Nicht du

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Die Sonne schien durch die Wipfel der Bäume und beleuchtete die weichen, rosigen Wangen des süßen Babys Noah. Ihr Herz schmerzte, als sie in sein winziges, pausbäckiges Gesicht blickte. Er saß auf einer weichen blauen Decke, die einen Fleck im Gras bedeckte, winzige blonde Locken bedeckten seinen Kopf und große blaue Augen sahen sie an. Seine kleine, pummelige Hand, die sich zu einer Faust geformt hatte, griff nach ihr, während er ein hohes Quietschgeräusch von sich gab. Sie schluckte, als etwas Warmes ihre Brust erfüllte, gemischt mit einem Hauch von Melancholie.

Die Zeit tickte.

"Da will wohl jemand seine Tante Aine sehen", ertönte die Stimme ihrer besten Freundin Venora durch ihren Gedanken und bevor sie etwas erwidern konnte, hob sie ihren Sohn von der Decke und setzte ihn auf ihren Schoß. Sofort landete eine von Noahs kleinen Händen auf ihrer Wange.

Pat, Pat, Pat.

Das leise Geräusch seiner Hand drang an ihre Ohren, als er ihr fröhlich das Gesicht tätschelte. Er roch wie ein Baby. Ein süßes, weiches und unschuldiges Baby. Für eine flüchtige Sekunde senkte sie den Kopf und ließ ihre Nase über sein weiches Babyhaar wandern. Der Duft beruhigte ihr rasendes Herz und ließ sie das Baby enger an sich drücken.

"Wunderschön, nicht wahr?", dröhnte plötzlich Caiomhes Stimme über den Rasen.

Sie hob ihren Kopf von Noahs weichen blonden Locken und ihr Blick fiel sofort auf Caiomhe, die ihren beiden kleinen Mädchen beim Fangenspielen auf dem Rasen zusah.

"Du solltest wirklich nicht zu lange warten, Aine. Du wirst nicht ewig jung bleiben, und eine zu alte Mutter zu sein, ist auch nicht schön", sagte Caiomhe mit belehrender Stimme.

Alles, was sie in diesen Tagen taten, waren Belehrungen. Es war, als bestünde das Leben einer Frau nur daraus, belehrt zu werden.

"Ich weiß, aber wenn es geschehen soll, wird es geschehen", antwortete sie abwesend, denn Baby Noah grub seine kleinen Finger in ihr Shirt. Es war ein ziemlich fester Griff für ein Baby, das noch nicht einmal ein Jahr alt war.

"Findest du das nicht ein bisschen leichtsinnig von dir? Du weißt, dass du nicht ewig Zeit hast, ein Kind zu bekommen", fuhr Caiomhe sie wieder an.

"Ich weiß", sagte sie ruhig, obwohl ihr Inneres vor Wut brannte, gepaart mit einem scharfen Schmerz.

Wer waren sie, dass sie ihr sagen konnten, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte? Ein Baby zu bekommen war nicht alles, oder?

Ihr Blick fiel wieder auf den süßen, unschuldigen Noah. Sein kleiner Mund bewegte sich und gab leise gurgelnde Geräusche von sich. Er war eines der süßesten Babys, die sie je gesehen hatte. Obwohl Kinder generell süß waren. Sie liebte sie. Sie liebte ihre Unschuld, die Art, wie sie einen nie verurteilten. Die Art, wie sie rochen, das Grinsen auf ihren Gesichtern wie der schönste Sonnentag und die Art, wie sie mit ihrer so viel kleineren Hand nach deiner griffen und mit dir mitgingen. Sie vertrauten dir, dass du ihnen nicht wehtun würdest.

Ein Kind zu umarmen war eines der schönsten Gefühle der Welt.

Für einen flüchtigen Moment schweiften ihre Gedanken in einen Tagtraum ab, in dem sie ihr eigenes süßes Baby im Arm hielt und durch die Straßen lief, während eine ihrer Hände mit der ihrer besseren Hälfte verschränkt war. Der Traum war so lebendig, dass sie fast den zarten Babyduft des imaginären Babys riechen und die Wärme der Hand ihres nicht existierenden Ehemanns spüren konnte. Die lebhafte Vision vor ihren Augen versetzte ihr einen Stich ins Herz. Sofort schimpfte sie mit sich selbst, weil sie schon wieder romantische Gedanken über die Zukunft hegte. Sie musste akzeptieren, dass das Leben nicht aus Liebe bestand. Oder zumindest bestand es das nur für manche Menschen.

"Kinder sind süß, und wenn sich die Gelegenheit ergibt, würde ich gerne eins bekommen. Aber ich denke, nicht jeder hat das Glück, ein Kind zu bekommen. Vielleicht finden manche Menschen ihr Glück in anderen Dingen, wie zum Beispiel in ihren Leidenschaften", sagte sie mit leiserer Stimme und schluckte.

"Ich glaube, das wäre ein sehr einsames Leben. Meinst du nicht?", entgegnete Ciaomhe mit einem leicht besserwisserischen Ton, während sie einer ihrer Töchter, die sich nun auf ihren Schoß setzte, mit den Fingern akribisch durch die Haare fuhr.

"Woher willst du wissen, ob es ein einsames Leben ist? Du kennst doch nur das Leben mit Kindern", fragte sie Ciaomhe.

"Na ja, ich weiß es eben und....", wurde Ciaomhes Stimme mitten im Satz unterbrochen, als ein hoher Schrei über den Rasen zu ihnen herüberwehte.

"Oh mein Gott!", keuchte Isleen, eine ihrer anderen Freundinnen, die sich mit den Händen den Mund zuhielt und ihre Augen vor Überraschung weit aufriss.

Ihr Blick wanderte zu Isleens Freund, der nun direkt vor ihrer Freundin auf einem Knie ruhte. Ihre Augen klebten an ihnen, und obwohl sie sehen konnte, wie sich seine Lippen bewegten und Isleens Gesicht in Tränen ausbrach, gefolgt von einem wackeligen Nicken ein paar Sekunden später, konnte sie die Worte, die aus seinem Mund kamen, nicht hören. Stattdessen erstarrte ihr Herz zu einem eisigen Klumpen. Sie drückte Baby Noah fester an sich und versuchte, die Wärme des süßen, unschuldigen Kindes zu spüren, anstatt den eisigen Wind, der in ihr heulte. Sie wusste, dass sie sich für ihre Freundin freuen sollte. Und Gott, sie hatte es versucht, sie hatte es verdammt noch mal so sehr versucht, aber statt eines warmen, freudigen Glückwunsches, der von ihren Lippen kam, klang ihre Stimme leicht verletzt, ihre Umarmung widerwillig.

Sie hasste sich dafür, dass sie so war, aber gleichzeitig war sie jemand, der seine Gefühle auf der Zunge trug. Sie würde nie eine Maske aufsetzen und den Leuten eine perfekte Person zeigen können, die immer glücklich war. So war sie einfach nicht.

"Es tut mir sehr leid, aber ich muss gehen", sagte sie plötzlich und übergab den kleinen Noah ihrer besten Freundin Venora. "Meine Mum hat mir gerade eine Nachricht geschickt und es gibt ... es gibt etwas, das ich für sie tun muss."

"Aber wir wollten doch ein paar Fotos zusammen machen...", protestierte Isleen, ihre Stimme leicht enttäuscht.

"Nächstes Mal.", erwiderte sie mit einem falschen Lächeln, trat einen Schritt vor und umarmte alle kurz. "Wir sehen uns", winkte sie ein letztes Mal, bevor sie sich umdrehte und über den Rasen zum Parkplatz eilte.

Ihre Brust war wie zugeschnürt, ihre Kehle war wie zugeschnürt.

Nicht weinen. Nicht weinen. Nicht weinen, rief sie in ihrem Kopf, die ganze Zeit auf dem Weg zu ihrem Auto. Doch kaum war sie in ihrem Auto, brach der Tränendamm. Ihr Körper zitterte und Schluckauf kam ihr über die Lippen, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Sie versuchte, sich zusammenzureißen, da sie sich auf den Verkehr konzentrieren musste, aber sie konnte es einfach nicht.

Du bist ein erbärmliches kleines Mädchen, flüsterte eine böse Stimme in ihrem Kopf. Die Stimme wurde mit der Zeit immer lauter und als sie zu Hause ankam, war die Stimme so laut in ihrem Kopf, dass sie nichts Anderes mehr zu hören schien.

Ihre Wohnung war kalt, als sie sie betrat. So kalt, wie ihr Herz in diesem Moment war. Sobald sie ihren Mantel ausgezogen hatte, machte sie sich einen Tee und schaltete einen ihrer Lieblingssongs ein.

Aerosmith erfüllte die kalte Stille in ihrer Wohnung. Wenigstens liebte Steven Tyler sie.



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