Kapitel 6

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Noraja riss es aus dem Schlaf und sofort stellten sich ihre Nackenhaare auf. Sie wurde beobachtet, spürte die Blicke und den Atem, der leicht über ihre Wange glitt. Ihr Körper spannte sich an und Unruhe breitete sich in ihr aus. Sie ließ die Augen geschlossen und bewegte sich nicht. Doch, bevor ihr Gehirn sich zwischen Kampf oder Flucht entscheiden konnte, rotzte der Angreifer ihr genüsslich in den Nacken und zog ihr unvermittelt die Zunge über die Wange. Ihre Anspannung fiel augenblicklich ab, sie lachte, öffnete die Augen und begann direkt damit, Odin hinter dem Ohr zu kraulen.
„Du Scheißer hast mich ganz schön erschreckt."
Direkt kam Thor mit auf die Couch gesprungen und forderte ebenfalls seine dringend benötigten Krauleinheiten ein. Noraja kam diesem Wunsch natürlich nach und nahm sich Zeit, um mit ihren beiden Babys zu schmusen. Bertha trat in den Türbogen des Wohnzimmers.
„Na Prinzessin, endlich wach?", fragte sie. Und noch bevor Noraja antworten konnte, wurde ihr etwas Feuchtes ins Gesicht geworfen.
„Räum sie gefälligst weg", raunte Bertha ihr zu, während sich Noraja das Handtuch aus dem Gesicht zog.
Noraja liebte diese Frau für ihre Art, für alles, was sie tat und sie hatte ja bereits geahnt, dass dieses verfluchte Teil noch Ärger bringen würde.
„Natürlich, wie immer", sagte Noraja und schmunzelte dabei.
Bertha zog die Brauen nach oben.
„Wäre das erste Mal in drei Jahren", raunte Bertha und verschwand in Richtung Küche. Noraja erhob sich von der Couch und sah auf ihr Handy. Keine Anrufe oder Nachrichten.
Geht doch, dachte sie sich und warf noch schnell einen Blick auf die Uhr.
Zehn vor sechs. Perfekt, dann konnte sie sich noch in Ruhe fertig machen und musste sich nicht stressen dabei.
„Willst du noch was essen, bevor du losmachst? Ich hätte noch Sandwichs im Angebot und ja Sandwichs, nichts anderes", rief Bertha ihr selbstsicher zu.
Noraja wusste, selbst wenn sie sich etwas anderes gewünscht hätte, hätte sie nichts anderes bekommen. Da spielte es auch keine Rolle, dass sie Bertha eigentlich dafür bezahlte, denn wenn es um solche belanglosen Sachen ging, hatte eindeutig Bertha die Hosen in dieser Beziehung an.
Noraja schmunzelte erneut in sich hinein und stand langsam von der Couch auf.
„Ja gern, aber ich mach mich erst fertig!"
„Ach, wir wissen doch beide, dass du dich nach dem Essen wieder umziehen musst. Sandwichs stehen auf dem Tisch. Ich bin dann mal weg für heute. Wir sehen uns", rief Bertha ihr zu.
Das waren die letzten Worte von ihr, bevor sie die Haustür hinter sich zuzog.
Noraja schüttelte den Kopf. Ja, diese Frau war eindeutig eine Hausnummer für sich. Bertha wohnte nicht auf der Insel. Noraja hatte es ihr mehr als einmal angeboten, aber sie wollte Privatleben vom Berufsleben getrennt halten. War Noraja mal länger auf Reisen, zog Bertha für diese Zeit in das Gästezimmer, um für die Hunde da zu sein.
Noraja gähnte und setzte sich an den Tisch, um ihre Sandwichs zu essen und als hätte Bertha es gewusst, landete direkt ein Stück Salat, getränkt mit Soße, auf Norajas Shirt. Wieder musste Noraja lachen, bei dem Gedanken, was sie sich morgen anhören durfte, wenn Bertha den Fleck auf dem Shirt sah. Nachdem Noraja gegessen hatte, stellte sie den Hunden deren Abendbrot hin und machte sich auf den Weg zum Ankleidezimmer.
Diesmal griff sie nach einer schwarzen, engen Jeans, einem grauen Shirt und warf sich eine Lederjacke über. Sie sprang schnell noch ins Bad, sah in den Spiegel und brauchte nur wenige Minuten, um ihre Haare in einen etwas ordentlicheren Zopf zu binden. Sie schwang sich die Zahnbürste erneut durch den Mund, trug Wimperntusche auf, Deo unter die Arme, Parfüm an den Hals, mehr brauchte es nicht und Noraja war fertig. An der Haustür angekommen zog sie sich ihre DocMartens an und rief nach Odin und Thor.
