Die Luft flimmerte um ihn herum und alles drehte sich, als Liam wie eine Marionette, der die Fäden gekappt worden waren, zu Boden fiel. Der sonnenlose Himmel blendete ihn und die Hitze brachte ihn langsam um den Verstand. Hunger, Erschöpfung und Durst waren unerträglich. Jede Faser seines Körpers schien in Flammen zu stehen und nach Erlösung zu schreien. Er konnte sich nicht länger wehren, er musste schlafen. Seine Augen schlossen sich und er hörte auf zu denken.
Sein Körper schwang hin und her.
Ihre Lippen waren süßer als Zucker auf den seinen.
Flog er etwa?
Ihre zarten Finger drehten eine seiner Locken.
Oder trieb er wie ein totes Stück Holz auf dem Meer?
Sein Herz quoll über mit Liebe.
Er musste aufwachen..
Sie sahen sich in die Augen, grau in braun.
Wach auf.
Ein Schrei ertönte.
Sofort.
Ihre Augen blickten leer und starr in den Nachthimmel.
Liam schlug die Augen auf. Der Hals und Kopf eines Kamels bewegte sich vor ihm leicht hin und her, während es mit ihm auf dem Rücken über die Hügel trottete. Ein starker Arm lag um seinen Bauch und zog ihn nach hinten gegen einen Körper. Die Person, die ihn auf dem Kamel hielt, war kleiner als er, doch sie konnte ihn ohne Probleme vor dem Herunterfallen bewahren und gleichzeitig das Kamel lenken. Liam regte sich schwach und setzte sich auf.
"Ah, du bist wach", ertönte eine weibliche Stimme hinter ihm. Sie klang überrascht. "Ich dachte, du wärst tot."
Liam hustete. "Bin ich das nicht?", krächzte er. Im Moment war ihm egal wer sie war und wohin sie ihn brachte.
"Du hattest kaum noch einen Puls, als ich dich gefunden hab", sagte die Frau. "Ruh dich aus. Wir sind bald da." Liam war zu erschöpft, um zu fragen wo "da" war. Er schloss die Augen, lehnte sich zurück und ließ sich vom Kamel in den Schlaf schaukeln.
"Aber er ist schon heiß."
"Maria, er sieht aus wie ein wieder ausgebuddelter Toter!"
"Aber er ist heiß."
Liam öffnete seine Augen nicht. Sein Kopf schmerzte, als wäre die ganze US-Army darüber getrampelt.
"Ich habe ihn auf den Hügeln gefunden."
"Er wird doch wohl nicht aus dem Wald gekommen sein?"
"Ich glaube doch."
"Der Arme."
Jetzt schlug Liam doch die Augen auf. Er lag in einem hellen Raum. Licht flutete durch die dunklen Glasscheiben in den Raum. "Oh", sagte eine der Stimmen überrascht. "Er ist aufgewacht." Im nächsten Moment versperrte ihm ein olivgrünes Augenpaar die Sicht. "Hallo", sagte die Besitzerin der Augen fröhlich. "Mein Name ist Maria!"
"Hi", antwortete Liam perplex und mit ziemlich rauer Stimme.
"Guck mal Kaia, er kann reden!"
"Natürlich kann er reden", erwiderte die andere Stimme, die Liam als die der Frau wiedererkannte, die ihn gerettet hatte. Kaia also. Maria gab wieder Liams Sicht frei und setzte sich auf einen Stuhl neben seinem Bett. Nun konnte Liam auch seine Retterin betrachten. Sie hatte eine schöne, braungebrannte Haut, schwarze Haare und Augen von der Farbe von Honig. Sie war klein und dünn, doch die Art, wie sie mit verschränkten Armen neben der sitzenden Maria stand, vermittelte keinen wehrlosen Eindruck. Vielleicht lag es auch an dem grimmigen, kriegerischen Ausdruck auf ihrem Gesicht.
"Danke", sagte Liam, aber Kaia nickte nur knapp.
"Wir haben dir etwas zu trinken gegeben. Essen steht auf dem Tisch." Kaia zog eine Grimasse und verließ die Hütte, wobei ihr glänzendes Haar hinter ihr her tanzte. Erst jetzt fiel Liam auf, dass es von dünnen Fäden Gold durchzogen war.
"Mach dir nichts draus", winkte Maria ab und lachte, wobei sich Grübchen in ihrer dunklen Haut bildeten. "Kaia macht sich nur Sorgen." Sie fuhr sich durch die wilden, braunen Locken. Liam nickte stumm. Sein Bauch rumorte und erinnerte ihn somit lautstark an seinen Hunger. Liams Blick fiel auf den Tisch in der Mitte des Raumes, auf dem ein Krug mit Wasser und ein Teller mit Essen stand. Er stand auf und Maria stieß überrascht Luft aus.
"Du bist ja gar kein Zwerg. Im Liegen siehst du winzig aus." Auch sie erhob sich. Sie ging ihm höchstens bis zur Schulter. Liam lächelte knapp, der Hunger nagte an ihm und er konnte an nichts anderes mehr denken als an das Brot, den Käse und den undefinierbaren Braten, die ihn am Tisch erwarteten.
Er eilte zum Tisch, setzte sich und begann endlich, zu essen. Es schmeckte himmlisch. Noch nie hatte er etwas so Gutes zu sich genommen und er sah kein einziges Mal auf oder machte eine Pause, bis der letzte Krümel vom Teller verschwunden war. Dann setzte er den Wasserkrug an die Lippen und leerte ihn in einem Zug. Als er fertig war, lehnte er sich im Stuhl zurück und schloss die Augen. Lange hatte er sich nicht mehr so gut gefühlt wie jetzt.
"Möchtest du vielleicht ein Bad nehmen?", fragte Maria und sah ihn belustigt an. "Auch wenn der ganze Schmutz echt heiß an dir aussieht."
Liam errötete und kratzte sich im Nacken. "Das wäre nett, ja."
"Das Bad ist den Flur runter, die Tür ganz am Ende."
"Danke", sagte Liam, lächelte und ging hinaus in den Flur, von dem vier Türen abzweigten. Liam hielt auf die am Ende des Ganges zu, öffnete und betrat den gefliesten Raum dahinter. Er knipste das Licht an und schloss die Tür hinter sich. Als erstes fiel sein Blick auf die große Badewanne, auf deren Rand ein weißes Handtuch und ein Sück Seife lagen. Eine Dusche gab es nicht. Liam ging zu der Wanne und ließ sich Wasser ein. Während es rauschend einlief, blickte sich Liam nach einem Spiegel um. Er schrak zusammen, da ihn jemand durch das Badfenster anstarrte.
Aber nein, das war er. Ungläubig trat er näher an den Spiegel heran. Seine eigentlich blasse Haut hatte unter dem strahlenden Himmel einen bronzefarbenen Ton angenommen. Unter seinen grauen Augen lagen tiefe Schatten und ein viel-mehr-als-drei-Tage-Bart zeichnete sich auf seinen Wangen ab. Sein Gesicht war dünn geworden, sodass seine Wangenknochen etwas hervorstachen, ebenso wie sein Kiefer. Liams schwarze Locken waren nun länger und klebten ihm auf der Stirn.
Allgemein sah er viel erwachsener aus, als er tatsächlich sein sollte. Er sah nicht mehr aus wie ein Siebzehnjähriger, viel eher wie ein Fünfundzwanzigjähriger. Liam trat zurück und betrachtete seinen Oberkörper. Das zerrissene Top hing an ihm, wie alles andere blutbesprenkelt mit dem der Monster und dem eigenen. Er sah muskulöser aus, als er hätte sein dürfen. Klar, das Kämpfen durch den Wald war anstrengend gewesen, doch es waren ja nur einige Stunden, vielleicht zwei Tage gewesen.
Oder? Wie lange war er tatsächlich in diesem Wald gewesen?
Doch stumm musste er Maria Recht geben- Er sah wirklich heiß aus.
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Das tote Land
FantasyGefangen in einem dunklen Wald und anscheinend in einer völlig fremden Welt, erwacht der siebzehn-jährige Liam eines Tages ohne Erinnerungen. Das einzige, was er weiß, ist, dass er Monster jagen will- oder muss. Während Liam sich nun erst einmal in...