Don Rossco

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Anm.: Aufgabe war es, eine moderne Version eines beliebigen Märchens zu schreiben. 



Vor Zeiten, in einer Welt voller Habgier und Neid, lebte ein brillanter Forscher, der hatte alles und nichts. Seine Firma, die er gegründet und die Durchbrüche, die er auf dem Gebiet der angewandten Chemie errungen hatte, hatten ihn weltberühmt gemacht, doch was er und seine ihn aus tiefster Seele liebende Frau sich wirklich wünschten, war ein Kind.
Wie es das Schicksal so wollte, wurden sie schon bald schwanger und als der Sohn auf die Welt kam, so gesund und munter, dass es die stolzen Eltern zu Tränen rühre, veranstalteten sie eine große Feier, zu der alles, was Rang und Name hatte, eingeladen wurde. Verwandte, Freunde und Mitarbeiter überschütteten die Familie mit Glückwünschen, das Neugeborene wanderte von Arm zu Arm und jeder von ihnen waren absolut hingerissen von den neugierig blauen Augen des Kindes, die nur darauf warteten, die Welt zu entdecken. Sie wünschten dem Kleinen alles, was man sich im Leben nur erträumen konnte, Weisheit, Gesundheit, Reichtum. Alles war in heiterer Stimmung – was nicht zuletzt an dem Champagner lag, der so eifrig getrunken wurde – und in dem munteren Geplapper war das melodische Bimmeln der Türklingel beinahe nicht zu vernehmen. Neugierig öffnete der Wissenschaftler die Tür und in eben dieser Sekunde war es, als würde ein eiskalter Schauer durch die Feiernden fahren.
„Lädt man seinen Partner zu so einer Feier etwa nicht ein?", sagte der Mann vor der Tür mit einem süffisanten Lächeln. Der Wissenschaftler starrte den Mann an, mit dem er den Großteil seines Lebens zusammen geforscht hatte und dessen Freundschaft schließlich in einem hässlichen Streit geendet hatte. „Wieso bist du hier?", fragte ihn der Wissenschaftler und umklammerte voller Unbehagen sein Champagnerglas. „Ich wollte dir sagen, dass ich mich für dich freue", antwortete der Mann gespielt freundlich, doch sein Gesichtsausdruck kippte und wurde kalt. Er sagte: „Ich habe dir alles gegeben, Rossco. Und du verweigerst mir, was mir rechtmäßig zusteht, mein Teil der Firma" Er fixierte den Sohn des Wissenschaftlers, der friedlich in den Armen seiner Mutter schlummerte. „Zwei Dekaden und du wirst ihn verlieren", zischte der Mann, bevor er verschwand.

Ein leichtes Gefühl des Unbehagens breitete sich in dem Wissenschaftler aus und sollte ihn fortan begleiten, wohin auch immer er ging. Doch mit der Zeit ebbten die Sorgen ab; zu lange lag die Drohung seines ehemaligen Partners zurück und mit jedem Jahr, das verging, sperrte er das Unbehagen tiefer ins Unterbewusstsein, während er sich voll und ganz darauf konzentrierte, seinen Sohn zu einem wohlerzogenen Menschen zu machen. Er spielte Brettspiele mit ihm, half ihm bei den Wissenschaftsprojekten für die Schule, besuchte jedes seiner Klavierkonzerte und experimentierte mit ihm im Keller mit dem Chemiebaukasten.
Schließlich wurde Don Rossco, so lautete nämlich der Name des Jungen, zwanzig und wie er es so wollte, schlenderte er allein durch die verschiedenen Etagen des Laborkomplexes, der am Rande einer Kleinstadt lag. Im großen Konferenzsaal feierte sein Vater einen neuen, grandiosen Durchbruch, doch Don hatte sich von seiner Neugier leiten lassen und angefangen, das Gebäude zu erkunden. Schließlich traf er einen gebrechlich wirkenden Mann. „Guten Tag, Sir", sagte er höflich. „Was machen Sie da?"
Der Alte trug einen schwarzen Mantel, eine Kapuze verdeckte sein Gesicht. „Forschen", brummte er, hob seinen Kopf und blickte Don Rossco direkt ins Gesicht. Schillernde, blaue Augen trafen die pechschwarzen Abgründe unter der Kapuze und verschluckten die Saphire, die Dons Augen waren. „Was forschen Sie denn?", wollte Don nun wissen und der Mann übergab ihm eine Phiole mit giftgrüner Flüssigkeit, die lustig blubberte. Gerade wollte Don nachfragen, um was es sich bei dem Gebräu denn handle, doch der Alte war verschwunden. Und die Prophezeiung wurde wahr.
Don Rossco öffnete vor Überraschung seine pfirsichfarbenen Lippen, als ihm ein beißender Geruch in die Nase stieg, seine staken, muskulösen Gliedmaßen wurden schwer und schließlich schloss er die Lieder über den Saphiraugen und fiel in einen tiefen Schlaf und mit ihm alle Gäste der Feier. Hilflos, und wie ein Engel wunderschön schlummernd, wartete Don Rossco darauf, dass ein mutiges Mädchen ihm zur Rettung eilen würde...

Detective Georgina Martin klappte die Akte zu. „Das ist grottig", sagte sie. „Besonders der Teil mit den Saphiraugen war ein bisschen drüber. Nicht zuletzt, dass du Don Rossco wie ein bedeppertes Huhn anschmachtest. Was genau soll das überhaupt sein, Fanny?"
Fanny Foley, neueingestellte Assistentin des Detectives, stemmte die Hände in die Hüften und setzte zu einer Erklärung an. „Ich habe bloß die Fakten des Falls aufgeschrieben, und zwar in wesentlich hübschere Form als in dieser fürchterlich öden Polizeisprache"
„Die Fakten des Falls?", echote Georgina empört und drückte Fanny die Akte in die Hand.
„Ich war ja noch nicht fertig. Der Teil mit dem toten Mädchen kommt erst noch", gab Fanny zu.
„Apropos totes Mädchen", sagte Georgina und deutete auf die Leiche, die neben ihnen mit grotesk aufgerissenen Augen und blutüberströmt in einem Loch in dem Zaun hing. Er trennte den verlassenen Rosscorp Laborcomplex von dem lichten Mischwald, der ihn umgab. „Haben wir schon den forensischen Bericht?"
Fanny blätterte in ihren Unterlagen. „Offensichtlich hat sie versucht, sich mit aller Kraft durch dieses winzige Loch zu quetschen. Und ich sage mal so, der Zaun hat gewonnen. Die scharfen Enden des Drahtes haben ihren kompletten Bauch aufgeschlitzt, Tod durch Verblutung und Organversagen. Furchtbar, so zu sterben" Traurig schüttelte sie den Kopf.
Georgina begutachtete den Körper näher. „Fremdeinwirkung?"
„Lässt sich nicht eindeutig sagen", antwortete Fanny. „Es gibt keinen Grund, Mord in Betracht zu ziehen. Abgesehen von der Tatsache, dass es der dritte Fall dieser Art ist. Innerhalb von einem Monat"
Detectiv Martin tippte sich ans Kinn. „Wieso würde jemand so etwas tun? Was würde man auf einem verlassenen Fabrikgelände wollen?"
Fanny holte tief Luft: „Doch das Laborgelände war umgeben von meterhohen, unüberwindbaren Stacheldrahtzäunen und ein Mädchen nach dem anderen versuchte, sich bis zum höchsten Stockwerk durchzukämpfen und einen Blick auf den engelsgleichen Don Rossco zu erhaschen, denn er wartete dort, so lauteten die Gerüchte im Dorf, auf eine mutige Retterin. Doch leider war ihnen das Glück nicht hold. Sie schnitten Löcher in den engmaschigen Zaun, kratzten sich die Handflächen auf und bei dem Versuch, sich hindurchzuquetschen und sich ihrer unbändigen Neugier zu befreien, stachen die Dornen unbarmherzig in das Fleisch der Mädchen, bis sie eines jämmerlichen und qualvollen Todes starben"
Das ist deine Erklärung?", fragte Georgina und hob die Brauen.
Fanny zucke mit den Schultern und erklärte: „Don Rossco ist seit einer Woche verschwunden. Nicht ein einziges Bild hat er auf Instagram gepostet und die einzige Erklärung habe ich dir geliefert. Don öffnete die Phiole, durch die starken Ausdünstungen des Betäubungsmittels fiel er in einen tiefen Schlaf und das Gas verbreitete sich durch die Lüftungsschächte und mit den Gästen der Party passierte das gleiche. Ich sage, Harvey Stein ist eindeutig verdächtig!"
Der Detective hob verwirrt die Hände. „Moment, wer ist Harvey Stein jetzt schon wieder?"
„Das ist der ehemalige Arbeitskollege von Rossco Senior, der, mit dem er Streit hatte. Der ist halt auch echt verdächtig, oder nicht? Mit der Drohung und so..."
Georgina schüttelte den Kopf. „Ich weiß, du bist erst seit einem Monat dabei, Fanny, aber langsam solltest du den Unterschied zwischen Fakten und Fiktion kennen. Außerdem ist es die Aufgabe eines guten Detectives, Theorien zu suchen, die zu den Fakten passen und nicht anders herum. Dennoch, es führt kein Weg daran vorbei, wir müssen das Laborgelände durchsuchen. Aus irgendeinem Grund wollten drei junge Mädchen in dieses Gebäude, sogar sosehr, dass sie den Tod in Kauf nahmen. Wir müssen rausfinden wieso"

Als es dämmerte schritten Detective Martin und Fanny Foley durch das schmiedeeiserne Tor, das man mit speziellem Gerät aufgebrochen hatte. Es herrschte Grabesstille, selbst der Wind schien sich gelegt zu haben. Das Rascheln ihrer Schritte auf dem mit Laub bedeckten Boden, hallte im Vorhof wider und ließ den beiden Frauen Schauer über den Rücken fahren.
„Bist du sicher, dass du mitwillst, Fanny?", fragte Georgina. „Aber ja, irgendjemand muss Don Rossco schließlich wachküssen", antwortete Fanny scherzend, jedoch zitterte ihre Stimme vor Angst. Um sich selbst zu beruhigen, setzte sie die Erzählung fort:
„Zwei mutige Mädchen hatten es geschafft, die undurchdringlichen Barrikaden zu überwinden und machten sich auf den Weg, den schönen Don Rossco zu befreien. Sie durchquerten das Atrium und als sie in den großen Saal dahinter kamen-"
„Verfluchte Scheiße!", sagte Georgina und blickte sich im festlich geschmückten Saal um. Verteilt um diverse Stehtische und vorne auf der Bühne lagen mehrere Dutzend Körper. Allein der Gestank nach Verwesung und Chemikalien deutete darauf hin, dass eine Tragödie geschehen war, doch die zersprungene Apparatur in der Mitte des Raumes und die Säurespuren darunter brachten Gewissheit. Schließlich entdeckten sie einen jungen Mann, mit erstarrten, saphirblauen Augen. Fanny schluckte.
„Doch als sie in den großen Saal dahinter kamen, mussten sie feststellen, dass sie zu spät waren. Alle Gäste der Feier waren vom Tod heimgesucht worden und obwohl der hundertjährige Schlaf eine fette Lüge war, würde Don Rossco schlafen. Bis zum Ende"

Tohuwabohu - KurzgeschichtensammlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt