Kapitel 1

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Seit einer Ewigkeit sitzen wir im Dunkeln. Wie lange genau, weiß ich nicht. Ich hab mein Zeitgefühl verloren.

Allerdings bin ich mir sicher, dass ich nicht allein bin. Außer mir sind noch mindestens zehn andere Menschen hier drin, mal abgesehen von Helen und Liron. Ich denke fast alle sind Kinder.
Ich habe ihre Stimmen am Anfang noch gehört, als wir gerade hier herein gebracht wurden, doch inzwischen sagt keiner mehr etwas. Als hätte die Schwärze ihre dunklen Schwingen ausgebreitet und hielt uns gefangen. Selbst meine Gedanken scheinen eingeschränkt.

Helen hat ihren Kopf auf meine Schulter gelegt. Ich glaube, wir sind beide zu geschockt, um in Tränen auszubrechen oder wie manche Anderen wie verrückt nach einem anderen Ausgang zu suchen, als der großen, mit Eisen beschlagenen Tür.
Stattdessen sitzen wir einfach im Dunkeln und warten.

Aber wir wissen nicht auf was.
Irgendwie fühlte sich gerade alles unwirklich an. Wie ein Traum.

Wie in einem Schnellfilm, sausen die Bilder der letzten Stunden durch meinen Kopf.
Der Bus, das große, weiße Gebäude, die scheinbar leeren Volieren und der Mann.

Es sollte ein ganz normaler Schulausflug werden und nun waren wir eingesperrt, ohne die leiseste Ahnung, was als nächstes geschehen würde.

Als ich heute Morgen in den Bus gestiegen war, hatte ich mich auf den Tripp mit der Klasse gefreut. Ich meine, wie oft gewinnt man schon einen Besuch in den Vogelpark, bevor er offiziell öffnet?

Helen saß bereits im Bus und grinste mich breit an, als ich einstieg und den Gang auf sie zu kam.
Sie schob ihre Tasche in den Fußraum und ich ließ mich neben ihr auf den Sitz fallen.
"Good morning" trällerte sie und ihre Augen sprühten vor Energie. Aber das taten sie immer.
"Hi", gab ich zurück und lehnte meinen Kopf gegen den Sitz.

Eines der schlimmsten Sachen an Schule ist wohl das frühe Aufstehen.

"Müde?", fragend sah Helen mich an. Ich nickte nur.
Doch sobald sie begann über ihr Wochenende zu reden, wurde ich langsam wach.

"... Und dann hat er mir ganz tief in die Augen gesehen, so etwa ..., er war so nett. Meinst du, wenn ich ihn frage, ob er mal mit mir ein Eis essen will, dann kommt er mit..."
Wenn Helen sich einmal in einem Thema verfangen hatte, hörte sie so schnell auch nicht auf.
Und ein solches Thema war Simon. Und meine beste Freundin machte sich Sorgen, er könnte sie nicht mögen, obwohl jeder Trottel sehen konnte, dass er sie genau so gerne mochte, wie sie ihn.

Wie sagt man so schön? Liebe macht blind.

Dabei hatte sie wirklich keinen Grund dazu, sich vorzustellen er hätte kein Auge auf sie geworfen.
Fast jeder Junge in unserem Jahrgang, hatte mal einen Schwarm für Helen. Denn sie ist nicht nur wunderschön, mit ihren wallenden, braunen Haaren, den smaragdgrünen Augen und ihrer mittelgroßen Statur, sondern auch witzig und Sprachbegabt. Aber, da ihre Mutter aus England kommt, ist das wohl offensichtlich. Doch neben ihrem fließenden Deutsch und Englisch spricht sie auch ein wenig Spanisch und letztens meinte sie, sie hätte angefangen Französisch zu lernen.
"Clara? Hörst du mir zu?", holt mich Helen zurück in die Wirklichkeit.
"Entschuldige, ich bin wohl immer noch nicht ganz wach", erwiderte ich schuldbewusst.

Belustigt musterte sie mich und sie fragte mich, was ich an den zwei freien Tagen gemacht hatte.

Doch da gab es nicht viel zu erzählen. Ich hatte faul auf der Couch gelegen, Netflix gesehen, ein wenig gelesen und generell mich einfach so wenig wie möglich bewegt.

FeatherskinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt