Kapitel.1

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Das Ringen der Schulglocke hallt in meinen Ohren wieder als ich meinen Rucksack zusammen packe. Ich meine fast, ich kann sie fühlen, die starrenden Blicken auf meinem Rücken. Ich meine fast, ich kann es hören, das Flüstern, ohne ein lautes Wort zu sagen. Das würden sie sich nicht trauen. Ich bin es gewohnt, doch zur selben Zeit merke ich, wie der Ärger anfängt, sich langsam in mir aufzubauen. Wieso sprechen diese Feiglinge nicht direkt mit mir? Haben sie solche Angst? Denken sie, sie würden mit einer gebrochenen Nase enden? Hätten sie verdient. Mit einem gestellten Lächeln richte ich mich auf, erlaube dem Ärger nicht, mich weiter zu übernehmen, zu kontrollieren. Dann würde ich am Ende nur das tun, was sie möchten, dass ich tue. Ich würde das Verhalten zeigen, wegen welchem sie flüstern.

"Ein schönes Wochenende!", sage ich, nicht an sie, sondern an meine Lehrerin gerichtet. Sie ist nett und unterstützt mich, obwohl sie es weiß. Obwohl sie alle es wissen. Ich verlasse das Schulgebäude, laufe die kleine Treppe hinunter und warte auf meine beiden Freunde. Ich mache mir nicht viel aus Freunden, und die meisten halten sich sowieso fern von mir, entweder aus eigenem Antrieb, oder weil ihre Eltern das so wollen. Man könnte sagen, ich habe gelernt, mir nicht viel aus Freunden zu machen. Es ist ein warmer, sonniger Tag, der Stoff meines weiten, hellblauen Sommerkleides umspielt meine Knöchel durch den leichten Sommerwind, und meine orangen Haare fallen in Locken über meine Schultern und meinen Rücken. Herbst Orange, nennt meine Adoptiv-Mutter sie gerne, wohingegen meine Augen so grün sind wie der Frühling.
Meine Adoptiv-Mutter ist sehr nett, sie versucht es zumindest, und ich mag sie eigentlich recht gerne. An meine leiblichen Eltern kann ich mich sowieso kaum noch erinnern, ich war sehr jung als ich ihnen weggenommen wurde. Die Leute, die mich ihnen wegnahmen sagten, ich sollte an einen sichereren Ort gebracht werden, mit Menschen, die sich ordentliche um mich kümmern können und sicherstellen, dass ich nicht so werde, wie er.

"Olivia! Wir sind hier!" höre ich Dylan rufen. In diesem Moment bin ich froh, dass ich meine Kopfhörer noch nicht in mein Handy gesteckt habe. Heavy Metal, ich sollte es hassen, es ist schlechte Musik, verbotene Musik. Verboten wie so vieles, das auch nur etwas mit meinen leiblichen Eltern zu tun haben könnte. Mein Vater hat in der Gefängniszelle immer Heavy Metal gehört, also ist es für mich verboten. Meine Mutter trug eine Lederjacke, also werde ich nie eine bekommen oder tragen dürfen. Diese Liste an verbotenen Dingen ist länger, als mir lieb wäre. Sogar jede Erwähnung von ihnen ist mir eigentlich verboten, andere Leute dürfen über sie reden, so viel sie das wollen, nur ich darf das nicht. Es soll ja schließlich ein gut gewahrtes Geheimnis sein, von dem sie wirklich glauben, es aufrechterhalten zu können. "Ahja!", rufe ich zurück als ich den Rest des Weges zu ihnen laufe. Dylan und Norman sind die einzigen Freunde, die ich wirklich habe. Eigentlich, so denke ich manchmal, sollten wir uns hassen, schon alleine, weil Dylans leiblicher Vater Eddie Brock ist. Aber das tun wir nicht. Vielleicht diktiert Familie doch nicht alles.

Dann denke ich daran, dass Dylans Vater einer der nettesten Menschen ist, die ich je getroffen habe. Chaotisch, aber nett. Er kennt ganz schön viele Leute, er kennt sich gut in San Francisco aus, und vor allem macht er die besten Rühreier auf der Welt. Naja, er und sein Symbiont der am Herd immer tatkräftig mithilft. Bei ihm fühle ich mich zu Hause, mehr zu Hause, als bei meiner Adoptiv-Mutter. Eddie ist entspannt in meiner Gegenwart und reißt Witze. Und obwohl meine Adoptiv-Mutter es versucht, schafft sie nicht das, was er schafft: Mich normal zu behandeln. Wie einen normalen, 16-jährigen Teenager eben.

Als Dylan die Hand seines besten Freundes nimmt, verstehe ich das als Zeichen, loszulaufen. Wir sind auf dem Weg zur Bushaltestelle, doch bevor wir sie erreichen, wollen wir uns noch etwas Warmes zu essen holen. Dafür stehen zum Glück genügend Straßenstände in der Gegend herum. Warme Nutella-Sandwiches, nicht gesund, aber lecker, und perfekt für einen Freitagnachmittag. Während ich die Straße hinunterlaufe, höre ich wieder flüstern, diesmal deutlicher als im Klassenzimmer vorhin. Selbst die laute Unterhaltung meiner beiden Freunde schafft es nicht, das zu übertönen, was das Pärchen hinter mir zu sagen hat. Sie scheinen ihre Aussagen auch nicht wirklich verstecken zu wollen. "Ist dass nicht... Olivia?", höre ich die Frau sagen, sie klingt ganz erschrocken, bevor ihr Ehemann ihr antwortet "Ja, das Kind dieses verrückten Serienmörders. Wir wechseln besser die Straßenseite"

Und das tun sie dann auch, genauso wie alle anderen, die mir begegnen, unfähig oder unwillig zu sehen, dass ich nicht wie mein Vater bin. Ich bin nicht verrückt. Ich kann noch nicht einmal Blut sehen, und obwohl ich Selbstverteidigung gelernt habe, setze ich sie auch nur dafür ein: zur Verteidigung. Ich bin, in fast jeder Hinsicht, anders als er, und dennoch behandeln uns die Menschen gleich, weil sie es nicht schaffen zu sehen, dass ich eine eigene, unabhängige Person bin. Vielleicht wollen sie das auch nicht sehen.

Die einzigen, die es zu sehen scheinen sind Eddie, Dylan und Norman. Ich sollte meinen Vater dafür hassen, für diese Last, aber vielleicht kenne ich ihn ja auch nicht gut genug, um ihn zu hassen. Vielleicht wäre er ganz anders, wenn ich ihn treffen würde. Vielleicht würde er sich für mich interessieren, hätte er das Sorgerecht. Vielleicht wäre es ein Neuanfang für ihn. Es gibt viele solcher Fragen, die ich ihm gerne stellen würde, doch mir ist es strengstens untersagt, ihn in Ravencroft zu besuchen, und er kann nicht aus Ravencroft heraus kommen. Dafür haben die Ärzte diesmal gesorgt. Sie wollen mich davor beschützen, traumatisiert oder verletzt zu werden, indem sie mir die Besuche verweigern. Indem sie mir das Wissen verweigern, das jeden Tag in mein Gesicht schreit. Ich weiß, wer mein Vater ist, obwohl ich das nicht wissen sollte. Ich weiß auch, wer meine Mutter ist, obwohl ich das nicht wissen sollte. Und dass ich eigentlich Olivia Kasady bin, kann niemand ignorieren, egal wie sehr sie das Thema unter Verschluss halten wollen.

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