. Er wusste auch, dass er dem kleinen Mädchen durch sein Verschwinden höchstwahrscheinlich das Herz brechen würde, aber jetzt ging es mal nur um ihn und darum, was er brauchte. Es war schon viel zu lange um sie gegangen. Die ganze Zeit, in der Bommel hier eingesperrt war.

Schoki musste zu Sissi. Er fand, es war allerhöchste Zeit, neuen Nachwuchs zu zeugen. Der Letzte war schon lange ausgezogen. Da sie gerade nicht nebeneinander grasten, hoppelte er auf seine Partnerin zu. Weil Kaninchen das normalerweise so machten, fragte er nicht groß, als er bei ihr war, sondern versuchte gleich, auf ihren Rücken zu springen und ihr in den Nacken zu beißen. Um sich zu paaren, mussten die männlichen Kaninchen ihnen erst auf den Rücken springen. Dann kam die nächste Aufgabe, nämlich, ihnen anschließend in den Nacken zu beißen. Dann fielen die männlichen Tiere leicht vom Rücken der Weibchen ab, wenn sie es geschafft hatten, eine Eizelle des Weibchens zu befruchten.

Leider war Sissi alles andere als begeistert über Schokis rücksichtslosen Überfall. Empört und erschrocken unterbrach sie ihr Frühstück und hoppelte davon. Bei Sissi war es sehr kompliziert, fand Schoki. Damit hatte er schon längst Bekanntschaft gemacht. „Ich nehme solche Rücksicht auf dich, und lasse dich schlafen, weil ich weiß, dass du nicht gerne geweckt wirst, und du? Was machst du?", schimpfte Sissi, während sie davonlief. Doch Schoki ließ sich nicht einschüchtern und rannte einfach hinter dem Weibchen her. „Du schleichst dich an mich heran, während ich fresse und springst dann ohne Vorwarnung auf meinen Rücken und versuchst dann auch noch, nicht zuletzt, mir in den Nacken zu beißen?! Du weißt, wie sehr ich das hasse. Und ja, ich weiß, was du vorhast. Ich bereue es jetzt schon, dass ich auf dich Rücksicht genommen habe."

Schoki ließ sie einfach weiterschimpfen und kümmerte sich nicht die Bohne darum. Er war es schon gewohnt, ausgeschimpft zu werden, wenn er versuchen wollte, Kinder zu erzeugen. Er schlich sich immer heimlich an und sprang dann auf ihren Rücken, weil er bei Sissi anders eh nichts erreichen konnte. Das war noch die einfachste Möglichkeit. Aber das weibliche Kaninchen ließ es nicht etwa nicht zu, weil sie ihn nicht leiden konnte, sondern weil sie furchtbare Angst hatte. Sie hatte Angst, wenn jemand auf ihrem Rücken saß, außerdem hatte sie Angst davor, in den Nacken gebissen zu werden.

Es war wie eine Verfolgungsjagd. Sissi flitzte vorne weg, Schoki raste hinter ihr her. Sie hatten nur einen geringen Abstand zwischen sich.

Falls das Mädchen sich jedoch dazu entscheiden sollte, ihn und Kasimir nicht mehr frei in den Garten zu lassen, hatte Bommel einen anderen Plan geschmiedet: Wenn sie ihn zum Streicheln einfing, setzte sie ihn manchmal auf eine Bank, entweder hinten im Garten oder vorne im Vorgarten. Von dort aus konnte er mit Leichtigkeit herunterspringen, wenn seine Besitzerin ihn nicht festhielt. Er musste die passende Situation abwarten, aber er war sich sicher, dass er es schaffen konnte. Er musste es schaffen. Kasimir wusste nichts von den geheimen Plänen seines Freundes. Er hatte auch nicht vor, abzuhauen. Er fand es sehr schön hier und fand es auch nicht schlimm, eingesperrt zu sein, da er es ja nicht anders kannte. Er mochte das junge Mädchen und fand, sie bekamen immer sehr leckeres Futter. Auch einfangen ließ er sich gut, er war sehr zahm. So kam es auch, dass das Mädchen Kasimir öfter einfing als Bommel. Der treue, zahme Kasimir hatte auch noch nie einen Ausbruch versucht, wenn er frei in den Garten durfte. Er war immer brav geblieben und, so dachte er, würde auch immer brav bleiben. Er war einfach anders. Aber Bommel würde sich nicht mal von seinem besten Freund daran hindern lassen, abzuhauen.

Schoki war immer noch mit seiner Verfolgungsjagd beschäftigt, er hatte Sissi schon fast eingeholt. Die anderen hatten mittlerweile von ihrem Futter aufgeschaut um nachzusehen, was los war. Aber keiner von ihnen dachte auch nur daran, seine Mahlzeit zu unterbrechen um ebenfalls Kinder zu zeugen. Nun hatte Schoki seine Partnerin endlich eingeholt. Sie war darüber gar nicht begeistert, aber trotzdem sprang Schoki rücksichtslos auf ihren Rücken. Und er hatte Erfolg: Gegen Sissis starken Protest bekam er schließlich doch seinen Willen. In ein paar Wochen bekamen sie also Junge. Hoffentlich empfand die Mutter das auch als schöne Aussichten. Das Männchen fiel nun vom Rücken des Weibchens ab, was bedeutete, dass er es geschafft hatte. Was für ein Erfolg, wie Schoki fand. Er jedenfalls war zufrieden mit seiner Arbeit. Sissi war sehr erleichtert, endlich in Ruhe gelassen zu werden. Zufrieden wandte sie sich wieder ihrem Frühstück zu, das soeben unterbrochen worden war. Bald jedoch würde sie merken, was aus dem soeben vergangenen Akt geworden war. Sissi rupfte eine große, gelbe Löwenzahnblume von der Wiese und fraß sie anschließend schmatzend. Als nächstes waren dann erstmal die Blätter dran. Schoki hoppelte nun neben sie, und gemütlich grasten sie, als wäre nichts passiert. Auch die Aufmerksamkeit der anderen war längst nicht mehr bei Sissi und Schoki. Sissi motzte auch nicht weiter, sie war einfach nur froh, dass der Angriff anscheinend vorbei war. Beim Fressen stellten alle die Ohren auf, sie mussten lauschen, ob nicht irgendwo eine Gefahr lauerte. Auch bei ihrem Paarungsakt hatten das alle Kaninchen getan. Während sie mümmelten, schauten sie sich auch immer mal wieder in der Gegend um. 

Gefahr auf der LöwenzahnwieseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt