Six

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"Nein, so nicht. Bei der momentanen Änderungsrate bestimmst du die Tangentensteigung eines Punktes, da brauchst du keinen Intervall." Wir sitzen an seinem Schreibtisch, zwei dicke Mathebücher und ein Collegeblock mit lauter durchgestrichenen Gleichungen liegen vor uns.

Ich brüte über der Aufgabe: "Okay, nochmal. Zuerst Ableitung, dann x und y einsetzen, nach m auflösen. Dann in die Funktion x, y und m einsetzen, nach b auflösen und fertig." Ich knalle Luke den Collegeblock vor die Nase. "Da, ich hab's!" Er lächelt mich hinreißend an und zieht mich vom Stuhl hoch.

"Fantastisch, ich hab doch gewusst, dass du das kannst." Ehe ich reagieren kann fasst er mich um die Taille und wirbelt mich einmal im Kreis herum. Überrascht klammere ich mich an ihn, er drückt mich fester an sich. Ich werde wieder von seinem Duft übermannt, von seiner Nähe und seinem wunderbaren Körper.

Ich kann nicht klar denken, als er mich wieder absetzt und mir tief in die Augen schaut. Unsere Gesichter sind nur Zentimeter voneinander entfernt und er übt Druck auf meine Hüfte aus, als wolle er mich in sich hineinziehen.

Plötzlich fliegt die Zimmertür auf, mit einem lauten Knall trifft sie den Kleiderschrank direkt daneben. Im Rahmen steht ein riesiger bullenartiger Kerl, die Hände links und rechts neben den Hüften, zu Fäusten geballt, als wolle er jeden Moment auf uns los gehen. "Wer is dat Weib? Schmeiß die Alte raus und komm voran in den Keller!", brüllt er jetzt und tritt einen Schritt ins Zimmer. Mein Gott, der Typ ist gebaut, wie ein Stier, ein Wunder, dass er überhaupt noch durch die Tür passt.

Luke schiebt sich vor mich und ich klammere mich dankbar hinten an seinem T-Shirt fest, vor Angst schlottern meine Knie. "Lass sie in Ruhe, sie hat damit nichts zu tun! Ich helfe ihr bei Mathe.", erwidert Luke ruhig. Ich zweifele aber keine Sekunde daran, dass die beiden sich hier gleich an die Gurgel gehen, wenn nicht bald was passiert. Sowohl mein ebenfalls großer und starker Goldblondie, als auch der Stiernacken wirken wild entschlossen ihre beiden Standpunkte bis aufs Blut zu verteidigen.

Stiernacken macht noch einen weiteren Schritt in den Raum hinein und hebt drohend die Fäuste. Oh Schreck, jetzt schnell, bevor das hier noch in eine Kneipenschlägerei ausartet. "Ist schon gut, ich bin sofort weg, keine Sorge.", bringe ich hastig hervor, löse meine Finger mühevoll aus Lukes Shirt und eile zu meinem Rucksack neben dem Schreibtisch.

Eine derartige Angst habe ich in meinem Leben bisher noch nie verspürt, als ich hinter Stiernacken zur Tür schleiche und hindurchschlüpfe. Weder er noch Blondie nehmen Notiz von mir, sondern starren sich weiter stur in die Augen. Auch an der Haustür lege ich keinen Stopp ein, sondern haste einfach weiter auf die Straße.

Mein Gott, was war das denn gerade bitte? Jetzt stehe ich hier neben der Maschine von Luke und habe keine Ahnung, was im Haus vor sich geht. Was, wenn die beiden sich wirklich prügeln?
Was, wenn Luke verletzt wird?
Was, wenn Luke schon am Boden liegt?

Jetzt habe ich erst Recht Angst, ich muss sofort zurück und nach ihm sehen. Wild entschlossen stürme ich zurück ins Haus und die Treppe hinauf, natürlich habe ich nicht darüber nachgedacht, was passiert wenn Stiernacken noch da ist. Ups, mein Fehler.

Ich platze wieder ins Zimmer, unangekündigt und ernte dafür einen entsetzten Blick von Blondie der über die Schulter von Stiernacken die Tür sehen kann. "Wat will die schon wieder hier? Hab ich mich unklar ausgedrückt oder wat? Mach dat du wegkommst unzwar ganz flott!" Dieser hat meine Anwesenheit inzwischen ebenfalls realisiert und tritt mit seinem massigen Körper ganz nah vor mich. Ich spüre seinen heißen Atem, der auf mich herab strömt und unwillkürlich ducke ich mich, mache mich klein und möchte möglichst wenig Angriffsfläche bieten. Trotzdem habe ich das Gefühl der Kerl kann mich mit zwei Fingern in der Mitte durchbrechen.

Aber glücklicherweise ist Blondie ja auch noch da. Mit einem Satz nach vorn schiebt er sich in die Lücke zwischen dem Bullen von Mann und mir und übt Druck auf seine Brust aus. Er beschützt mich, das ist soooo süß. What? Schluss! Das ist wieder eine super prekäre Lage, in die du dich da wieder so unfassbar geschickt manövriert hast und du denkst an nichts anderes, als dass Blondie süß ist? Genau.

"Ich bring sie zurück, mach langsam Justin, sie ist keine Gefahr, in keinster Weise! Ich fahre sie jetzt zurück nach Hause und komme dann wieder.", erklärt Luke sehr langsam und streckt besänftigend die Hände aus. "Mach voran, Junge, du weißt, wat dir sonst blüht!" Damit schubst er Luke zurück und drängt sich an uns vorbei, aus der Tür.

Blondie packt mich hastig an den Oberarmen: "Bist du wahnsinnig, Aline? Wieso bist du nicht unten geblieben?" Plötzlich stehen mir die Tränen in den Augen, ich wollte doch nur helfen, vermutlich habe ich die Situation für ihn nur noch schlimmer gemacht. "Ich... Ich-", stottere ich.

Er zieht mich in seine Arme, schlingt diese um meine Taille und hält mich. " Hey, schon gut, Großauge, du brauchst keine Angst zu haben. Jetzt hast du ja mich.", flüstert er.

Hab ich mich jetzt verhört oder hat er gerade meinen Besitzanspruch an ihm veräußert? Ich raste aus, er gehört mir! Warte, was? Hab ich nicht eben noch gesagt ich will ihn gar nicht haben? Ich glaube ich sollte echt mal ne Runde schlafen gehen.

Trotzdem ich fühle mich einfach zu wohl in seinen Armen. Ich will da nie wieder weg, am liebsten würde ich mich in ihm verkriechen und den ganzen Tag an seiner Haut schnüffeln. Gruselig.
"Na komm, meine Schöne, ich bring dich heim."

Bild: Justin (Lazar Angelov)

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