4. Ein kleines bisschen Freiheit

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Ich saß bereits seit acht Uhr an der Rezeption. Ich war müde und dennoch voller Tatendrang, denn ich hatte einen Plan. Ich würde, sobald Elisabetta weg wäre, den einzigen Computer auf diesem Anwesen hier nutzen und mich nach einer Arbeit umsehen. Es war mir sogar egal, was ich machen würde und das, obwohl ich mal einen so genauen Plan von meinem Leben gehabt hatte. Naja, Zeiten änderten sich eben und ich hatte auf die harte Tour gelernt, dass es wichtig war, sich anzupassen.

Putzfrau? War ich bereits, aber wenn es sein müsste – Link abspeichern. Personalabteilung einer IT-Firma? Wie ironisch, wenn man bedachte, dass ich für ein Bewerbungsgespräch mit ebendieser Abteilung in Kontakt treten würde. Die hatten also sehr wohl Personal. Gemeindearbeiterin? Dann könnte ich gleich hier die Straße weiterfegen, aber wenn es sonst nichts gäbe, man konnte ja auch das mal speichern. Barkeeperin? Dass ich nicht lachte! Wobei – warum eigentlich nicht? Ich trank zwar keinen Alkohol, aber ihn zu mixen müsste doch erlernbar sein, oder? Außerdem könnte ich so abends arbeiten und untertags trotzdem noch einige Aufgaben für Elisabetta erledigen, wodurch sie dies vielleicht verstehen würde, wenn ich ihr sagte, ich hätte nun einen richtigen Job. Gar nicht mal so schlecht, mal sehen, wie man sich hier bewerben konnte...

Der Tag verging nur schleichend, was wohl daran lag, dass ich seit Langem mal nicht wirklich etwas zu tun hatte. Ich hasste es, Zeit zum Nachdenken zu haben, ich wurde immer extrem traurig und betrübt dabei. Aber ich hatte gerade mal zwei Gästen erklärt, wie sie in Volterra günstig aber trotzdem nobel essen gehen könnten, mehr war heute einfach nicht zu tun gewesen. So wurde es immer später und mittlerweile dämmerte es ein wenig. Wäre es in Ordnung, wenn ich die Rezeption kurz verließe und mich ins Freie begab? Ich hatte irgendwie den Drang nach Abkühlung meiner rasenden Gedanken und nur hier sitzend und an die Wand starrend würde das niemals etwas werden. Abkühlung. Sollte ich... Durfte ich... Nein. Es war mir von Anfang an untersagt gewesen, den Pool zu nutzen, immerhin war ich bloß das Hauspersonal und die Gäste sollten nicht mit dem Fußvolk ein Schwimmbecken teilen müssen. Gut, so hatte es Elisabetta zwar nicht ausgedrückt, aber im Endeffekt war genau das die Meinung, die sie vertrat. Ich wäre dem nicht würdig. Doch das war mir auch klar, meine Würde hatte ich wohl schon länger verloren, sonst würde ich hier ja auch nicht putzen und mich abarbeiten wie sonst was.

Ich hatte mein Häuschen gerade wieder erreicht, als ich den nicht mehr ignorierbaren Drang verspürte, diese verdammte Regel zu brechen. Ich wollte schwimmen gehen, ein einziges Mal nur, bloß um es einmal gemacht zu haben. Wann hatte ich überhaupt damit begonnen, mich an Regeln zu halten? Ich war Sophie! Eine Rebellin durch und durch, wenn ich es mit den Worten meiner Eltern beschreiben müsste. Und eine Enttäuschung, also konnte ich es ja auch nicht mehr schlimmer machen. Nur nun war ich Laura. Das brave, sich fügende und vom Schicksal erdrückte junge Mädchen, das alles aufgegeben hatte, irgendwo auch sich selbst, und nun nach der Pfeife einer älteren Frau tanzte, zu der es in einem unangenehmen Abhängigkeitsverhältnis stand. Plötzlich verspürte ich so eine Wut in mir hochkommen, sie kroch in jede meiner Zellen und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als die Zeit zurückdrehen zu können. Doch hätte das etwas geändert? Ich war eben, wie ich war, auch wenn ich es mittlerweile wieder zu verdrängen versuchte, mich den gesellschaftlichen Konventionen zu beugen versuchte, selbst wenn dies bedeutete, dass ich für immer unglücklich sein würde. Ich war am Leben und ich war noch nicht bereit, das aufzugeben. Und somit fasste ich einen Entschluss. Ich würde mich endlich wieder mal lebendig fühlen, denn auch ich, Sophie, oder Laura, oder wer auch immer ich nun war, hatte es verdient, glücklich zu sein. Die Stimmen aus meiner Vergangenheit, all die Stimmen der Leute, die das nicht so sahen, blendete ich gekonnt aus und ich schnappte mir mein Handtuch.

*Platsch* Ich tauchte mit einem eleganten Köpfler in das kühle Nass und es war, als würde es mir sogleich all meine Sorgen einfach wegspülen. Zuerst zog sich mein gesamter Körper krampfend zusammen, doch sobald ich wieder den rettenden Sauerstoff atmete, fühlte ich mich so gut wie schon lange nicht mehr. War das Wasser oder waren das Tränen, die meine Wangen hinabronnen? Ich ließ mir keine Zeit, dem nachzugehen, denn sofort tauchte ich wieder unter. Ich schwamm, als wäre ich eine Meerjungfrau. Jap, die Serien meiner Kindheit hatten mich wirklich geprägt. Doch es fühlte sich gut an, ich fühlte mich, trotz des begrenzten Raumes in diesem Becken, erstaunlich frei.

Plötzlich hörte ich allerdings etwas, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ: die Geräusche eines sich nähernden Autos, das ich nur zu gut kannte. Elisabetta und Tommaso waren zurück und ich Idiotin hatte weder meinen Suchverlauf gelöscht, noch den Computer ausgeschaltet! Wie hatte ich nur so dumm sein und mich von meinen Gefühlen übermannen lassen können? Ich stieg unglaublich unelegant aus dem Pool, sodass mich jede Person, die das gesehen hätte, schallend auslachen würde, warf mir mein Handtuch über und rannte durch das Gebüsch und zwischen den auch hier gepflanzten Oliven- und Birnenbäumen hindurch in Richtung meiner Unterkunft. Zuerst müsste ich etwas Trockenes anziehen, sonst bekäme ich noch mehr Ärger.

Gerade als ich frisch gekleidet, aber mit noch nassen Haaren – ich würde einfach behaupten, ich hätte gerade geduscht – mein Apartment verließ, bemerkte ich, dass Tommaso auf ebendieses zutrat. „Laura! Devo parlarti..." (Laura! Ich muss mit dir sprechen...) Oh nein, das konnte nichts Gutes bedeuten. „Ho visto che hai cercato un lavoro sul computer..." (Ich habe gesehen, dass du auf dem Computer nach einer Arbeit gesucht hast.) Mein Herz klopfte lauter und schneller in meiner Brust. Was sollte ich denn nun machen? „Non preoccuparti, non ho detto niente a mia madre, ma volevo chiederti una cosa... Qui non sei felice, vero?" (Keine Sorge, ich habe meiner Mutter nichts davon erzählt, aber ich wollte dich eine Sache fragen... Du bist hier nicht glücklich, oder?) Ich wusste nicht, was ich von dieser Situation halten sollte. War ich ein offenes Buch für ihn oder schlussfolgerte er das nur aufgrund seiner heutigen Entdeckung? Wie auch immer, er hatte recht, doch es lag nicht an dem Ort oder an Elisabetta selbst, ich war schon lange nicht mehr glücklich. Nicht mehr, seit ich hier war, seit ich von zuhause weggegangen war und durch einen neuen Job erhoffte ich mir irgendwo eine Art Ausgleich, einen zweiten Neuanfang.

Wie viele Neuanfänge hatte ein Mensch denn verdient?

„Tommaso... Io... Io... No, non sono felice, ma non è a causa di tua madre o dell'azienda agricola qua, ho bisogno di un po' di soldi per vivere la mia vita senza essere dipendente e perciò ho deciso di lavorare... Ma non vuol dire che vi lascerò, sarebbe solamente un lavoro supplementare!" (Tommaso, ich... ich... Nein, ich bin nicht glücklich, aber das liegt nicht an deiner Mutter oder an dieser Azienda Agricola hier, ich brauche nur ein wenig Geld, um mein Leben zu leben, ohne abhängig zu sein und darum habe ich mich entschieden, zu arbeiten. Aber das heißt nicht, dass ich euch hier verlasse, es wäre nur eine zusätzliche Arbeit.) Tommaso schwieg für eine Weile, nickte dann aber verständnisvoll und erklärte mir, dass er das verstehen würde und dass er mir wünschte, ich könnte wirklich etwas finden, das mir gefiel. Er versprach mir außerdem, Elisabetta vorerst auch nichts davon zu erzählen und meinte, das müsste ich sowieso selbst erledigen, was mir ein mulmiges Gefühl bereitete, doch ich war alt genug, also bedankte ich mich bei ihm und setzte meinen Weg fort. Anstatt jedoch mein ursprüngliches Ziel zu verfolgen, schlenderte ich nun den Kiesweg entlang und verließ das Anwesen. Ich brauchte jetzt einfach ein bisschen Zeit für mich, um meine Gedanken wieder sortieren zu können...

Fighting the demons from our pasts - Will love be enough?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt