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Da wir Jisung gestern Abend die Nachricht hinterlassen hat, dass er mich morgen nicht abholen wird, fahre ich nun alleine mit dem Bus. Und es ist kein Problem für mich, denn Jisung muss mich auch nicht immer fahren. Wahrscheinlich hat er diesen Morgen viel zu tun, was ganz gewöhnlich für Studenten ist. Oder sein Auto muss von jemand anderen benutzt werden oder es funktioniert einfach nicht. Naja, es kann alles sein. Und ich sollte aufhören, mich selbst mit Fragen zu bombardieren, da ich erstens keine Antwort in den nächsten dreißig Minuten zumindest bekommen werde, und zweitens ist die Chance hoch, sowieso keine Antwort zu bekommen, da mich sein Privatleben absolut nichts angeht, obwohl es mich schon tierisch interessiert, was er außerhalb der Uni so treibt.

Irgendwann steige ich aus und lasse weiterhin meine Kopfhörer im Ohr stecken, da Musik mir wirklich dabei hilft, den Alltag zu überstehen. Mein Kopf füllt sich mit Songtexten von Liedern, die mir helfen, mit der schweren Zeit besser klarzukommen und Traumata zu verarbeiten. Diese Texte vertreiben die Gedanken, welche mir schaden. Und welche mich dazu bringen könnten, mir etwas anzutun. Ich will clean bleiben und in den letzten drei Wochen hat es hervorragend geklappt!

Irgendwann betrete ich den Parkplatz und suche nach Jisung. Allerdings fällt mir schnell auf, dass nirgendwo sein Auto steht. Vielleicht ist er heute einfach nicht mit dem Auto gekommen, wie ich es schon vorhin vermutet habe. Und was wenn ihm etwas passiert ist? Ein Autounfall. Ich könnte das nicht verkraften, wenn es dazu kommen sollte, doch ich bin ganz zuversichtlich, dass Jisung auf sich aufpasst. Schließlich ist er ein guter Autofahrer. Es muss einen anderen Grund haben. Vielleicht hat er aber auch einen Termin und verspätet sich deshalb. Ich mache mr viel zu viele Gedanken um Jisung. Ich schiebe nicht einmal so Panik, wenn Boram und ich zwei Tage lang nicht schreiben.

Ich sollte mich ein wenig zusammenreißen.

Im Vorlesesaal angekommen setze ich mich auf meinem Stammplatz, welcher jetzt so leer wirkt, weil Jisung nicht da ist. Ich hinterlasse ihm schnell eine Nachricht, in der steht, wo er sich gerade befindet und ob alles in Ordnung mit ihm wäre. Nur ein Haken wird mir angezeigt und ich schlucke laut. Ich hoffe wirklich, dass ich nicht allzu lange warten muss, bis er auf meine Fragen antwortet.

Jetzt habe ich eine Vorlesung zu linearen Datenstrukturen. Das Prinzip von diesen wird erklärt, doch das ist auch alles gewesen, was ich soweit mitbekommen habe. Dann bin ich verschwunden. Physisch noch anwesend, doch geistlich bin ich wieder woanders. Ich weiß nicht wo, aber von der Vorlesung bekomme ich nichts mehr mit. Gewitterwolken ziehen in meinen Kopf und ich spüre, wie sich die negative Energie ausbreitet. Neue Fragen kommen auf, obwohl sich diese zum tausensten Mal wiederholen. Wer bin ich? Was bin ich? Und wieso mache ich diesen Scheiß eigentlich mit? Wieso? Wieso lebe ich noch? In den letzten Jahren ist nur Mist passiert also wieso mache ich mir noch diese Mühe?

Mein Wille ist nicht stark genug, um diesen Gedanken zu fliehen. Ein Teil will zurückkehren. Und ein anderer Teil will sterben. Weg von hier. Ich bin sowieso psychisch weg. Es ist nur noch ein Schritt. Meine Gedanken werden von Sekunde zu Sekunde schlimmer. Bilder von Messern kommen wir in den Kopf, wie ich diese in mir rahme. Das fließende Blut ist herrlich anzusehen. Wenn dies die Realität wäre, dann wäre ich erlöst. Doch es ist nicht die Realität.

Ich reiße meine Augen auf und bin JETZT in dieser Realität. Da soll ich jetzt besser bleiben, bevor es noch böse für mich endet.

Ich bekomme mit, wie der Professor von Arrays spricht, doch da habe ich keine Lust zuzuhören. Ich weiß, was Arrays sind, doch bei dem Wort selbst kriege ich Kopfschmerzen. Ich habe keine Lust zuzuhören und ich verfalle sofort wieder in Gedanken. Wie anfällig ich dafür doch bin, schnell in dieses Loch zu fallen und das nur, weil ich es Satt habe, von Pflichten konfrontiert zu werden, auf die ich keine Lust habe. Und von Gefühlen bombardiert werde, die mir schaden. Jisung... wieso kannst du nicht hier sein?

Ich habe das Gefühl, dass meine Gedanken nur so schlimm sind, weil Jisung mir persönlich fehlt. Die Vorlesungen sind so anders ohne ihn.

Und das Schlimmste an dem ganzen Scheiß ist, dass es wirklich nur meine erste Vorlesung. Wie soll ich es den gesamten Tag durchhalten? Ich werde daran kaputt gehen, doch das lasse ich einfach mal zu, ohne etwas dagegen zu tun. Ich verdiene es zu leiden – so hätte es Hyunjin zu mir gesagt, was auch immer täglich gemacht hat.

Meine Augen öffnen sich wieder und bemerke einen nahezu leeren Saal. Die Vorlesung ist zu Ende und die letzten Studenten packen ihre Taschen oder fragen den Professor bezüglich des Themas aus. Zügig packe ich meine Tasche zusammen und eile aus dem Vorlesesaal. Auf Kommando könnte ich jetzt anfangen zu weinen. Gerade will ich nichts mehr als das. Das sind mit Abstand die schlimmsten 90 Minuten in den letzten zwei Wochen gewesen. Ich muss es verarbeiten, doch dafür habe ich keine Zeit. Gleich folgt die nächste Vorlesung, die mich weiterhin auseinandernimmt.

Ich greife nach meinem Handy, um nachzugucken, ob Jisung mir geantwortet hat. Nach wie vor nur ein Haken, was mich wirklich verunsichert. Mein Herz fängt an, immer schneller zu pochen, als würde es in jeder Sekunde explodieren. Ich spüre das Gefühl von Angst. Die Angst und Sorge um Jisung. Aber auch die Sorge um meine mentale Gesundheit.

Gerade will ich mich begraben gehen. Was soll ich machen?

ʙʀɪɴɢ ᴍᴇ ʙᴀᴄᴋ ᴛᴏ ʟɪғᴇ ᵐⁱⁿˢᵘⁿᵍ ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt