Die Straßenbahn

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Müde starrte Ida auf den Fahrplan. Die nächste Bahn kam in zehn Minuten.
Kraftlos ließ sie sich auf die Sitzbank sinken.
Vielleicht war der Nebenjob im Restaurant doch keine so gute Idee gewesen.
Sie kam nur spät nachts nach Hause und hatte Glück, wenn sie die letzte Straßenbahn erwischte. Aber sie brauchte das Geld.
Allein konnte ihr Vater seine Schulden nicht abbezahlen und auch wenn er nicht der Dankbarste war, war für ihre Mutter ihre kleine Familie das Wichtigste gewesen. Und auf ihre jüngere Schwester Gisa konnte man sich nicht verlassen.
Die war sofort nach ihrem gerade so geschafften Abschluss mit ihrem Freund nach Mallorca ausgewandert, wo sie zusammen mit zwei seiner Cousins eine Bar eröffnet hatten.
Ida hatte ihr mehr als einmal prophezeit, dass das nicht gut enden würde, aber Gisa war volljährig und konnte ihre eigenen Entscheidungen treffen.
Nun saß Ida allein mit ihrem spielsüchtigen Vater da.
Ihr Studium in Kunstgeschichte hatte sie daher erst mal an den Nagel gehängt und machte nun einen Spagat zwischen ihrer Karriere als Möbelverkäuferin und Kellnerin.
Ein junger Mann kam ebenfalls zur Haltestelle, ansonsten war weit und breit niemand zu sehen.
Ida beschloss, dass er mit seinem ausgefransten Tweedjackett und der Strubbelfrisur aus rotbraunen Strähnen nicht sonderlich gefährlich aussah und schloss die Augen, bis sie endlich die Straßenbahn einfahren hörte.
Erleichtert nahm sie auf einer hölzernen Sitzbänke Platz.
Der Kerl von der Haltestelle war auch nun neben ihr der einzige Fahrgast und lehnte am anderen Ende des Waggons an der hüfthohen Haltstange.
Er zog ein Taschenbuch aus seiner Ledertasche. Der Umschlag war schon so vergilbt, dass Ida den Titel nicht erkennen konnte.
Normalerweise konnte sie Menschen gut lesen, aber aus dem Typen wurde sie einfach nicht schlau. Er trug ein Jackett, aber auch eine sichtbar alte Jeans und ein grellgelbes T-Shirt mit dem Logo irgendeiner Privatschule darauf. Er machte einen sehr gepflegten Eindruck, bis auf seine dichten Wuschelhaare, die ihm unordentlich in die Stirn hingen.
Ida starrte hinaus, um ihre Gedanken von ihm abzulenken. Draußen war es stockdunkel und die Lichter wurden weniger, als sie das Stadtzentrum verließen.
Sie kämpfte gegen ihre Augenlider, die zufallen zu drohten und unterdrückte nur mühsam ein Gähnen. Die Stimme der Ansage drang nur gedämpft zu ihr durch.
Irgendwann verlor sie den Kampf und ihre Müdigkeit gewann.

~

Verwirrt starrte Milo durch die Scheibe.
Es war so dunkel, dass er kaum etwas erkennen konnte, aber die Gegend kam ihm definitiv nicht bekannt vor.
Die Ansage hatte sich seit fast zwanzig Minuten nicht gemeldet und sie waren auch nicht stehengeblieben.
Er sah auf den Fahrplan, der über der Tür hing.
Nein, er war in der richtigen Bahn.
Er blickte zum anderen Ende des Waggons, wo das Mädchen von der Haltestelle in der Ecke eingedöst war.
Sie sah furchtbar erschöpft aus. So dunkle Augenringe hatte er zuletzt bei sich selbst gesehen, nachdem er drei Tage lang durchgemacht hatte, um ein Bild fertig zu malen.
Sie wirkte viel zu jung, um so fertig zu sein.
Wie alt war sie wohl? Zwanzig? Zweiundzwanzig?
Sollte er sie wecken und fragen, ob sie wusste, wo sie waren?
Vielleicht tat er ihr damit auch einen Gefallen, damit sie ihre Haltestelle nicht verschlief.
Er rüttelte an ihrer Schulter. Langsam blinzelte sie, eher sie gähnend die Augen öffnete.
Sie sah ihn an und schrak zusammen.
„Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken!", sagte er sofort und hielt entschuldigend die Hände hoch. „Ich wollte nur fragen, ob du weißt, wo wir sind. Ich kenn die Gegend nicht und meine Haltstelle müsste schon vor zehn Minuten gekommen sein. Wir haben seit einer Ewigkeit nicht mehr angehalten."
„Bist du in der richtigen Bahn?", fragte das Mädchen sichtlich genervt, weil er sie aus ihrem Schlaf gerissen hatte.
„Ja.", erwiderte er ebenfalls etwas gereizt.
Das Mädchen verdrehte die Augen und blickte nach draußen. Wenig später runzelte sie die Stirn.
„Ich kenn die Gegend auch nicht. Und ich fahr jeden Abend mit der Bahn."
Sie stand auf und drückte den Halteknopf. Sie tuckerten noch eine Weile dahin, nichts geschah.
„Okay, das ist ein wenig unheimlich.", murmelte Milo.
Das Mädchen schluckte laut.
„Ja, ein bisschen."
Ihr ängstlicher Blick strafte ihre Worte Lügen.
Sie hatte große Angst und Milo bekam auch Panik, wenn er ehrlich zu sich war.
Er ging zum Notstopp und zog an dem schmalen Hebel. Wieder passierte nichts.
„Das wird mir echt zu schräg."
Das Mädchen griff in ihre Jackentasche und zog ihr Handy hervor.
„Ich hab hier kein Signal.", sagte sie ungläubig.
Milo zog sein Telefon hervor. Ein Klapphandy aus dem vorherigen Jahrhundert.
Für ihn lag der Sinn eines Handys  beim Telefonieren.
„Auch nichts.", stellte er fest und ließ frustriert zurück in seine Tasche fallen.
Das Mädchen wollte etwas sagen, als die Straßenbahn so abrupt anhielt, dass sie nach vorn gegen Milo stolperte und fast sie beide zu Boden gerissen hätte.
Die Türen öffneten sich quietschend. Sofort stürmten die beiden hinaus.
Kaum sprang Milo von der letzten Stufe, schlossen sie sich wieder und die Bahn verschwand in der Dunkelheit.
Sie befanden sich in einer Straße voller altmodischer Häuser, mit Pflastersteinen auf den Wegen und kunstvoll verzierten Laternen, die aussahen, als würden sie noch mit einer Gasflamme beleuchtet werden.
„Ich hab keine Ahnung, wo wir sind.", sagte das Mädchen resigniert und gab sich offenbar alle Mühe, nicht zu fluchen oder zu schluchzen.
Auch Milo konnte sich nur mühevoll alle möglichen Schimpfwörter unterdrücken.
Da blieb er einmal länger in der Bar und schon verirrte er sich. Er beschloss, sich nie wieder von Tino und Richard zu einer so späten Trinkrunde überreden zu lassen.
„Wir können ja ein Adressschild suchen, herausfinden, wo wir sind, und uns ein Taxi teilen.", schlug er vor.
„Ja, gute Idee.", antwortete das Mädchen und strich sich müde die abstehenden Strähnen, die sich aus ihrem unordentlichen Haarknoten gelöst hatten, hinters Ohr.
Sie hielt ihm die Hand hin.
„Ich bin Ida."
Er ergriff sie.
Ihre Nägel waren kurz geschnitten und die Haut rau. Sie arbeitete viel.
„Milo. Also los, so schwer kann das ja nicht sein."
Ida lachte freudlos auf und zusammen suchten sie die Häuser ab. Aber nirgendwo hing ein Adressschild, nur Zahlen.
Kein einziger Straßenname.
Nach einer Viertelstunde ergebnisloser Suche fluchte Ida leise und lehnte sich gegen einen Baum, der am Gehweg neben einer Parkbank stand.
Milo ließ sich auf der Bank nieder und fuhr sich frustriert durchs Haar.
Das konnte doch nicht wahr sein!
„Wir sitzen ziemlich in der Scheiße, oder?", murmelte Ida.
Er sah zu ihr.
Sie zitterte kaum merklich und ihr Kopf fiel immer wieder kurz zur Seite, als würde sie jeden Moment im Stehen einschlafen. Milo beschloss, ein Gentleman zu sein, und gab ihr sein Jackett. Vom Rumrennen war ihm ohnehin warm.
„Das kannst du laut sagen.", erwiderte er.
Plötzlich tauchte eine Gestalt im Schein der Laterne auf.
Eine dickliche, kleine Frau in einem bunten Mantel mit und einem riesigen, ebenso bunten Hut. Mit den roten Kringellocken, dem überzogenen Lippenstift und den kugelähnlichen Augen hätte man sie auch für einen Clown halten können.
„Seid ihr neu hier, Kinder?", fragte sie mit einer übertrieben freundlichen Stimme.
„Wir haben uns verirrt.", erklärte Milo. „Könnten Sie uns sagen, wo genau wir hier sind? Welcher Bezirk ist das hier überhaupt?"
Die Dame sah ihn verständnislos an.
„Bezirk?"
Ida richtete sich auf und blickte sie ungeduldig an.
„Ja, welcher Bezirk von Wien ist das?"
„Wien?"
In der Dunkelheit konnte man gut erkennen, wie Idas blasses Gesicht rot wurde.
Milo kannte sie erst seit gut einer Stunde, aber er ahnte, dass das nichts Gutes bedeutete.
„Hören Sie, es ist schon nach Mitternacht und ich hab wirklich keine Lust auf blöde Spielchen. Also... wo in Wien sind wir, zum Teufel?"
Milo wollte sie darauf aufmerksam machen, dass fluchen ihnen bei der Frau bestimmt nicht weiterhelfen würde, aber er war zu müde und hatte keine Lust auf Diskussionen.
„Was auch immer Wien ist, meine Kinder.", sagte die Frau langsam und mit einem spöttischen Lächeln. „Das hier ist es nicht. Wir sind hier in der Kirschrotstraße, in Siwena, der Stadt des Kaisers."

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