52. Happy New Year

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POV Sophie Künstner

„10... 9... 8... 7... 6... 5... 4... 3... 2... 1... Happy New Year!" Federica zog mich in einen sanften Kuss, den ich sofort erwiderte. Mit ihr ins neue Jahr zu starten, war das Schönste überhaupt. Vor einem Jahr noch hätte ich niemals auch nur zu träumen gewagt, die Liebe meines Lebens zu finden, überhaupt je Liebe zu finden und hier waren wir nun. Wir umarmten uns alle nacheinander und als ich gerade Anja in den Armen lag, flüsterte sie: „Frohes neues Jahr, Sophie. Möge alles von jetzt an immer nur noch besser werden." Ich löste mich aus ihrer Umarmung und lächelte sie mit einem leichten Nicken an. Viel schlimmer konnte es nun wohl eh nicht mehr kommen, daher war ich diesmal sogar zuversichtlich. Lange konnte ich aber nicht darüber nachdenken, da hatte mich auch schon Anica in ihre Arme gezogen. Ich hatte ihr heute noch ausführlich von den beiden Treffen mit meiner Mutter berichtet, das hatte sie nämlich verpasst, nachdem wir uns das letzte Mal an Heiligabend gesehen hatten. Sie war ebenfalls sehr schockiert über die Art meiner Mama, vermutlich mehr noch als ich, denn ich war mittlerweile so weit, zu wissen, dass Familie nicht Blutsverwandtschaft bedeutete. Fedè hatte mir da wirklich die Augen geöffnet und dafür war ich ausgesprochen dankbar. Alle heute hier Anwesenden waren nun meine Familie, von ihnen wurde ich akzeptiert und geliebt, so wie ich war und das war das schönste Geschenk überhaupt. Ich war gerade einfach nur glücklich – das neue Jahr würde mein, unser Jahr werden, das spürte ich. Jetzt galt es nur noch, das Problem mit Giacomo zu lösen.

Federica saß mit Anja in der Küche, während Falco den Vormittag mit den Jungs auf der Piste verbrachte. Ich hatte mich ins Gästezimmer zurückgezogen unter dem Vorwand, etwas für die Uni erledigen zu müssen, bevor die Ferien vorbei wären. In Wahrheit starrte ich allerdings schon seit etlichen Minuten das Display meines Handys an und überlegte, ob ich durchziehen sollte, was ich vorhatte. Wäre es eine gute Idee? Ich hatte die letzte Woche über ununterbrochen darüber nachgedacht, meinen Vater anzurufen, mich bei ihm zu melden. Die Worte meiner Mutter hatten mich nachdenklich gestimmt. Sie hatte von Meinungsverschiedenheiten seit meinem Verschwinden erzählt und die abschätzige Bemerkung, wir beiden könnten uns im Endeffekt dann auch noch verbünden, hatte die absurde Hoffnung in mir aufflammen lassen, mein Vater hätte kein Problem mit mir, er würde mich akzeptieren. Könnte das denn wahr sein? Ich hatte schon immer eine bessere Beziehung zu ihm gehabt als zu meiner Mutter, doch am Ende waren es doch sie beide gewesen, die mich nicht mehr sehen wollten – wenn auch sicher vor allem meine Mutter. Ich hatte noch nie in ihre kleine, perfekte Welt gepasst, für die es bloß den äußeren Schein aufrechtzuerhalten galt. Meiner Mama war die Meinung anderer schon immer viel zu wichtig gewesen, schon allein meine Entführung hatte sie mitgenommen, allerdings nicht direkt wegen dem Leid, das ich erfahren hatte, sondern vor allem darum, weil das gesamte Dorf darüber geredet hatte und es ihrer Meinung nach ein negatives Bild auf uns geworfen hätte. Wenn ich so darüber nachdachte, hätte das schon reichen müssen, um mich aus ihrem Leben zu verabschieden und zu mir selbst ehrlich zu sein, doch man sah wohl immer nur, was man sehen wollte – vor allem, wenn es um die eigene Familie ging.

