Secrets of Reality

Kapitel.4

Er ist vorsichtig. Das sind sie alle, in meiner Gegenwart zumindest. Sie wollen nichts Falsches sagen, wollen nichts Falsches machen, anscheinend ist alles ein Grund für mich, sie brutal umzubringen. Dass ich nie jemanden getötet habe, und das auch nicht werde, das stört sie nicht. Mein Vater ist ein Mörder, also werde ich auch mal einer werden. Oder vielleicht bin ich schon einer und die Leichen wurden einfach noch nicht entdeckt. Ich bin gefährlich, manipulativ, Angst einflößend. Es ist besser, sich von mir fernzuhalten.

Einmal hat Dylan eine alte Zeitung in die Schule geschmuggelt, in der ein Bericht seines Vaters abgedruckt war. Durch das hinzugefügte Foto unter dem Artikel ist mir aufgefallen, wie ähnlich ich Cletus sehe. Natürlich habe ich die orangen Haare und grünen Augen geerbt, anstatt die schwarzen Haare und braun-blauen Augen meiner Mutter, von der ich tatsächlich ein offizielles Foto besitze. Es scheint die Aufmerksamkeit der Leute nur noch mehr auf mich zu ziehen, was für mich alles selbstverständlich nicht einfacher macht. Obwohl ich meine Herkunft nicht als ein Geheimnis behandeln will, so wie fast alle um mich herum, heißt das nicht, dass es das Starren und die Finger, die auf mich zeigen einfacher macht. Es lässt mich manchmal sogar an meiner eigenen Entscheidung zweifeln.

Scharfe Scheren sind nicht das einzige, dass mir verboten ist. Ich darf keinen Zugang zu Messern haben, es sei denn ich stehe unter Aufsicht, alles, was irgendwie eine Waffe sein dürfte, darf von mir nur unter Aufsicht oder gar nicht benutzt werden. Plastikflaschen statt Glas, stumpfe Messer und Scheren, Kugelschreiber statt Füller, es ist ein wahres Wunder dass ich Schnürsenkel an meinen Converse haben darf. Wie bereits erwähnt bin ich mit diesen Regeln und Verboten aufgewachsen, ich kenne es nicht anders, aber trotzdem gehen sie mir Tag für Tag mehr auf die Nerven. Besonders dann, wenn ich Dylan oder Norman besuche und dort normal behandelt werde. Ich schneide jetzt auch mit einem normalen Messer in den Rest meiner Pizza und siehe da, alles geht gut. Ich möchte mich ja beschweren, aber entweder ist es nur zu meinem besten, oder niemand nimmt mich wirklich ernst. Daher unterdrücke ich meine Wut und genieße die seltenen Momente der Normalität, die ich bekomme.

"Wenn du wirklich mehr wissen willst, ich habe ein paar Kisten oben auf dem Dachboden. Alte Zeitungsartikel, Fotos. Es ist nicht viel, aber es ist ein Anfang, weißt du? Zudem können Venom und ich uns noch gut an die Kämpfe mit Carnage erinnern und dir mehr erzählen, solltest du das wollen."
Obwohl er vorsichtig ist, verurteilt er mich nicht. Wahrscheinlich kann Eddie mich sogar besser verstehen, als ich es manchmal denke. Ich nicke nur, schätze seinen Versuch wert als ich meinen Teller leer esse. Dylan und Norman starren mich noch kurz an, tun dann aber das selbe. Für jetzt ist das Thema beendet.
"Wir gehen morgen hoch.", sagt Eddie, "Jetzt ist es sowieso zu dunkel und wir wollten noch einen Film schauen. Wer macht den Abwasch?" fragt er und sieht seinen Sohn an, der nur ein Stöhnen von sich lässt "Aber Dad, du hast viel mehr Arme als ich!" widerspricht er, doch Eddie schüttelt den Kopf "Und du wirst irgendwann mal deinen eigenen Haushalt führen, also los"
Und damit stellt Dylan sich widerwillig an die Spüle, obwohl wir ihm schließlich auch helfen.

"Alsooo. Titanic oder Titanic?" fragt Eddie schließlich als wir uns vor den Fernseher setzen, die Popcorn Schüssel auf meinem Schoß ruhend. Ich habe die volle Macht über das Popcorn, könnte jederzeit gierige Hände davon schlagen, aber das tue ich natürlich nicht, und wenn, dann nur zum Spaß. Schließlich verschlinge ich das Popcorn selbst. "Wieso, Dad? Das ist das siebte Mal, dass du uns diesen Film zeigst!", beschwert Dylan sich, während Norman im Hintergrund nur kichert und seiner Mutter kurz eine SMS schreibt, dass es ihm gut geht. "Ja, aber du weißt dass mein Anderer heute mit aussuchen dran war, und er liebt diesen Film. Also Titanic"
"Er liebt jede peinliche romantische Komödie", grummelt Dylan leise, aber jedes Widerwort nutzt nichts als Eddie den TV anschaltet. 

Obwohl auch ich den Film, dank Eddie und Venom, schon öfter gesehen habe, hört es nicht auf, lustig zu bleiben. Besonders dann, wenn die beiden sich entschließen, ganze Szenen nachzustellen, inklusive eines Covers von "My heart will go on" bei dem schließlich alle, auch ich, lautstark mit trällern. Manchmal frage ich mich, was Eddies Nachbarn eigentlich denken, oder die Obdachlosen, die unter seinem Wohnzimmerfenster mit einem Einkaufswagen vorbeilaufen. Vielleicht will ich es gar nicht wissen, aber es wäre sicher amüsant. Nachdem der Film vorbei ist, lassen wir uns noch zu mehreren Runden Karaoke hinreißen, und obwohl niemand von uns betrunken ist, singen wir alle teilweise so schief, als wären wir es. Doch kurz vor 23:00Uhr übermannt uns die Müdigkeit schließlich doch, und wir gähnen alle im Kollektiv. "Das war's Kiddos, ab ins Bett. Matratzen liegen schon auf dem Boden von Dylans Zimmer, da könnt ihr es euch bequem machen. Aber vorher Zähne putzen und Pyjama anziehen"
Da fällt mir etwas siedend heiß ein. Ich stehe auf, sehe in meiner mitgebrachten Sporttasche nach, und seufze dann frustriert "Ich habe meinen Pyjama vergessen"
Eddie schüttelt nur mit dem Kopf und sagt dann "Ich kann dir ein Shirt frisch aus der Wäsche geben, das müsste für dich so groß sein, wie ein Nachthemd"
Ich sehe ihn dankbar an und nicke nur "Gut, geht schonmal Zähne putzen, ich lege dir das Shirt auf deine Matratze. Ich sehe dann so in zwanzig Minuten nochmal nach euch" erklärt er. Dylan hat es echt gut mit Eddie erwischt, er ist ein super Vater, immer besorgt und liebevoll, und er kommt auch mit drei Kindern gut zurecht.

Wir putzen also Zähne und legen uns ins Bett, das Shirt ist sehr bequem und duftet frisch nach Lavendel. Schließlich kommt Eddie hoch, um uns allen Gute Nacht zu sagen, alle Lichter auszumachen, bis auf Dylans Nachtlicht, und mich daran zu erinnern, dass wir morgen den Dachboden besuchen. Ich kann es kaum erwarten, und mit dem Gedanken daran schlafe ich schließlich ein.