„Na dann Jungs, auf zu unseren bösen Rockern."
Die beiden rannten schwanzwedelnd voraus und bogen an der Weggabelung rechts ab. Die zwei wussten scheinbar direkt, wo es hingehen sollte. Noraja zündete sich eine Zigarette an und folgte den beiden. Schon von Weitem hörte sie die Musik und ihr stieg der Geruch von verbranntem Holz in die Nase. Es breitete sich Vorfreude in ihr aus. Sie liebte diese gemütlichen Abende, an denen es etwas ruhiger zuging. Meistens waren nur die eigenen Clubleute da, man konnte sich einfach nur unterhalten und dabei das ein oder andere Bier genießen. Noraja näherte sich einem massiven Eisentor, vor dem die Hunde schon ungeduldig auf sie warteten. Es gab ein kleines Bedienfeld, in dem man einen Zahlencode eingeben musste, um Zutritt zu bekommen. Das gesamte Gelände war umzäunt worden, so dass es völlig abgeriegelt werden konnte, falls es von Nöten sein würde. Noraja gab den Code ein und das Tor sprang auf. Sie ließ erst die Hunde hinein und beobachtete, wie die beiden gezielt in die Menge der Rocker rannten, um sich, mal wieder, Krauleinheiten abzuholen.
„Hy Noraja", grüßte sie ein schmaler, aber riesiger junger Mann.
Er war einer der neusten Anwärter des MCs. Er war Prospect und war gerade damit beschäftigt, die Aschenbecher auszuleeren. Prospects sind noch keine vollwertigen Mitglieder des Clubs. Ihre Kutten tragen noch keine Patches und sie müssen sich ihren Stand im Club erst noch erarbeiten. Sie haben keine Rechte und müssen sich mindestens für ein Jahr beweisen, indem sie alles tun, was ihnen angeschafft wird. Sein Name war Chucky. Zumindest glaubte Noraja dies. Sie tat sich immer schwer mit neuen Namen, aber, bis er zum Vollmember aufstieg, hatte sie noch genügend Zeit, um sich diesen zu merken.
„Hy Neuling, alles gut bei dir?", fragte Noraja und blieb kurz stehen.
„Ja klar. Ich kann mich nicht beschweren, hab heute Bardienst. Willst du ein Bier?", fragte Chucky.
„Ja bitte, aber eins aus dem Kühlschrank."
„Ich weiß", sagte er und zwinkerte ihr zu.
Chucky verschwand und Noraja bahnte sich den Weg durch die Member, wobei sie jeden einzeln davon per Handschlag oder Umarmung begrüßte. Das gehörte sich so und war eine der ersten Regeln, die sie lernte, als sie ein Teil dieser Familie wurde. Es zeigte Anstand und Respekt, worauf, vor allem in diesem Club Wert gelegt wurde. Als sie an der Bar ankam, stand ihr Bier schon bereit. Nachdem sie endlich alle begrüßt und kurzen Smalltalk mit einigen gehalten hatte, steuerte sie auf einen runden Tisch zu, an dem schon Remi und ihre Schwester saßen. Franzi umarmte Noraja und betrachtete das blaue Auge, sagte aber nichts dazu. Sie hatte es irgendwann aufgegeben zu hinterfragen. Es war keine Seltenheit, dass Noraja mit Verletzungen aufschlug und solange es solche kleinen Sachen waren, ignorierte sie es einfach.Noraja setzte sich auf den freien Hocker neben Franzi und nahm einen Schluck von ihrem Bier.
„Na, was habe ich verpasst?", fragte sie in die Runde.
Die nächsten Stunden verbrachten sie damit sich, zu unterhalten, das Wochenende zu planen und sich gegenseitig auf den neusten Stand zu bringen. Denn auch wenn alle auf der Insel lebten, sahen und hörten sie sich manchmal tagelang nicht.Der Abend wurde lang und natürlich blieb es nicht bei einem Bier für Noraja. Erst als der letzte Member den Kopf auf die Tischplatte legte, um direkt vor Ort einzuschlafen, machten sich Franzi, Remi und Noraja auf den Heimweg. Die letzten Tage waren anstrengend gewesen und die Kommenden würden wahrscheinlich nicht entspannter werden und als sie endlich zu Hause angekommen war, streifte sie ihre Klamotten ab, verteilte diese quer im Haus und fiel letztlich todmüde in ihr Bett.

Noraja - Dead Or Alive ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt