In Liebe zur Farbe

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Es war ein langer Tag gewesen.
Paul sehnte sich nach einem kalten Bier und der weichen Matratze des neuen Bettes.
Er öffnete die Tür des alten Gebäudes, das er sein Zuhause nannte, und schritt durch die engen Flure, in denen unzählige Leinwände lehnten.
In der Wohnung war ihnen schon lange der Platz ausgegangen.
Er wollte gerade genau dorthin, als die schmale, weiß lackierte Tür sich öffnete und eine Gestalt, die einen Kopf kleiner war als er, sich ihm mit wütender Miene in den Weg stellte.
Mattea trug ihre bequemen Sachen, die sie sonst immer beim Malen anhatte, aber diesmal fanden sich keine Farbflecken darauf. Ihre schokoladenfarbenen Haare waren zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden und einige Strähnen hingen ihr in die geröteten Augen.
Sie hatte geweint.
"Mattea?", fragte Paul besorgt und wollte zu ihr gehen, als sie plötzlich ausholte und etwas Rechteckiges nach ihm warf.
In dem Gang war weitaus nicht genug Platz, um auszuweichen und Paul wurde von dem seltsamen Geschoss hart getroffen, was ihn ein paar Schritte zurücktaumeln ließ.
"Was soll das?", rief er aufgebracht und auch verwirrt.
Er blickte kurz nach unten und erkannte, dass es sich um einen seiner Malerkästen gehandelt hatte.
"Hau ab!", schrie Mattea zurück. "Ich will dich hier nicht mehr sehen! Ich will dich gar nicht mehr sehen! Deine Sachen kannst du dir aus dem Lager holen!"
Überfordert starrte Paul seine Freundin an, der langsam Tränen über die Wangen liefen. Seine Wut verrauchte in derselben Sekunde.
"Du hast es versprochen.", brachte sie brüchig hervor.
"Wovon redest du?", erwiderte er.
Mit einem Mal schien neues Temperament in ihr zu erwachen und sie verschwand für eine Sekunde hinter der Tür, eher sie mit einem violetten BH zurückkam, dem sie ihm ebenfalls entgegenwarf.
"Kein Modell-stehen mehr! Keine nackten Frauen, die du in unserer gemeinsamen Wohnung, malst! Sofern es überhaupt beim Malen geblieben ist."
"Mattea..."
Er wollte ihr alles erklären, die Sache irgendwie weniger schlimm machen und ihr sagen, dass er sie niemals betrügen konnte. Dafür liebte er sie viel zu sehr.
Aber sie schmiss ihm die Tür vor der Nase zu.
Er hörte ihr leises Schluchzen dahinter, bevor er sich umdrehte und das Gebäude mit schlurfenden Schritten verließ.

"Wir haben uns während des Studiums kennengelernt. Kunstgeschichte. Is' weitaus spannender, als es klingt!", lallte er.
Der Barkeeper verdrehte lediglich die Augen und zapfte für den Gast neben Paul ein weiteres Bier ab.
Paul wusste, dass er betrunken war und sich ein Hotel suchen sollte, aber er ertrug es nicht, irgendwo in der Stille zu sitzen und an Mattea zu denken.
Hier hatte er zumindest Alkohol, um den Schmerz zu ertränken.
"Und während sie im kunsthistorischen Museum ne' echte Karriere vor sich hat, unterrichte ich ein paar zweitklassige Studenten...", brummte er.
"Professor zu sein ist doch nicht schlecht, Kumpel.", antwortete der Barkeeper in etwas versöhnlicherem Ton.
"Ja ja, aber ich wollte dasselbe wie sie. Wirklich forschen. Nah an den großen Werken sein.", erklärte er, über sich selbst spottend. "Aber nur Mattea hat es geschafft. Sie war von Anfang an viel zu gut für mich."
"Kommt drauf an. Hast du sie betrogen?"
Paul hob den Kopf, der, ohne dass er es bemerkt hatte, auf den Tresen gesunken war, und sah ihn erstaunt an.
"Nein! Das könnte ich ihr nie antun. Auch nicht, wenn ich es wollte. Was ich nie wollte."
"Was hat dann der BH in eurer Wohnung gemacht?", fragte eine junge Frau in schwarzer Lederkluft, die neben ihnen saß und jedes Wort mitbekommen hatte.
"Ich hab ein Aktgemälde gemalt, aber nicht aus künstlerischem Ehrgeiz, wie bisher. Es war für Mattea!"
"Du wolltest deiner Freundin ein Gemälde einer anderen nackten Frau schenken?"
Die Lederfrau hob die geschminkten Augenbrauen.
"Nein! Es war ein Gefallen für die Frau, die Modell stand. Besser gesagt ein Austausch."
"Was hast du dafür bekommen?", erkundigte sich der Barkeeper, der nun Interesse an dem Gespräch zu haben schien.
"Was spielt das noch für eine Rolle?", gab Paul leise zurück und leerte sein Glas.

"Paul."
Paul wollte schlafen. 
Auch ohne dass er die Augen öffnete, drehte sich alles und ihm war übel.
"Paul!"
Er lag nicht in seinem Bett. Er saß irgendwo und sein Kopf ruhte auf einer Art Ledersitz. Es roch seltsam und die Luft war stickig. War das Musik, die ihm Hintergrund lief?
"PAUL!"
Brummend blinzelte er.
Violettes, gedämpftes Licht tauchte in sein Blickfeld und nach und nach bildeten sich die Umrisse einer Bar.
Richtig, er war in eine Bar gegangen und hatte viel getrunken. Sehr viel. Und er hatte sie anscheinend nicht verlassen.
Sein Kopf brummte furchtbar, als er sich zu der Quelle der Stimme drehte.
Schlagartig lichtete sich der Nebel. 
Mattea stand vor ihm.
Sie trug ihren Lieblingsmantel über einem schlichten Wollkleid. Unter dem Arm trug sie eine mittelgroße Leinwand, die unter einem Tuch verborgen war. 
"Mattea...", flüsterte er. "Hör zu, ich-"
"Lass mich zuerst. Der Barkeeper hat mich angerufen. Du bist vom Hocker gefallen und dein Handy war nicht gesperrt. Anscheinend hast du viel über mich geredet, denn als er meinen Namen in deinen Kontakten gelesen hat, hat er sich sofort gemeldet, damit ich dich holen komme."
Paul fuhr sich müde übers Gesicht und versuchte, einzelne Erinnerungsstücke zusammenzusetzen.
"Warum bist du gekommen?"
"Ich wollte anfangs nicht. Aber ich hab gerade deine Sachen ausgeräumt, als ich das hier gefunden habe..."
Sie zog das Tuch von dem Gemälde und hielt es ihm entgegen.
Es zeigte einen blauen Himmel und ein kleines Bauernhaus, das vor einem wunderbar farbprächtigen Meer aus Mohnblumen lag. Es war eines der wenigen erhaltenen Werke von Gilbert Kuhner, einem Wiener Maler aus dem frühen 20. Jahrhundert. 
Er war nicht sonderlich bekannt, aber Mattea verehrte ihn sehr. 
Paul hatte so lange nach einem Gemälde von ihm gesucht. Und dann hatte er erfahren, dass eine Dozentin der Universität, an der er unterrichtete, eines besaß. Sie hatte nicht sehr daran gehangen, aber an Paul dafür sehr.
Und sie hatte statt einer Geldsumme ein Aktgemälde von ihm verlangt.
Er wusste nicht, ob sie zu oft Titanic gesehen oder sich einfach nur zu viel von der Wirkung ihres nackten Körpers auf ihn erhofft hatte, aber er hatte das Bild widerwillig gemalt und dafür den Kuhner bekommen.
Er hatte Mattea das Kunstwerk zu ihrem Geburtstag in wenigen Tagen schenken wollen.
"Wo hast du das her?"
"Es war ein Austausch für das Aktgemälde. Laura wollte sich zu keiner Summe überreden lassen..."
Mattea stellte das Bild vorsichtig ab und setzte sich zu ihm an den Tisch.
"Du hättest dein Versprechen nicht dafür brechen sollen."
"Du wolltest so ein Bild mehr als alles auf der Welt. Und ich wollte dir das unbedingt bieten. Wenigstens das."
Sie blickte ihn mit glänzenden Augen an, eher sie neben ihn rutschte und ihn umarmte.
Paul schloss sie fest in die Arme und vergrub sein Gesicht in ihrem nach Lavendel und Farbe riechenden Haar.
Der Duft von Zuhause.

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