Meine Hände begannen zu schwitzen, als ich den Kontakt auswählte und nach kurzem Zögern betätigte ich dann auch schon den grünen Button. Ich würde es nie erfahren, wenn ich es nicht einfach versuchte...

„Künstner?" Mir stockte der Atem. Es war wirklich seine Stimme, er hatte seine Nummer also nie geändert. So nahe war ich ihm seit Monaten nicht mehr gewesen. Ein Wort würde reichen und wir könnten direkt miteinander sprechen, uns unterhalten, als wären wir im selben Raum. „So funktionieren Telefone, Dummerchen", schoss es mir durch den Kopf und ich schüttelte ihn energisch, um die sarkastische Stimme beiseitezuschieben und mich auf das bevorstehende Gespräch zu konzentrieren. Wenn eines zustande kommen würde. Noch hatte ich ja nichts gesagt. Er musste denken, das sei ein Scherzanruf. „Hallo?", wiederholte er mit seiner dunklen, ruhigen Stimme. Das war der Vater, den ich kannte. Ruhig und gelassen und nicht hysterisch und brutal... „Ich... Ich bin's", entfuhr es mir unsicher, „Sophie..." Für einen Augenblick wurde es totenstill in der Leitung, bis mein Vater sprach: „Sophie! Wie... Wieso... Warum rufst du denn an?" Mein Magen verkrampfte sich. Erwartete er etwa auch, ich würde ihm freudig mitteilen, dass ich diese Phase überwunden hätte und gerne zurückkommen wollte? Mir wurde speiübel, doch ich riss mich zusammen und beschloss, diese Illusion gleich von Vornherein zu unterbinden. „Wenn du wie Mama denkst, ich hätte mich für euch geändert, dann muss ich dich leider enttäuschen. Ich bin immer noch lesbisch und das wird auch so bleiben." Er räusperte sich am anderen Ende und meinte schnell: „Das... Das ist in Ordnung. Ich... ich habe in der Zeit deiner Abwesenheit sehr viel dazugelernt, weißt du? Aber... dazu ein anderes Mal mehr, sag mir doch bitte einfach, wieso du anrufst." Seine Stimme zitterte und es schien, als könnte ich seine Anspannung bis hierher fühlen. Er war nervös. Das war wirklich untypisch für ihn, weshalb meine Hoffnung, er könnte sich sogar ein wenig darüber freuen, die Stimme seiner einzigen Tochter zu hören, stärker wurde. „Kann... können wir uns sehen?", fragte ich also und ich hielt sofort wieder den Atem an. Es lag nun bei ihm. Er würde die Entscheidung treffen, wie es mit uns weiterginge, ob es mit uns weiterginge. Wenn er verneinte, würde ich keinen Annäherungsversuch mehr starten und mich damit abfinden, auch meinen Vater für immer verloren zu haben. Sollte er allerdings einem Treffen zustimmen, könnten wir uns aussprechen und wer wusste das schon, vielleicht würden wir dadurch wieder ein paar Schritte aufeinander zugehen können. Nun war ich die Nervöse. Nicht, dass ich das zuvor nicht gewesen wäre, doch die Stimme meines Vaters war vor Unsicherheit überquollen, da hatte ich meine noch echt gut im Griff gehabt. Nun wurde mir dieser Druck aber langsam zu viel. Gerade, als ich mich dazu entschlossen hatte, das Gespräch einfach zu beenden, weil ich gedacht hatte, er würde sowieso nicht mehr antworten, sprach er: „Das würde mich wirklich sehr freuen. Hast du heute Abend Zeit? So gegen 7? Wir könnten bei mir einen Kaffee trinken. Also... ich wohne wieder in meiner alten Wohnung, weil..." Er stockte, wollte seiner Tochter wohl nicht am Telefon von seiner gescheiterten Ehe mit ihrer Mutter erzählen. „Ich weiß, Mama hat es mir gesagt. Heute Abend geht in Ordnung. Ich werde da sein." Wieder wurde es kurz still, bis ich meinte: „Bis später... Papa..." und dann einfach auflegte.

Fighting the demons from our pasts - Will love be enough?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt