Die Zeit, die verstrich, bis sich endlich etwas an der Szenerie veränderte und es ihm ermöglichte, die Starre, in der er sich befand, zu durchbrechen, kam Robin vor wie eine Ewigkeit.
Minuten – eine gute halbe Stunde letztlich – in denen er einfach bloß dasaß, eine Hand um sein Glas und die andere um den Griff der Pistole geklammert, und Marc nicht aus den Augen ließ.
Marc, der nicht einmal auf die Idee zu kommen schien, dass jemand ihn beobachten könnte. Der kein bisschen nervös wirkte. Als habe er nicht das geringste zu befürchten, weder vor einer Racheaktion seinen ‘Erzfeindes’, wie er selbst Robin einmal bezeichnet hatte, noch vor der Polizei.
Er saß einfach da, spielte Karten, leerte sein Bierglas und bestellte sich ein neues, während er sich rege an der Konversation der Gruppe beteiligte, ob mit derben Witzen oder grölendem Lachen als Reaktion auf eben solche.
Und dann, schließlich, stand er auf.
“Jungs, ich muss pissen”, verkündete er in einer Lautstärke, als wolle er, dass auch der letzte in der Bar sitzende Depp von diesem Ereignis in Kenntnis gesetzt wurde.
Als würde er es geradezu darauf anlegen, dass jemand, der ein Problem mit ihm hatte, ihm folgte.
Ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein stand Robin auf.
Irgendwann in der letzten halben Stunde hatte er sich seinen Mantel wieder übergezogen, sodass es ihm nun wieder ein leichtes war, die Pistole unter dem Stoff zu verstecken.
Bloß keine Aufmerksamkeit erregen. Nicht, bevor es ohnehin zu spät war.
Er verharrte noch einige Sekunden, sah zu, wie Marc die Toilettentür öffnete und in dem Raum dahinter verschwand.
Ob sich noch weitere Personen in den Toilettenräumen aufhielten? Wenn ja, konnte es Robin schaffen, sie zu ignorieren und sich auf das zu konzentrieren, was schon so lange sein Vorhaben war?
Marc zur Strecke zu bringen, nachdem er die Angst in seinen Augen gesehen hatte, ihn im besten Fall sogar noch dazu gebracht hatte, um sein Leben zu flehen und ihn anzubetteln?
So, wie Marc ihn damals um Jonnys Leben hatte betteln lassen...
Die Tür quietschte, als Robin etwa eine Minute nach Marc den Toilettenraum betrat. Sofort sah er ihn, er stand am Pissoir und hatte seine Aufmerksamkeit offensichtlich ganz auf das gerichtet, was er dort eben gerade tat, blickte nickt auf, als das Quietschen die Stille des Raumes durchschnitt.
Die Kabinentüren waren alle geöffnet. Niemand war zu sehen.
Während er langsam die Pistole aus seinem Mantel zog warf Robin noch einen Blick auf die Tür, die zurück in das Zimmer der Kneipe führte, in dem so viele Menschen saßen, die ihn in seinem Vorhaben stören und es im schlimmsten Fall verhindern könnten.
Ein Schauer der Erleichterung durchfuhr ihn, als der das drehbare Schloss sah, das direkt unter der Klinke verlockend glänzte und sich mit Leichtigkeit verriegeln ließ.
Niemand würde ihn stören. Heute Abend würde es enden.
Das Geräusch, das das Schloss machte als es in die Verschlussposition gebracht wurde, bewirkte das, was Robins Eintreten und das Quietschen zuvor nicht geschafft hatten.
Marc sah auf und warf einen Blick über seine Schulter.
Im ersten Moment war da nichts in seinem Gesicht zu erkennen, was darauf hindeutete, dass er sich in irgendeiner Art Sorgen machte. Er wirkte so unbehelligt wie es bereits den ganzen Abend der Fall gewesen war, und es verstrichen einige Sekunden, in denen er Robin ausdruckslos musterte, bis dieser Ausdruck sich veränderte.
Dann jedoch registrierte Robin voller Genugtuung, wie seine Mine sich auf angsterfüllte Weise verzerrte.
“Hallo, Marc”, begrüßte Robin ihn in nahezu freundlichem Tonfall. Die Waffe hielt er dabei auf Marcs Brust gerichtet.
Weitere Sekunden verstrichen, in denen Marc ihn einfach bloß anstarrte, ohne auch nur ein Wort hervorzubringen.
Er schien nicht ganz begreifen zu können, was geschah, blinzelte ein paar Mal als würde ihm das bei helfen, klarer zu sehen. Den Anblick, der sich ihm bot, als eine Illusion zu entlarven.
Aber natürlich passierte das nicht. Robin war hier, genauso wie Marc. Sie standen sich gegenüber, starrten sich an.
Wie einige Wochen zuvor. Nur, dass die Rollen dieses Mal vertauscht waren.
“...Robin.” Endlich war es Marc gelungen, sich zu einer Antwort durchzuringen. Mittlerweile hatte er sich umgedreht, stand mit geöffneter Hose und starrem Blick da, fixierte die Pistole, dessen Mündung eindeutig auf ihn zeigte.
Nichts an dieser Situation war im eigentlichen Sinne komisch, dennoch drang ein kurzes Lachen aus Robins Kehle.
“Tu mir den Gefallen und mach deine Hose zu. Ich will das nicht sehen, und die Leute, die dich später finden werden, bestimmt auch nicht!”
Seine Stimme klang ruhig, selbstbewusst. Das war gut.
Vermutlich war es seiner Perplexität geschuldet, dass Marc dieser Aufforderung ohne ein Wort Folge leistete.
Er ließ Robin nicht aus den Augen, und dieser konnte deutlich erkennen, dass seine Finger beim Schließen des Reißverschlusses stark zitterten.
“Was hast du vor...?”, rang sich der riesige Mann sichtlich mühsam durch, zu sagen, und die Worte lösten in Robin gleichzeitig Genugtuung als auch eine gewisse Wut aus.
Ein bitteres Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, während er einen Schritt auf Marc zu machte.
Diese Frage. Was sollte er schon vorhaben? Was hatte Marc geglaubt, zu bezwecken, mit dem, was er getan hatte?
“Du hast ihn mir weggenommen”, murmelte Robin, und er war selbst überrascht darüber wie kühl seine Stimme klang. Die Pistole ruhte weiterhin in seiner Hand, zitterte kein bisschen. “Du hast mir meinen Freund weggenommen, die wichtigste Person in meinem Leben. Und jetzt fragst du mich ernsthaft, was ich vorhabe?”
Ein erneutes Lachen, das unbewusst aus seiner Kehle drang. Heiser und trocken.
Marcs Augen weiteten sich. Er schien unfähig zu sein, die Situation auf einen Schlag vollends zu begreifen, wollte zurückweichen, was durch das Pissoirbecken hinter ihm jedoch verhindert wurde.
“Robin...mach nichts dämliches...”
“Nichts dämliches?” Dieses Mal war Robins Lachen lauter, und dabei unangenehm schrill. Fassungslos betrachtete er Marc, diesen gigantischen Typen, der nun trotz seiner noch immer vorhandenen körperlichen Überlegenheit verängstigt dastand, aussah, als würde er sich am liebsten auf dem Boden zusammenrollen, die Augen schließen und warten, dass es vorbei war.
Wie armselig. Wie gottverdammt armselig.
Gut drei Meter lagen nun noch zwischen ihnen, und Robin hatte nicht vor, diesen Abstand weiter zu verringern.
Die Pistole sorgte dafür, dass er seinem Gegenüber überlegen war, dass dieser um sein Leben fürchtete und ihn mit einem Ausdruck ansah, in dem sich pure Angst und Flehen vermischten.
Er hatte nicht vor, diesen Vorteil aufs Spiel zu setzen, indem er Marc zu nahe kam, zu riskieren, entwaffnet zu werden und sich selbst als Opfer in dieser Szenerie wiederzufinden.
Eine Weile lang schwiegen sie beide.
In seiner Tasche vibrierte sein Handy ein weiteres Mal, doch lag die Wahrnehmung dessen ganz am Rande von Robins Bewusstsein.
In seiner Vorstellung hatte Robin sich ausgemalt, was er sagen wollte, hatte sich vorgestellt, wie er all seinen Schmerz hinausbrüllte um zu verdeutlichen, was Marc angerichtet hatte, ihm damit klarzumachen, dass es für ihn nichts mehr zu verlieren gab, keine Worte, die ihn davon abhalten konnten, die Sache endlich zu beenden...
Doch jetzt, wo es soweit war, brachte er nichts davon hervor.
Wozu?
Marc würde nicht verstehen, was er Robin angetan hatte. Er hatte Jonny nie gekannt, hatte lediglich gewusst, dass er Robin wichtig war, und das hatte vollkommen ausgereicht, um seinen Tod zu besiegeln.
Jeder Erklärungsversuch, jede emotionale Rede, wäre verschenkte Energie.
Und Robin hatte das sichere Gefühl, dass es das nicht wert war.
Marc hingegen fand seine Stimme nun wieder. Murmelte in zittrigem Ton, während er eine Hand in sein Hemd krallte: “Scheiße, nimm die Pistole weg! Du willst mich doch nicht wirklich erschießen?”
Die Frage hatte etwas Ernsthaftes an sich, und unwillkürlich spannte Robin sich mehr an.
“Ach, denkst du, ja?” Er lächelte, musste einen Moment lang gegen das überwältigende Bedürfnis ankämpfen, auf der Stelle abzudrücken.
Noch nicht. Zu früh.
“Was glaubst du, wieso ich das nicht tun sollte? Ist dir klar, dass ich dich seit Wochen gesucht habe? Dass ich immer bloß daran gedacht habe, dir gegenüberzustehen und dir zurückzuzahlen, was du meinem Verlobten angetan hast?”
Selbst Jonny nur zu erwähnen, fühlte sich irgendwie falsch an. Marc war das nicht wert.
“Ich hab mir so oft vorgestellt, dich umzubringen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut sich das angefühlt hat...” Ein weiteres Lachen. “Und du denkst wirklich, dass ich das nicht tun würde?”
Er hatte nicht darüber nachgedacht, was er sagte, aber seine Worte schienen die gewünschte Wirkung bei Marc zu entfalten.
Jetzt, endlich, schien er wirklich zu begreifen, sich darüber bewusst zu werden, dass das hier kein Spiel war, dass Robin mehr wollte, als ihm bloß ein wenig Angst einzujagen.
“Fuck. Nein, hör auf!” Die Stimme schien zu jemand anderem zu gehören, nicht zu dem riesigen Typen, der ansonsten in jeder Lebenslage überheblich und selbstsicher wirkte. Doch genau er war es, der so sprach. Er fürchtete sich um sein Leben, fürchtete, endlich die gerechte Strafe für seine Taten zu erhalten, von denen es noch weitaus mehr gegeben hatte als die, wegen der Robin das alles hier tat. “Wenn...wenn du mich umbringst, kommst du ins Gefängnis! Das ist dir klar, oder?”
Wahrscheinlich glaubte Marc, dass dieser Hinweis beeindruckend war. Robin dazu bringen würde, innezuhalten, sein Vorhaben zu überdenken.
Aber dem war nicht so.
Robin war vollkommen bewusst, was sein Handeln für Konsequenzen nach sich ziehen würde. Womöglich würde er es später einmal bereuen, doch für den Moment hatte der Gedanke an eine Verhaftung nichts Bedrohliches an sich wenn man bedachte, was die Belohnung dafür sein würde.
In vollkommen gleichgültiger Tonlage erwiderte er daher: “Natürlich ist es das. Vielleicht ist das etwas unfair, immerhin wäre das Gefängnis eigentlich deine Strafe. Aber weißt du was?”
Eine Pause, in der sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, kalt und in gewisser Weise geradezu psychotisch.
“Es ist mir egal. Ich weiß, du kannst das wahrscheinlich nicht nachvollziehen, weil du ein narzisstisches, emotionsloses Arschloch bist, aber...”
“Das stimmt nicht!”
Robin musste zugeben, dass Marcs aufgebrachter Zwischenruf ihn überrumpelte. Perplex starrte er sein Gegenüber an, der seinen Blick seinerseits erwiderte, mit einem Ausdruck in den Augen, der nicht zu deuten war.
Wut? Empörung?
Er beobachtete, wie Marcs Hand sich fester in den Stoff seines Hemdes krallte, und als dieser weitersprach, war ein Teil der zuvor vorherrschenden Angst aus seiner Stimme verschwunden.
“Du tust so, als wärst du unschuldig an dem, was passiert wäre! Dabei warst du doch derjenige, der mir zuerst meine Familie genommen hat!”
Der Schmerz, den diese Worte in Robin auslösten, war unbeschreiblich.
Er schnappte nach Luft, starrte Marc dabei fassungslos an, und einen schrecklichen Augenblick lang hatte er das Gefühl, dass die Pistole ihm aus den Fingern gleiten und zu Boden fallen würde, wo sie aufschlagen und womöglich in Marcs Richtung rutschen würde, der diese Gelegenheit sofort ergreifen würde, und...
Dann jedoch verfestigte sich sein Griff wieder.
Seine Mine wurde ausdruckslos, der Schmerz ebbte ab, auch wenn er später mit Sicherheit zurückkehren würde sobald er Marcs Worte Revue passieren lassen würde...
Du tust so, als wärst du unschuldig an dem, was passiert ist.
Was für ein perfider Hohn. Eine widerliche Scharade. Und Marc schien wirklich zu glauben, dass er im Recht war mit dieser Behauptung.
“Wag es nicht, das zu vergleichen”, murmelte Robin. Er klang vollkommen emotionslos, als hätte der Vorwurf jegliches Empfinden aus seinem Körper vertrieben, und ein wenig fühlte es sich auch so an.
Er erwartete Widerspruch, weitere Versuche seitens Marc, das gesamte Geschehen mit skurrilen Argumentationen zu rechtfertigen, es so darzustellen, als wäre er der eigentlich leidtragende bei dem Ganzen und Robin der Böse, der verdient hatte, was mit Jonny passiert war.
Du warst doch derjenige, der mir zuerst meine Familie genommen hat.
In Marcs verdrehter Wahrnehmung, die geprägt war von Egozentrismus und dem Glauben, alles, was er haben wollte, besitzen zu können, mochte das durchaus der Realität entsprechen.
Selbstverständlich war sein fragiles Ego gekränkt gewesen, als er mitbekommen hatte, dass seine Frau samt seiner zwei Kinder und dem Hund aus der gemeinsamen Wohnung verschwunden war, nichts weiter zurücklassend als einen Zettel mit dem Satz “Ich hoffe, du wirst alleine glücklich, Arschloch”.
Er war außer sich gewesen damals, war noch am selben Abend in der Bar aufgetaucht, die Robin damals noch mit seiner Mentorin Sapphire geleitet hatte, weil er sich ganz genau hatte denken können, wer seiner Carla dabei geholfen hatte, die Flucht vor ihm zu organisieren.
Er hatte getobt, sodass er schnell von Sicherheitsleuten herauskomplementiert worden war, und bereits an diesem Abend hatte er Schwüre ausgespuckt, sich dafür zu rächen, dass Robin und Sapphire und wer wusste wer noch dafür gesorgt hatten, dass seine Familie nicht länger unter seiner Kontrolle stand.
“Ich hätte die Schlampe umbringen sollen, als sie das erste Mal von Scheidung gesprochen hat”, hatte er gebrüllt und von außen gegen die Tür getreten. “Aber jetzt wird ich das eben mit euch machen, ihr gottverdammten Wichser!”
Kurz darauf war er von der Polizei eingesammelt worden, die von besorgten Nachbarn alarmiert worden war, und eine kurze Zeit lang war er einfach verschwunden gewesen.
Das nächste Mal, als er in der Bar aufgetaucht war, hatte er gefasst gewirkt.
Keine Flüche, kein Herumgebrülle.
Und trotzdem war etwas von ihm ausgegangen, eine Art Aura, die ihn umgeben hatte, das ausgesprochen bedrohlich gewirkt hatte.
In den letzten Wochen hatte Robin sich des Öfteren gefragt, was passiert wäre, hätten er und Sapphire damals anders gehandelt. Hätten sie, als Carla Richards mit blauen Flecken übersät in die Bar gekommen war, auf dem Arm ihre kleine Tochter, und mit zittriger Stimme um Hilfe gebeten hatte, einfach abgelehnt.
Natürlich waren diese Überlegungen obsolet. Niemals hätte Sapphire sie weggeschickt, war doch mehr als deutlich gewesen, dass Carla sich in der Gegenwart ihres Mannes in ernsthafter Gefahr befunden hatte.
Sapphire hätte niemals jemanden in einer solchen Situation ihre Hilfe verwehrt, und auch Robin wäre dazu wohl nicht in der Lage gewesen.
Doch, so egoistisch diese Vorstellung auch war... hätten sie Carla nicht geholfen, dann wäre Jonny jetzt noch am Leben.
Nicht fair, schoss es Robin wieder durch den Kopf, ließ ein kaltes Lächeln auf seinem Gesicht erscheinen. Nichts in diesem gottverdammten Leben war irgendwie fair.
Wieder standen sie sich schweigend gegenüber, und niemand schien zu wissen, was er noch sagen sollte.
In Marcs Mine war die Angst zurückgekehrt, sein Wille, zu argumentieren und sich zu rechtfertigen schien nur von kurzer Dauer gewesen zu sein.
So feige. Das passte zu ihm. Ein pöbelndes, nazistisches Arschloch, das es nicht hatte ertragen können, dass seine Familie seiner gewalttätigen Kontrolle entkommen war, der in Anbetracht seines eigenen Todes jedoch kuschte wie ein verstörter Hund.
Und es wirkte wirklich, als habe er nicht damit gerechnet, dass er Robin auf diese Weise gegenüberstehen würde.
Ihm war gar nicht wirklich klar, was er mir damit angetan hat, ging es Robin durch den Kopf, während sein Finger sich leicht um den Abzug der Pistole krümmte. Er wollte mir wehtun, aber er hat gar nicht kapiert, was das wirklich mit mir macht...
Was für ein Hohn. Als wäre das für Marc bloß ein Spiel gewesen, ein großer Spaß. Ein Spiel, das Jonny das Leben gekostet hatte.
“Leg dich hin”, befahl Robin, ein weiteres Mal überrascht von dem festen Klang seiner Stimme.
In Marcs Augen blitzte die Furcht, und einen Augenblick lang sah es aus, als wollte er widersprechen.
Dann jedoch senkte er bloß stumm den Blick. Kniete sich auf den Boden und ließ sich dann auf die Seite sinken.
“Tu das nicht”, murmelte er. Worte ohne Nachdruck, und ohne Bedeutung.
Robin kümmerte es nicht, was er sagte.
Er hatte Marc endlich dort wo er ihn haben wollte, wo er ihn so oft in seinen Träumen gesehen hatte, ob im Schlaf oder im wachen Zustand. Er hatte die Kontrolle, er hatte die Macht, das alles zu beenden.
Rache. Vergeltung. Den Preis für das einzufordern, was Jonny widerfahren war.
Und doch...so sehr diese Szenerie auch dem glich, was er sich so sehr gewünscht hatte, die erhoffte, nein, erwartete Genugtuung dieses Anblicks blieb aus.
Da war keine Freude. Keine Erleichterung. Auch keine Reue, aber das war wohl nicht überraschend.
Da war einfach... nichts.
Zitternd hielt er die Waffe in seiner Hand. Auf diesen Moment hatte er gewartet. Der Mann, der sein Leben zur Hölle gemacht hatte, lag vor ihm. Hilflos war er ihm ausgeliefert und er sollte für all seine Taten zahlen. Wie oft hatte er sich ausgemalt, dem Kerl auf alle möglichen Arten das Leben zu nehmen? Immer war er ohne Zweifel auf ihn zu geschritten und hatte ihn skrupellos umgebracht. Ohne auch nur einmal zu zögern.
Und jetzt stand er hier mit einer geladenen Waffe in der Hand, und er zögerte.
Dabei hatte dieser Kerl es allemal verdient.
Er hatte ihm so viel in seinem Leben genommen, was er liebte.
Doch sollte er einen Mord mit einem Mord vergelten?
Ein weiteres Mal das Vibrieren in seiner Tasche, das ihn den ganzen Abend über begleitet hatte.
Bisher hatte er es ignoriert, wenn nicht sogar als störend wahrgenommen.
Jetzt jedoch, in dieser Situation, die sich so ganz anders anfühlte als erwartet, wirkte der Signalton wie etwas anderes.
Ein Rettungsanker. Eine ausgestreckte Hand, die er ergreifen konnte. Die ihn herausziehen konnte aus diesem verwirrenden Strudel, in den er sich hatte hinabreißen lassen.
“Nein”, murmelte Robin, mehr zu sich selbst als zu Marc. “Ich bin nicht wie du. Und das werde ich auch niemals sein.”
Womöglich würde er diese Entscheidung später bereuen. Würde sich wünschen er hätte seinen Plan einfach durchgezogen, ignoriert, dass ihn die Vorstellung in diesem Moment nicht wie erhofft glücklich machte.
Doch hier und jetzt wusste er, dass das, was er nun tat, das Richtige war.
Er ließ die Waffe sinken. Griff erneut nach seinem Handy, und nahm nun, schließlich und endlich, den Anruf an.
Seine Stimme klang schwach, brüchig, und dennoch klar verständlich: „Hallo, Lola. Tu mir bitte den Gefallen und ruf die 911."
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Vergeltung
Short StoryDer Grabstein fühlte sich kühl an unter seinen Fingern, als er darüber strich. Es hatte geregnet letzte Nacht, die Feuchtigkeit war noch immer spürbar, auch wenn die Sonne die Wolkendecke bereits seit einiger Zeit durchbrochen hatte und ihre Strahle...