Aber wenn er tot war, wieso hatte er dann solche Schmerzen?
Angestrengt öffnete Liam die Augen. Alles leuchtete grün und golden und warmer Wind strich durch seine Haare. Irritiert setzte er sich auf. War er nicht gerade erst getragen worden? Hatten nicht höhnische Stimmen seinen Tod besungen?
Äste und Steine piekten ihm in seine Hände, als er sich auf die Beine kämpfte. Seine Füße schlitterten auf Moos und feuchtem Laub. Er war in einem Wald und Sonnenlicht fiel durch die Baumkronen auf ihn hinab. Liam konnte sich nicht erinnern, dass es jemals so warm in Willmoore gewesen war, wie hier. War er überhaupt in Willmoore? Die Bäume, die hier wuchsen, waren so dick, dass es bestimmt fünf Leute brauchte, um sie zu umarmen, und so hoch, dass Liam sich stark den Hals verrenken musste, um bis zu ihren Kronen zu blicken.
Doch sie hatten nur kleine Wipfel mit wenigen Blättern, die, dem Laub am Boden nach zu urteilen, ungewöhnlich groß und herzförmig waren. Liam schien sich auf einer kleinen Lichtung zu befinden, denn um ihn herum standen die Bäume dicht aneinander und Ranken, dick wie Beine, schlangen sich um die dunklen Stämme und verbanden sie zu einer Art Netz, in dem Liam verloren wirkte wie ein gefangener Fisch.
Wo war er nur gelandet?
Er trat näher an das Dickicht heran und starrte in die Dunkelheit des Waldes. Nichts regte sich außer den zarten Blättchen an den Ranken, die im sanften, warmen Wind leicht raschelten. Wie es an einem so umschlossenen Ort Wind geben konnte, war Liam ein Rätsel. Er hatte das Gefühl, in einem langen, senkrechten Rohr eingesperrt zu sein und erwartete schon fast, dass ein riesiges Auge oben am Himmel auftauchen und sich seinen Fang besehen würde. Doch natürlich blieb der Himmel klar und blau und alles war ruhig.
Wie war er nur hier gelandet? Dunkel regte sich etwas in seinem Inneren, der Hauch eines unendlichen Schmerzes, der lange zurücklag. Was war nur geschehen? Er erinnerte sich an heißes Blut, spitze Krallen und schnarrende Stimmen. Und Angst, furchtbare Angst.
Er wischte sich die dreckigen Hände an seiner Hose ab, die ungewöhnlich rau war. Liam sah an sich hinab. Statt seiner Jogginghose trug er nun aufgeraute, weite Hosen aus einer Art Leder. Sein Shirt war einem schlichten, weißen Top gewichen, das um ihn herumschlapperte, als wäre es mindestens drei Größen zu groß. Liams Verwirrung wuchs, ebenso wie seine Unruhe. Was war hier los?
Mit seinen Fingerspitzen fuhr er sich über die Haut, über die Haare, tastete sein Gesicht ab. Zumindest das schien normal zu sein. Hinter Liam raschelte etwas und er fuhr herum. Aus seinem Jägerinstinkt heraus fasste er an seine Pistole, doch sie war weg. Seine Augen suchten hastig die Umgebung ab. Die Dunkelheit des Waldes schien sich zu festigen und sich immer weiter um Liam zu schließen. Er wich zurück in die Mitte der winzigen Lichtung. Ein Wind, wie der feurige Atem eines Drachen, strich ihm das schwarze Haar aus der Stirn und er brachte ein Geräusch mit sich, das wie ein seufzendes Stöhnen klang, sehnsüchtig, wartend, hungrig.
Wieder wallte Angst in Liam auf. Was auch immer dieser Wald verbarg, Liam war sicher, dass es ihn besser nicht bemerken durfte. Ratlos stieß er Luft aus und raufte sich die Haare, die, obwohl er sicher wusste, dass er viel geblutet und geschwitzt hatte, weich und geschmeidig durch seine Finger glitten. Er brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass seine schwarzen Locken gerade sehr gut aussahen. Aber was brachte ihm das, wenn er gefangen in einem Wald starb wie eine Fliege im Spinnennetz?
Er musste hier raus. Erneut schritt er den Rand des Dickichts ab und spähte hinein, auf der Suche nach der lichtesten Stelle. Und da, war dort eine kleine Lücke? Zwischen zwei gigantischen Bäumen rankte das Gewächs nicht ganz so dicht um die Stämme. Die Frage war nur, wie er da durch kommen sollte. Liam besah sich die Ranken genauer. Einige von ihnen waren mit zentimeterlangen Dornen gespickt. Wenn er doch nur irgendetwas hätte-
Ein Funkeln etwas weiter im Wald erregte seine Aufmerksamkeit und er kniff die Augen zusammen. Dort, zwei Meter von ihm entfernt, lag ein Messer auf dem Waldboden. Wenn er es nur dorthin schaffen konnte.. Liam schluckte und beäugte die Dornen. Einfach durch. Er atmete tief durch. Nur zwei Meter.
Er stürzte sich ins Buschwerk. Sofort spürte Liam, wie die langen Dornen seine Haut durchschnitten wie Butter, doch er verkniff sich jeden Laut. Das Rascheln, Reißen und Knacken, das er verursachte, war schon laut genug. Seine Kleidung verhakte sich und riss fast so leicht wie seine Haut. Der brennende Schmerz wurde beinahe unerträglich, als er über eine besonders tief wachsende Ranke stolperte und hart zu Boden fiel.
Das Messer lag noch gut einen Meter von ihm entfernt und er kämpfte sich kriechend mit zusammengekniffenen Lippen durch das Dickicht, wobei er mit einem seiner Schuhe hängen blieb. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er abgelatschte Ledersandalen trug. Da Liam sich nicht losreißen konnte, verrenkte er sich umständlich zu seinen Schuhen hin, um die Verschlüsse zu lösen. Er ließ die beiden Schuhe einfach liegen, da sie ihn nur immer wieder behindern würden. Liam streckte seinen Arm durch zwei Ranken, seine Finger ertasteten das kühle Metall und griffen zu.
Die Klinge schnitt tief in das Fleisch seiner Hand und ein Zischen entwich Liam, aber er packte fest zu und holte das Messer zu sich. Es war dünn und lang, mit einem kunstvoll verzierten Holzgriff. Mit schmerzverzerrter Miene zog Liam es aus seiner Hand und betrachtete die tiefe Wunde, die sich dort entlangzog und stark blutete. Kurz überlegte er, dann schnitt er ein Stück seiner Hose ab und verband die Wunde notdürftig. Sicher würde sie sich entzünden. Mühsam kämpfte er sich auf die Beine und ließ das Messer durch die Luft blitzen. Einige Ranken fielen schlaff zu Boden. Liam warf sich die Haare aus dem Gesicht, lockerte seine Schultern und machte sich wieder an die Arbeit.
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Das tote Land
FantasyGefangen in einem dunklen Wald und anscheinend in einer völlig fremden Welt, erwacht der siebzehn-jährige Liam eines Tages ohne Erinnerungen. Das einzige, was er weiß, ist, dass er Monster jagen will- oder muss. Während Liam sich nun erst einmal in...