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Emilio (2)

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»Sie war die reinste Unschuld«


Zärtlich berührte ich die erwärmte Haut ihrer rötlichen Wangen. Ich ließ mir Zeit, dieses unschuldige Etwas zu inspizieren. Beobachtete gespannt, wie sie auf mich reagierte. Es war faszinierend, wie ruhig sie blieb, obwohl mir ihre zitternden Hände und ihr schnell auf und absinkender Brustkorb nur zu gut bewiesen, wie angsterfüllt sie schien.

Ihre Augen hielt sie geschlossen, als würde sie etwas vor mir verheimlichen wollen, doch mir genügte ein Blick auf einen fremden Menschen und ich wusste genau, wer da vor mir stand. Das musste ich schon früh lernen.

Meinen Blick ließ ich flüchtig über den dezenten Ausschnitt ihres hellen Sommerkleides schweifen, ehe ich meine Augen auf den Schreibtisch neben uns richtete und meine Hand nur zögerlich von ihrer Wange entfernte.

Eine rote Duftkerze fiel mir ins Auge, was mir meine Vermutungen über sie noch untermalte. Sie war rein, sanft und ein gutherziger Mensch. Sicher auch zu vertrauenswürdig. Jemandem mit Skepsis wäre es niemals in den Sinn gekommen, in solch einer schlechten Gegend wie hier jemanden nachts die Haustür zu öffnen.

Doch sie tat es und ließ mich gewähren. Sollte ich sie als Zeugin nun beseitigen? 

Eigentlich schon, denn so handelte ich immer. Doch irgendetwas in mir wusste bereits, dass ich diesem Schmetterling keinen Schaden zufügen könnte. 

"Es tut mir leid", riss sie mich mit ihrer leicht panischen Stimme aus meinen Gedanken. Ich sah ihr amüsiert dabei zu, wie sie sich hektisch nach dem Handtuch bückte und es mir erneut reichte.

"Du bist nicht von hier", mutmaßte ich und sofort sah sie mich mit ihren bläulichen Augen entschuldigend an. Es war kein richtiges Blau, in welchem ich mich zu verlieren schien. Es war eine Mischung. Eine Mischung aus dem Himmel, der sich an einem sonnigen Tag nur von seiner schönsten Seite zeigte, doch auch der unberührte Wald mit seiner grünen Farbe spiegelte sich darin wider. Diese Mischung gewährte es einem, sich verträumt in ihnen zu verlieren.

Sie erwiderte nichts auf meine Mutmaßung, was mich dann doch ziemlich reizte, denn wer würde mich schon im Regen stehen lassen oder riskieren, dass ich mich unwohl oder nicht verstanden fühlen würde ...

Niemand, außer sie ... 

Der Schmetterling, den ich nur zu gerne dafür bestraft hätte. Doch ich tat es nicht.

Ganz langsam löste ich meinen Blick von ihrem ängstlichen Gesicht und sah herunter zu dem weißen Handtuch. Sie hielt es mir immer noch tapfer entgegen, als würde sie warten. Warten darauf, ob ich ihr ihren Fehler verzeihen würde.

"Deutschland?", versuchte ich mehr über sie zu erfahren und nahm im selben Augenblick das Handtuch entgegen, wodurch sie endlich wieder anfing zu atmen und zustimmend nickte. "Das Land der pünktlichen Geschäftsleute."

Sie verstand wohl nicht, was ich damit sagen wollte, denn kaum merklich legte sie ihren Kopf schief und schien über meinen Satz nachzudenken. Ein Zeichen dafür, dass sie ein Mensch war, der gerne Verständnis für andere und ihre Aussagen haben wollte.

Mit dem Handtuch in meiner Hand kehrte ich ihr nur widerwillig den Rücken zu. Ich presste es auf meine offene Schusswunde, sodass ich vor Schmerz kurz zusammenzuckte und mir auf meine Lippe biss. Ich wollte vermeiden, dass sie mich so sah. Schwach und verletzt. Das sollte nicht mein erster Eindruck bei ihr werden.

Schlimm genug, dass ich sie bereits mit einer Waffe bedrohen musste, doch sie hatte noch nicht verstanden, dass ich jemand war, dem man ohne Widerrede gehorchen musste. 

Jetzt wusste sie es aber – das hoffte ich zumindest.

"Kann ich noch irgendetwas tun?"

Mit einer langsamen Bewegung drehte ich mein Gesicht in ihre Richtung. Ich musterte ihren Gesichtsausdruck. Auch wenn ich der Beste darin war, andere Menschen auf Anhieb zu durchschauen, so machte sie sich gerade zu einem unlösbaren Rätsel für mich.

Während ich vor einigen Sekunden noch der festen Überzeugung war, sie würde nur Angst und Panik empfinden, so hörte ich soeben ein weiteres Gefühl aus ihrer zarten Stimme heraus.

Mitgefühl ...

Mir genügte ein Blick auf ihre Bücher, ein schnelles Begutachten ihrer Dekoartikel, was mir klar und deutlich machte, dass sie sich sehr für andere Menschen interessierte. Das zeigte schon ihre Sammlung an Büchern über die menschliche Psyche, die zu meiner Verwunderung alphabetisch geordnet waren. Also auch ein achtsamer, ordentlicher Mensch.

Doch was ich trotzdem nicht in meinen Verstand bekam, war, dass sie gegenüber jemanden, der sie bedrohte, Mitgefühl zeigte.

Sollte sie nicht panisch darauf warten, dass ich wieder verschwinden würde und dann die Polizei rufen, wie es nun mal allein lebende Frauen machten, bei denen ein Fremder eingebrochen war?

Doch sie nicht.

Sie wollte helfen und das nicht, weil ich gerade eine Waffe auf sie richtete. Nein. Sie tat es, weil sie sich verpflichtet fühlte. Verpflichtet dazu, anderen zu helfen, was mir wieder etwas von ihr offenbarte.

"Du bist Psychologin?", durchbrach meine dunkle Stimme die angespannte Stille. Sofort löste ich das von Blut vollgesogene Handtuch von meinem Arm, um mich mit einem fragenden Ausdruck zu ihr herumzudrehen.

"Therapeutin", flüsterte sie kaum hörbar. Anschließend beugte sie sich zum Boden herunter, um mit der Packung Tabletten sogar noch einen Schritt näher auf mich zuzukommen.

Dieses Mal war ich derjenige, der zurückwich, denn so etwas war ich nicht gewohnt.

Frauen hatten entweder Angst vor mir, oder sie wollten mein Geld und meinen Körper. Doch jetzt und hier war mein Körper verletzt und diese Frau vor mir konnte kaum wissen, wie viel Reichtum ich besaß. Angst erkannte ich zwar noch in den Tiefen ihrer Iriden, doch nicht genug, um ihr vorzuwerfen, sie würde sich gezwungen fühlen, mir zu helfen.

"Zwei Stück sollten genügen", meinte sie ruhig und öffnete die kleine, orange Dose, um sich nervös zwei dieser Tabletten auf die Hand zu geben. Ehe sie dann plötzlich nach meiner Hand greifen wollte, zog ich sie so schnell zurück, dass sie mich fassungslos musterte.

"Ich mache das selbst", versuchte ich bedrohlich zu klingen. Ich ignorierte die Tabletten auf ihrer Hand, um mir geschickt die Dose aus ihrer anderen zu greifen.

Jetzt, wo ich wieder einigermaßen bei Sinnen war und mich nicht länger von ihren Augen faszinieren ließ, trat endlich auch wieder die von mir gewünschte Reaktion bei ihr ein.

Sie nahm Abstand – zwar mit langsamen, vorsichtigen Schritten, aber sie tat es. Es brachte mich zu einem triumphierenden Grinsen, das sie mit großen Augen begutachtete.

"Ich rauche eine und dann bin ich weg", erklärte ich ihr, als ich meine Hüfte an den Tisch lehnte und meine Zigaretten aus der Hosentasche kramte. Sie stand mittlerweile genau mir gegenüber, mit dem Rücken an der Wand und nickte nur zustimmend, sodass ich meinen Blick erneut von ihr löste und mir eine Kippe anmachte.

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Gentle ButterflyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt