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17.07.1958, Mittag

Schweigen erfüllte die kleine Küche, durchbrochen nur von gelegentlichem Geklapper des Geschirrs. Die Mutter und ihr Sohn sahen sich nicht an, während sie ihr Mahl verzehrten. In dem Raum ohne Fenster hing noch immer der Geruch des gestrigen Eintopfs, der Irmgard angebrannt war. Über ihnen rumpelte mal wieder ein Ehestreits der Susts.

„Hast du schon gehört?" Halb fragte, halb erzählte die Mutter. Ihr Blick blieb auf die Kartoffeln vor ihr gerichtet.

Henry sah kaum auf. „Hm?" Er beschäftigte sich gedanklich mit anderen Dingen.

„Gestern Abend ist drüben in der Stadt die Heide von nebenan verschwunden. Niemand hat sie gesehen, sie ist nicht mehr nach Hause gekommen. Gudruns Peter hat sie wohl rübergefahrn', zurückgekommen ist er allein, der Flegel."

Irmgards Gemeckere über den jungen Mann kannte Henry zur Genüge. Er hatte beinahe das Wichtigste verpasst. „Heide? Von nebenan? Weissens Heide?" Sein Herz setzte für einen Schlag aus.

„Ja, sag ich doch!", meinte seine Mutter ungeduldig.

Sein Gefühl hatte ihn gestern Morgen nicht getäuscht. Was für ein Tor er gewesen war! Was für ein unerträglicher Dummkopf!, schalt er sich.

Seine erstarrte Miene hatte Irmgard nicht registriert. „Jedenfalls hat Ursula dann nach dem Hauptmann gerufen, als das Mädel heut' immer noch nicht aufgetaucht ist, das kleine Luder, und was sach' ich nur, ...", redete sich die Frau in Rage. 

Die säuberlich geschnittenen Erdäpfel auf ihrem Teller wurden noch kleiner gehackt, während sie weiter über die Unverantwortlichkeit des Mädchens ausführte und sie schon in Amerika sah, an der Seite irgendeines GIs.

Vor Henrys Augen verschwamm das Porzellan mit der braunen Soße, die schwüle Hitze und die Tirade seiner Mutter, der Lärm von oben sowie der penetrante Geruch des verkohlten Eintopfs zu einem ihn überwältigenden Sturm. Und er saß in der Mitte dessen, ungerührt, wie eingefroren. Seine Hand zitterte nicht, als er sich mit der Serviette den Mund abputzte.

„Entschuldige mich bitte, Mutter, ich habe noch etwas zu erledigen." Der junge Mann stand auf und schob den Stuhl zur Seite.

Überrascht sah Irmgard ihm das erste Mal bei dieser Unterhaltung in die Augen. „Schon?"

Henry erwiderte nichts mehr.

Er ging aus der Essstube, lief die Treppe hinunter, ja, rannte fast aus ihrer gemeinsamen Wohnung. Der Bürgersteig war wie ausgestorben, um die Mittagszeit aß jeder zu Hause oder auf Arbeit. Viele Fenster waren geöffnet worden, um den müden Bewohnern etwas Erfrischung zu geben.

Er schritt eilig die Straße hinab. Eine Richtung war ihm recht wie die andere, hauptsächlich war es ihm, weg (von seiner Mutter) zu gehen. Zu seiner Linken tauchte eine Nebenstraße auf, er bog ein. Warum hatte sie es ihm erst jetzt gesagt? Von Heide hatte er, als er jünger war, von Zeit zu Zeit gesprochen, wenn er aus der Schule gekommen war. Genauer gesagt, wenn er geredet hatte, hatte er nur von ihr geredet. Es war seiner Mutter nicht aufgefallen.

Die Häuser wurden weniger, die Bäume um ihn mehr. Henry rannte. Keuchend floh er aus der bekannten Umgebung. Warum? Warum? Heide war fort, für immer. Unerreichbar. Was seine Mutter, ihre Eltern und alle anderen nur ahnten, wusste er. Er wusste es.

Er ließ sich auf den Waldboden fallen. Dann saß er dort, an einen Baum gelehnt. Der Wald war voller Farbe, er hingegen war leer. Das Vakuum in seinem Inneren breitete sich aus, vom hämmernden Herzen bis hin in seine Gedanken. Sein eigenes Schweigen dröhnte ihm in den Ohren.

Warum? 



Was ich gesehen hätteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt