11. Bleib doch noch

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„Bleib doch einfach noch", hörte ich ihre Stimme hinter mir und als ich mich langsam zu ihr umdrehte, erkannte ich, wie sie auf der vorletzten Stufe der Treppe stand und mich erwartungsvoll ansah. „Ich...", stotterte ich unbeholfen, doch mir fiel absolut nichts ein, was ich einwenden hätte können. Die Situation war sowieso schon verkorkst, ich könnte es durch mein Bleiben auch nicht mehr schlimmer machen und ins Gewitter hinaus wollte ich nun wirklich nicht. Also nickte ich und folgte der für mich immer noch Namenlosen in ein geräumiges Wohnzimmer. Es war typisch toskanisch eingerichtet, in diesem rustikalen Stil, den ich früher im Urlaub schon immer so bewundert hatte. Auch ein offener Kamin befand sich hier und selbst wenn gerade Sommer war, so konnte ich mir nur allzu gut vorstellen, wie es sein müsste, hier in der kalten Jahreszeit in eine Decke eingekuschelt davorzuhocken.

„Möchtest du etwas trinken?" Ich bat um ein Glas Wasser, da mein Kopf noch immer ziemlich schmerzte und während sie aus dem Zimmer verschwand, sah ich mich weiter um. Da waren überall Bilder, die sie zeigten und auf mehreren davon war auch der Mann aus der Disko zu sehen. Sie schienen sich sehr nahe zu stehen, ob er wohl wirklich ihr Partner war? Ich hörte Schritte und entschied mich dazu, nicht zu neugierig wirken zu wollen. So ließ ich mich auf der grauen Couch nieder und wartete. „Ecco, prego... dein Kopf wird es dir danken, der tut sicher weh", meinte sie, als sie mir die farb- und geruchlose Flüssigkeit in die Hand drückte. Sie hatte sich ebenfalls etwas zu trinken geholt und erstmal war es einfach still zwischen uns. Doch gerade, als meine Gedanken wieder dabei waren, in Richtung meiner Vergangenheit abzudriften, riss sie mich mit ihren Worten aus der Grübelei: „Wie heißt du eigentlich?" Ich sah sie an und nun konnte ich in diesen smaragdgrünen Augen, abgesehen von ihrem ehrlichen Interesse, auch noch kleine graue Sprenkel erkennen. Ich verlor mich kurz in ihnen, ermahnte mich dann aber in Gedanken selbst und sprach ein wenig zögerlich: „Ich heiße... Laura." Woher rührte denn nun dieses plötzliche Bedürfnis, ihr meinen echten Namen zu verraten? Den Namen meiner Vergangenheit? Sofort verwarf ich diese unvorteilhafte Idee wieder und legte nach: „Und du?" Sie lächelte und meinte: „Den Anfangsbuchstaben kennst du ja schon. Ich heiße Federica." Da war er also – der Name, nach dem ich stundenlang abends vor dem Einschlafen gesucht hatte. Und er passte wie angegossen. „Wieso sprichst du Deutsch und Italienisch?", legte ich nach. „Dasselbe könnte ich dich fragen", schmunzelte sie. „Touché." „Ich bin in Österreich geboren, aber hierhergezogen, als ich sechzehn war. Meine Mutter ist Italienerin und mein Vater kommt aus dem Burgenland." Das erklärte viel. „Bist du denn seitdem hier?" Sie wirkte ein wenig nostalgisch, als sie antwortete: „Nein, wir sind damals hierhergezogen, weil meine Oma krank wurde und meine Mama sich um sie kümmern wollte, doch als ich die Schule hier beendet hatte, bin ich wieder zurückgegangen, um in Österreich zu studieren." Ich nickte, wunderte mich, was aus ihrer Großmutter geworden war, war aber nicht mutig genug, nachzufragen. „Und du? Was machst du hier?", wollte sie wissen. Mist, ich hätte ahnen müssen, dass diese Frage früher oder später kommen würde und doch traf sie mich etwas unvorbereitet. „Ich... Ich bin erst seit Kurzem hier." „Das war nicht meine Frage, Liebes", schmunzelte sie wieder und mir war meine unbeholfene Antwort gleich peinlich. „Naja, ich wollte einfach die Sprache verbessern, weil ich Italienisch liebe und die Toskana schien mir ein geeigneter Ort dafür. Weit genug weg von der österreichischen Grenze, sodass niemand mehr Deutsch mit dir spricht – naja, fast niemand zumindest", zwinkerte ich erstaunlich selbstbewusst, „und doch wunderschön. Ich mag die Gegend hier sehr gerne." Diese Antwort schien sie schon eher zufriedenzustellen, denn sie gab zurück: „Das klingt wirklich gut!" Irgendetwas an dieser Aussage war jedoch komisch. Sie schien noch nicht ganz abgeschlossen zu sein, so als würde noch irgendetwas fehlen. Sogleich wurde mir klar, woher dieses Gefühl rührte, denn sie stellte mir eine so simple Frage, die mich jedoch aus dem Konzept brachte, wie kaum etwas zuvor:

„Bist du denn glücklich hier?"

Eine Weile sagte ich gar nichts. Ich dachte über diese einfachen Worte nach. War es nicht immer mein Ziel gewesen, von zuhause wegzugehen, um endlich glücklich zu werden? War es denn nicht immer mein Wunsch gewesen, alles einfach hinter mir zu lassen und neu anzufangen? Doch wo war ich heute? Ich saß auf einem fremden Sofa in einem fremden Haus mit einer Person, von der ich bloß den Namen kannte und das erst seit wenigen Minuten und es fühlte sich an, als hätte ich einfach keine Zukunft. Ich lebte in der Gegenwart und doch nicht im Moment, wie es all diese Inspirational Quotes immer von einem verlangten. Für mich war das Vergangene schmerzhaft, die Gegenwart anstrengend und die Zukunft in ihrer bloßen Existenz ungewiss. „Ich weiß es nicht", antwortete ich also einfach und das war wohl der erste Satz in Federicas Gegenwart, der Wahrheitsgehalt hatte. Verdammt, war mein Leben verkackt. „Verstehe...", erwiderte die Frau mir gegenüber, wobei mir der nachdenkliche Unterton in ihrer Stimme einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Er klang auf eine Weise mitfühlend, wie ich das noch nie erlebt hatte und doch wollte ich kein Mitgefühl. Kein Mitleid. Ich war bemitleidenswert, vielleicht, aber es reichte, wenn ich in Selbstmitleid ertrank, es mussten mich nicht noch andere mit dem Kopf unter die Oberfläche drücken. „Möchtest du darüber reden?" Sofort schüttelte ich den Kopf. Ich wollte nicht reden, ich wollte vergessen. Alles. Apropos vergessen. „Du könntest mir aber sagen, was heute Nacht danach passiert ist. Wie bin ich hier gelandet?" Diesmal schwieg sie, bis sie nach einer Weile sprach: „Ich habe dich gefragt, ob es dir gut geht, doch du hast nicht mehr reagiert. Ich habe mir echte Sorgen gemacht, leider war sonst niemand mehr dort. Es sind wohl alle heimgegangen. Da ich nicht wusste, wie du heimkommst oder was dich da erwartet, habe ich kurzerhand beschlossen, dich mit zu mir zu nehmen. Ich habe dich zu meinem Auto gebracht und dann hier ins Bett gelegt. Den Kübel und ein Glas Wasser habe ich in weiser Voraussicht hingestellt. Ich habe dann einfach auf der Couch geschlafen, ich wollte dir nicht zu nahe treten." Das musste ich erstmal sacken lassen. Sie hatte mich hergebracht, eine Fremde. Sie hätte mich genauso gut einfach im Club lassen können, in der Hoffnung, ich würde meinen Rausch ausschlafen. Mittlerweile war nämlich auch die Erinnerung an den Alkohol wieder da. Ich hatte mich schlecht gefühlt und gehofft, er würde meine Gedanken betäuben. Nach dem vierten Mojito und ein paar Shots hatte ich jedoch aufgehört, mitzuzählen. Für meinen kleinen Körper, der diese Droge noch dazu nicht gewohnt war, war das natürlich zu viel geworden. „Danke...", hauchte ich, nicht fähig, mehr dazu zu sagen, obwohl mein Kopf voll war. „Nicht dafür. Wir Frauen halten zusammen. Es hätte ja sonst was passieren können, hätte ich dich einfach alleine dort gelassen. Aber Eines interessiert mich noch: Ich habe dir damals meine Nummer gegeben, doch du hast dich nicht gemeldet. Warum?" Das war eine Frage, die ich so einfach beantworten könnte und doch würde ich sie nicht hinter meine Maske sehen lassen. Sie gehörte zum neuen Leben und der Grund für mein Verhalten zum alten, also musste eine plausible Lüge her, ganz so, wie ich es nun bereits gewohnt war. „Ich dachte, der Zettel wäre nicht an mich gewesen." Sie beäugte mich mit einem skeptischen Blick, beließ es zu meinem Glück aber dabei. „Ich sollte jetzt wirklich gehen", meinte ich nach einem Blick aus dem Fenster. Der Regen hatte so schnell aufgehört, wie er gekommen war, das schien hier wohl so üblich zu sein. „Danke für alles. Wirklich." Sie begleitete mich zur Tür, doch bevor ich verschwinden konnte, bat sie mich noch um mein Handy, in das sie, nachdem ich es mit einem skeptischen Blick für sie entsperrt hatte, ihre Handynummer eintippte und einen neuen Kontakt anlegte. „Diesmal hast du keine Ausrede. Melde dich, wenn etwas ist. Ich werde da sein." Und ohne ein weiteres Wort oder Widerwort meinerseits machte sie auf dem Absatz kehrt und die Tür fiel ins Schloss...

Fighting the demons from our pasts - Will love be enough?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt