Kapitel IX

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Wie lange sich Liu Jin in dieser absoluten Finsternis befand, vermochte er nicht mehr zu sagen. Waren es Stunden, Tage oder bereits Wochen?! Mittlerweile konnte er selbst seine Hände nicht mehr bewegen. Vielleicht fühlte sich so der Tod an. Aber wer oder was hatte ihn getötet? Ob Uilos wohl um ihn trauern würde? In seiner Gedanken- und Gefühlswelt herrschte das totale Chaos. 

Ich kann nicht gestorben sein... ich spüre immer noch mein Herz schlagen... oder ist das nur ein Echo meiner restlichen Existenz?...

Die absurdesten Ideen formten sich in seinem Kopf. Hatte Uilos ihn betrogen? Wurde er von ihm in eine Falle gelockt? Jedes Mal, wenn ihm diese Gedanken in den Sinn kamen, verfluchte er sich selbst. Wie konnte er nur so über seinen Freund denken? Aber wer war es dann? Die Goroth waren dazu nicht in der Lage. Sie sahen in ihm nur Futter und hätten ihn an Ort und Stelle zerrissen. Auch wäre es ihnen nicht möglich gewesen, sich an ihn heranzuschleichen, dazu waren sie zu laut und sie stanken wie verwesendes Fleisch. Oder waren es diese anderen Menschen, wie hatte Uilos sie noch genannt? Aphadon, ja das war der Name. Aber Uilos erwähnte auch, dass sie eines Tages spurlos verschwanden. Sich vor den Goroth verbargen und eingeschlossen hätten. Waren sie es, die ihn aufgegriffen und verschleppt hatten? War er jetzt bei ihnen? Wurde er von ihnen in diese Finsternis gesperrt? Aber warum kam dann niemand zu ihm? Liu Jin verzweifelte langsam. Allein mit seinen Gedanken in der Dunkelheit war er dem Wahnsinn nahe. Wieder einmal unternahm er den Versuch, um Hilfe zu bitten.

"Ist da jemand?... Bitte, ich benötige Wasser..."

Doch wie bereits zuvor erhielt er keinerlei Antwort. Liu Jins Lippen fühlten sich spröde und rissig an. Daher war er sich sicher, dass er seit einigen Tagen hier liegen musste. Auch waren sie an einigen Stellen eingerissen, denn er schmeckte gelegentlich den metallischen Geschmack seines Blutes. Vorsichtig leckte er darüber. Er empfand es als seltsam. Sein gesamter Körper war taub, nur sein Gesicht nicht. Er konnte seine Augen bewegen, öffnen und schließen sowie seinen Mund. Benutzte man an ihm die Nadeln, die Uilos ihm in den Hals gestochen hatte, um ihn zu rasieren? Dass sein Körper noch existierte, konnte er nur daran festmachen, dass der Raum mittlerweile penetrant nach seinen Ausscheidungen roch. Die Verzweiflung, die er bislang verspürt hatte, wandelte sich allmählich in Wut. 

"Warum werde ich hier festgehalten?... Warum habt ihr mich gefangen genommen, wenn es euch jetzt nicht kümmert, ob ich hier sterbe?... Was seid ihr nur für Monster?!..."

Doch auch darauf erhielt er keine Antwort. Liu Jin konzentrierte sich, wie damals im Schnee, auf seinen Körper. 

Los komm schon... beweg dich endlich... ich werde hier nicht sterben... nicht so... 

Die Wut und der Zorn, die sich nun immer mehr in ihm aufbauten, verliehen ihm scheinbar enorme Kräfte. Er konnte spüren, wie sein Körper anfing zu beben.

Ja, weiter so... aufgeben ist keine Option...

Er zwang seine Hände sich zu Fäusten zu ballen und tatsächlich, sie gehorchten ihm wieder. Jetzt der absoluten Raserei verfallen, spannte er willentlich jeden Muskel in seinem Körper an. Den darauffolgenden Schmerz, der ihn durchzuckte, nahm er willkommen an, denn dies war für ihn ein Zeichen, dass es ihm gelingen würde, seinen Fesseln zu entkommen. Mit einem Aufschrei, der eines wilden Bären würdig war, riss er seine Arme hoch und führte sie an seinen Hals. Er sollte recht behalten. Dort steckten tatsächlich Nadeln. Zornig riss er sie heraus. Sobald sie entfernt waren, erwachte sein Körper wieder zum Leben. Liu Jin atmete erleichtert auf, war jedoch direkt in Alarmbereitschaft. Falls man ihn die ganze Zeit über beobachtet hatte, würden sie es tatenlos hinnehmen, dass ihr Gefangener sich so einfach befreit? Er lauschte in die Stillt, doch nichts geschah. Behutsam tastete er sein nahes Umfeld ab. Er lag nicht auf dem Boden, denn er griff neben sich ins Leere. Langsam setzte er sich auf und befühlte die glatte Oberfläche direkt unter ihm. Sie fühlte sie kühl an. Vorsichtig schwang er seine Beine zur Seite und tastete nach dem Boden, den er schnell unter seinen Füßen spürte. Die Hände an den Rand seiner Liege festgekrallt, versuchte er aufzustehen. Doch seine Beine gaben direkt nach und er sackte in sich zusammen. Das lange Liegen und die zuvor getätigte Anstrengung ließen seine Muskeln zittern. Jetzt, wo er sich langsam wieder beruhigt hatte, bemerkte er seine eigentliche Schwäche. Auch wurde ihm soeben bewusst, dass er vollständig entkleidet war.  

Who am IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt