Er hatte bloß ein Glas trinken wollen, allenfalls zwei.
Und am Ende waren es wieder drei oder vier geworden.
Diesen Drang nach Alkohol hatte Robin bereits früher in seinem Leben einige Male in besorgniserregendem Maße verspürt, es war ihm oft schwergefallen, mit dem Trinken aufzuhören, sobald er einmal begonnen hatte.
Nachdem er Jonny kennengelernt hatte, war es weniger geworden – sie waren beide auf ihre Art von Substanzen abhängig gewesen, und sie hatten sich dabei unterstützt, davon loszukommen, ohne sich gegenseitig zu verurteilen.
Nach Jonnys Tod jedoch hatte sich der Abgrund wieder geöffnet, und momentan balancierte Robin vielleicht noch an der Kante, doch war es wohl bloß noch eine Frage der Zeit, bis er hineinfallen würde.
Heute waren es eben diese drei oder vier (oder fünf?) Gläser Whiskey Cola gewesen, die Robin sich in einer Kneipe bestellt hatte, in die er gelandet war nachdem er eine Weile lang ziellos durch die Straßen geirrt war.
Die frische Luft hatte ihm gutgetan, war viel angenehmer gewesen als die von Erinnerungen erfüllte Atmosphäre in seiner Wohnung.
Doch irgendwann war er das Laufen leid gewesen. Und nun war er hier.
Er saß in einer Nische im hinteren Bereich der Kneipe, geschützt vor neugierigen Blicken oder sonstiger Art von Aufmerksamkeit, die er einfach nicht ertragen konnte. Ein weiterer Vorteil dieses Platzes war die Tatsache, dass die Kellnerin sich nur relativ selten hier her verirrte – ein Vorteil war das deshalb, weil Robin ansonsten wohl bereits noch mehr Gläser der Whiskey-Mischung in sich hineingekippt hätte als es ohnehin bereits der Fall war.
Die Menge, die er so zu sich genommen hatte, war vollkommen ausreichend gewesen damit sich das altbekannte schummrige Gefühl in ihm eingestellt hatte, diese dezente Benommenheit, die einen die Umgebung leicht verzerrt wahrnehmen ließ und die schmerzhaften und ungewollten Emotionen betäubte.
Abwesend betrachtete Robin das vor ihm stehende Glas.
Es war halb leer, und ihm war klar, dass er darauf verzichten sollte, ein weiteres zu bestellen. Ansonsten wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das angenehm beschwipste Gefühl umschlug, und er in einen Strudel aus Selbsthass und Trauer hinabgerissen werden würde, in dem der Alkohol die Gefühle nicht betäuben, sondern um ein Vielfaches intensivieren würde.
Das wäre nicht gut. Das wäre ganz und gar nicht gut.
Aus dem Augenwinkel sah Robin, wie das Display seines Handys aufleuchtete, das neben ihm auf dem Tisch lag.
Es war nicht das erste Mal seit er hier saß, dass er das tat, aber zuvor waren bloß SMS der Auslöser dafür gewesen, während nun auf dem Bildschirm das Eintreffen eines Anrufes angezeigt wurde.
Lola.
Robin konnte sich denken, dass sie sich Sorgen um ihn machte – dazu bedurfte es keiner Intuition oder dergleichen, immerhin waren die SMS zuvor ebenfalls von ihr gewesen.
Seine Freundin wusste, wie sehr Jonnys Tod ihm zugesetzt hatte. Und sie fürchtete, dass er irgendetwas Dummes tun könnte.
Seufzend griff Robin nach dem Handy. Ihren Anruf anzunehmen und ihre Stimme zu hören würde er jetzt nicht ertragen, doch zumindest konnte er ihr endlich eine SMS schreiben, ihr sagen, dass alles in Ordnung war.
Es wäre nicht fair, sie im Ungewissen zu lassen, zuzulassen dass sie sich immer weiter in ihre Sorgen um ihn hineinsteigerte, Sorgen, die sie womöglich um den Schlaf bringen würden.
Da war es wieder, dieses Wort.
Fair. Dieses alberne, vollkommen bedeutungslose Wort.
Nichts im Leben war fair.
Der Bildschirm veränderte sich, zeigte an, dass die Anruferin aufgegeben und aufgelegt hatte. Robin gab seine PIN ein, öffnete das Nachrichtenprogramm und wollte gerade damit beginnen, ihre SMS zu lesen, als er das Lachen hörte.
Die Stimme war eine von vielen, vermischte sich mit Grölen, das im Laufe des Abends bereits einige Male ertönt war. Das Gelächter kam von einem Tisch weiter vorne in der Bar, an dem einige ältere Männer saßen und Skat oder Doppelkopf oder irgendein anderes Kartenspiel spielten, das sie scheinbar prächtig amüsierte.
Diese Stimme jedoch war neu in diesem Gewirr. Robin war sich sicher, dass er sie ansonsten bereits zuvor bewusst registriert und alarmiert in ihre Richtung geblickt hätte. Schließlich kannte er sie nur allzu gut.
Im ersten Moment glaubte er, er hätte sie sich nur eingebildet. Der Alkohol, der verzweifelte Wunsch – und gleichzeitig auch die Angst – dem Besitzer dieser Stimme wieder über den Weg zu laufen, hatten sein Gehirn womöglich dazu gebracht, diesen Klang selbst zu erzeugen, sich seinen Wunsch auf diese Weise zu erfüllen...
Doch selbst der Alkohol und die Verzweiflung hätten wohl nicht den Anblick hervorrufen können, der sich Robin nun bot, als er sich vorbeugte und in Richtung der Karten spielenden Männern blickte.
Dort, zwischen einem bulligen Typen mit Glatze, dessen Gesicht rot angelaufen war, ob vor Lachen oder aufgrund des Bieres, das in einem beeindruckend großen Glas vor ihm stand, und einem untersetzten Kerl mit Hornbrille, saß Marc.
Das Grinsen auf seinem Gesicht, das Robin unwillkürlich an den Moment denken ließ, in dem er Jonny ein Messer an die Kehle gehalten hatte, versetzte Robin einen Schmerzhaften Stich in der Brust.
“Na los”, brüllte eine Stimme in seinem Kopf ihn an, laut und energisch, und zu allem entschlossen. “Steh auf und jag dem Arschloch eine Kugel zwischen die Augen! Oder besser zehn, nur um sicher zu gehen!”
Das war albern. Zehn Kugeln passten überhaupt nicht in die Pistole, nach der Robin nun unwillkürlich tastete, und deren kühler Stahl unter seinen Fingern eine beeindruckend beruhigende Wirkung auf ihn hatte.
Aber schnell hatte er seine Gedanken wieder so weit im Griff, dass ihm bewusst war, dass die Anzahl der Kugeln nicht das einzige Problem an der ganzen Sache darstellte.
Allerdings hatte er auch noch immer nicht ganz verarbeitet, was er dort sah.
Das war wirklich Marc, die Person, nach der er die letzten Wochen immer wieder Ausschau gehalten hatte, deren Tod er sich immer und immer wieder ausgemalt hatte, die sein Leben in eine Hölle auf Erden verwandelt und ihm den Menschen genommen hatte, den er mehr geliebt hatte als jemals jemanden zuvor.
Marc saß einfach da, in dieser Gruppe von Menschen, lachte und lebte sein Leben ganz normal weiter.
Als wäre nicht passiert. Als wäre er kein kaltblütiger Mörder.
Hat die Polizei überhaupt ernsthaft versucht, ihn zu finden? schoss es Robin durch den Kopf, und seine Hand krallte sich fester um den Griff der Pistole.
Es wirkte nicht so, als würde Marc sich verstecken. Sicher, wenn er gewusst hätte, dass Robin hier war, dann hätte er wahrscheinlich darauf verzichtet, hier aufzukreuzen, aber das hatte er nicht wissen können.
Robin war noch nie zuvor hier gewesen.
Doch wie auch immer, so unwahrscheinlich dieses Zusammentreffen auch war, was für ein unfassbarer Zufall, und so oft Robin sich auch ausgemalt hatte, was er tun würde, sollte es wirklich zu einer solchen Situation kommen... jetzt, wo es wirklich soweit war, war er vollkommen überfordert.
Es war nicht so, wie in seiner Vorstellung. Er fühlte sich nicht kalt und brutal, nicht in der Lage, einfach aufzustehen, auf die Männer zuzugehen und Marc in die Augen zu sehen während er mit der Waffe auf dessen Kopf zielte, den Ausdruck der Furcht auf seinem Gesicht genießend.
Es legte sich nicht einfach ein Schalter in ihm um, der Emotionen und Zweifel außer Kraft setzte.
Wieso, verdammt, war die Realität immer so viel komplizierter als es in fiktiven Geschichten der Fall war?
Wieder lachten die Männer, und ein weiterer Stich bohrte sich in Robins Herz.
Nichts an Marc ließ in irgendeiner Weise darauf schließen, dass er einem anderen Menschen das Leben genommen hatte. Er schien sein Leben vollkommen normal weiterzuleben, amüsierte sich und verbrachte die Abende in Bars mit seinen Kumpels, und das, obwohl doch eigentlich die Polizei nach ihm suchen sollte.
Als wäre überhaupt nichts geschehen.
Und alles, wozu Robin in der Lage war, war, hier zu sitzen und die Person anzustarren, die er mehr als alles andere auf der Welt hasste.
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Vergeltung
Short StoryDer Grabstein fühlte sich kühl an unter seinen Fingern, als er darüber strich. Es hatte geregnet letzte Nacht, die Feuchtigkeit war noch immer spürbar, auch wenn die Sonne die Wolkendecke bereits seit einiger Zeit durchbrochen hatte und ihre Strahle...