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Auf der Polizeistation war es gespenstisch ruhig. Nur das Ticken der Uhr, welche ihr gegenüber an der bereits ergrauten weißen Wand hing, durchbrach die Stille. Mitternacht. Lucy fragte sich, wie so viel Zeit vergehen konnte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass maximal zwei Stunden vergangen sein könnten, seit Kasimir sie aus Kians Zimmer gezappt hatte. Es musste Mittag sein. Ihr fehlten ganze zwölf Stunden, verdammt!
Bis eben saß der Polizist noch, der sie zu ihrem Glück ohne Handschellen abgeführt hatte und sich als Herr Holzer entpuppte, am Schreibtisch, neben welchem auch sie auf einem ungemütlichen Stuhl hockte. Sein Arbeitsplatz war das reinste Chaos. Mehrere Papierstapel türmten sich auf der grauen Plastikoberfläche des Tisches, blaue Kugelschreiber, eigens für das Polizeirevier angefertigt, lagen verstreut neben Tastatur und Zettelchen für schnelle Notizen. Unwillkürlich fragte sie sich, wie viel Arbeit in ländlichen Gebieten wohl täglich anfielen. Auf dem Computerbildschirm bewegte sich das Logo der Landespolizei wie beim Ping Pong auf dunklem Hintergrund. Geradezu hypnotisierend. Solange der Polizist anwesend gewesen war, hatte Lucy weder Kasimir ihre abertausenden Fragen stellen noch sich ihre momentane übernatürliche Lage vor Augen führen können. Doch selbst jetzt, nachdem der Polizist den Raum verlassen hatte, entschied sich Lucy lieber für Schweigen, anstatt dem brennenden Gefühl in ihrem Inneren nachzugeben.
Vermutlich hätte sie Panik schieben sollen. Immerhin saß sie gerade im Polizeirevier der Nachbargemeinde, der blaue Pinguinpyjama mit Blutflecken beschmutzt – hoffentlich bekam sie den wieder sauber, das war ihr Lieblingspyjama – und der liebe Herr Holzer hatte ihr bereits eingebläut, dass ihr Vandalismus und Sachbeschädigung viel Geld kosten würden. Oder eher ihren Eltern. Diese wurden bereits angerufen, genauso wie die Ladenbesitzerin. Lucy wollte sich weder ihren enttäuschten Eltern noch der armen Frau Heinrich stellen. Konnte Kasimir sie nicht einfach in die Zwischenwelt zurückkatapultieren? Sie wegbringen? Irgendwohin, wo es viel Ben & Jerry's gab? Ihre Hände zitterten, da sie schon viel zu lange nichts gegessen hatte und ihrem glamourösen Auftritt in der Zwischenwelt zu verdanken, hatte sich auch das letzte Abendbrot verabschiedet. Herr Holzer hatte ihr zwar erlaubt, sich im Bad auf der Wache frisch zu machen, wo sie festgestellt hatte, dass ihre Verletzungen anfangs schlimmer ausgesehen hatten, als sie wirklich waren, und ihr außerdem ein Glas Wasser gebracht, aber keine Schokolade. Das wäre für eine Kriminelle wahrscheinlich auch zu viel verlangt. Ansonsten hatte er ihr Socken und Schuhe angeboten, beide etwas zu groß für ihre kleinen Füße, aber zumindest warm. Und auch ein wenig ekelig, denn sie vermutete, dass er sie aus der Fundgrube rausgekramt hatte.
Lucy hatte Panik, aber nicht, weil ihr Strafen drohten. Kurz lachte sie auf. Wie viel in den zwei Stunden geschehen waren, dass mitten in der Nacht in einem Revier zu hocken noch nicht einmal das Außergewöhnlichste war.
Kasimir, der noch immer so winzig wie ein übergroßes Radieschen war, schwebte vor der Wand ihr gegenüber und begutachtete die Zettel auf der Pinnwand, die unter der Uhr hing. Irgendwelche Termine für Veranstaltungen waren daran angepinnt. Der Polizist hatte Kasimir nicht bemerkt, weswegen sie annahm, dass er den Geist gar nicht sehen konnte. Sie fragte sich, woran das lag.
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one haunting story of one blue girl
Paranormal⸻ Sie leben unter uns. Kleine und große Wesen, düstere Schatten in der Nacht, Lichtreflexionen am Tag. Doch wer hat Angst vor wem? ⸻ Lucy hat geglaubt, nicht viele Probleme zu haben. Sie hat gedacht, sich vor nichts mehr fürchten zu müssen. Doch als...