Wofür brauchte man beim Tee drei verschiedene Gabeln?
Missmutig betrachtete Fallon die Besteckkonstellation vor sich. Sie sah den anderen Mädchen dabei zu, wie sie ihre ohnehin viel zu kleinen Küchlein mit den goldenen Gabeln teilten und sich die winzigen Stückchen in den Mund steckten.
"Gibt es ein Problem, Fallon?", fragte Celine, die Gastgeberin.
Sie hatte jedes Mädchen in ihrem Alter in der Gegend eingeladen, um bereits jetzt eine Gesellschaft aufzubauen.
Fallon hatte sich über die Einladung sehr gefreut. Sie sah oft die eleganten Damen auf der Straße spazieren und wünschte sich, sie könnte auch so sein. Zumindest wenn sie in London war.
Aber nun fragte sie sich, ob es das wert war, wenn schon das Kuchenessen so kompliziert war.
Sie suchte fieberhaft nach einer passenden Antwort, als sich das Mädchen neben Celine, Anne oder auch Anna, zu Wort meldete.
"Fallon ist übrigens ein... interessanter Name. Sehr selten und so... wild. Ist das schottisch?"
Die drei anderen Mädchen am Tisch begannen zu kichern. Celine nicht, aber ihre Tasse verdeckte deutlich ein Grinsen.
"Gälisch.", erwiderte Fallon.
Ihr war der Appetit vergangen.
"Wirklich zauberhaft. Ein wilder Name für ein wildes Mädchen.", meinte ein Mädchen mit roten Locken, das sie zuvor noch nie gesehen hatte.
Die anderen redeten über Fallon, als wäre sie ein Kind. Dabei war sie schon vierzehn, nur ein halbes Jahr jünger als Celine, die älteste von ihnen.
Fallon rang sich ein kurzes Lächeln ab. Sie sah dieses Wort eigentlich als Kompliment, aber das Mädchen ließ es wie eine Beleidigung klingen.
"Du fährst doch regelmäßig mit den... Männern aufs Meer, oder?", fragte nun eine andere mit einem dunklen Zopf, der ihr über die Schulter fiel. Sophia oder Silvia.
Nun wurden die Blicke der Mädchen neugierig.
"Mein Vater arbeitet als Forschungsreisender für die Krone.", antwortete Fallon und gab sich keine Mühe, ihren Stolz zu verbergen.
"Er bringt wichtige Erkenntnisse in Ozeanographie und Meeresbiologie."
"Ist da nicht schon alles entdeckt worden?"
Anne bzw. Anna hob gelangweilt eine Augenbraue.
"Hast du eine Ahnung, wie groß der Ozean ist? Und was sich darin alles verbirgt? Ich bezweifle, dass wir in hundert Jahren auch nur die Hälfte davon erkundet haben!"
"Warum also damit anfangen?", meinte Celine.
Fallon spürte, wie ihre Wangen rot wurden vor Wut.
"Wollt ihr denn gar nichts über die weite Welt da draußen wissen? Sie hat so viel zu bieten."
"Wenn ich was lernen will, geh ich ins Museum und unternimm keine Wanderung durch Russland. Das ist schließlich auch unendlich groß, was für einen Sinn hätte das? Oder Amerika. Ich bitte dich, das ist Zeitverschwendung, vor allem für eine Dame.", sagte die Rothaarige, was ihr zustimmendes Gemurmel von allen Seiten einbrachte.
Fallon wollte etwas erwidern, als die die mit dem Zopf sich nochmal einmischte.
"Und überhaupt, machst du dir keinen Sorgen um deinen Ruf? Monatelang auf einem Schiff gefangen, nur mit Männern! Warum lässt dein Vater sowas überhaupt zu?"
Fallon spürte, dass sie jeden Moment vor Wut platzte, als dann auch noch Celine sagte: "Sally, Darling, er ist gar nicht ihr richtiger Vater. Sie ist adoptiert. Vermutlich weiß er deshalb nicht viel mir ihr anzufangen."
Fallon sah nur noch rot und fuhr wütend hoch.
"Ihr seid so furchtbar arrogante, eingebildete Ziegen! Und wenn ihr nicht so viel Parfüm tragen würdet, das euch offenbar das Hirn vernebelt, würdet ihr vielleicht mal ein bisschen mehr über die Welt außerhalb von London lernen, anstatt euch hinter billigen Papierfächern zu verstecken!"
Fallon verließ den Salon, ohne sich umzusehen und stampfte wütend nach Hause.
Es hatte zu regnen begonnen, was ihr normalerweise nichts ausgemacht hätte. Doch ihr Vater hatte sich so für sie gefreut und ihr ein schönes Kleid gekauft. Das wurde nun durchnässt und bekam die Schlammspritzer von der Straße ab, wenn eine Kutsche vorbeifuhr.
Fallon rannte so schnell sie konnte zu ihrem Haus zurück.
Sie klopfte wild gegen die Tür.
Ihr Butler Wallace öffnete ihr und sah sie erschrocken an.
"Miss Thorne, ist alles in Ordnung?"
Er schloss hastig die Tür hinter ihr, damit es nicht ins Haus regnete und legte ihr eine Decke von dem kleinen Chaiselounge im Flur um die Schultern.
"Könnten Sie mir bitte einen Tee machen und Amy sagen, dass sie ein Bad einlassen soll?", fragte Fallon erschöpft.
"Natürlich, Miss Thorne. Möchten Sie ein paar Kekse zum Tee?"
Fallon lächelte müde.
"Sie sind der Beste. Ist mein Vater in der Bibliothek?"
Wallace nickte.
"Ich bringe Ihnen den Tee und die Kekse dorthin."
Fallon schleppte sich die Treppe hoch und tapste in die Bibliothek.
Dort saß ihr Vater in einem großen Ledersessel, in dem jeder andere zierlich ausgesehen hätte. Jeder, aber nicht Kapitän Lord Paul Cornelius Thorne.
Er war hochgewachsen und muskulös. Die dunkelblaue Jacke legte sich maßgeschneidert um seine breiten Schultern. Von der langen Zeit auf See war seine Haut gebräunt und auch wenn sie zu Hause waren, vergaß er manchmal das Rasieren, weshalb sich bereits ein Bart zeigte, genauso tiefschwarz und mit einigen, wenigen grauen Strähnen wie seine dichten Locken.
Nur seine Augen waren von einem kräftigen Blau, genau wie Fallons, weshalb die meisten gar nicht auf die Idee kamen, dass sie nichts blutsverwandt waren.
Er sah von dem Buch, dass er in den kräftigen Händen hielt, hoch.
Kurz lächelte er, doch dann bemerkte er ihren durchnässten Zustand und sein Blick wurde besorgt.
"Du meine Güte, Fallon, was ist denn passiert?"
Sie ließ sich in den zweiten Sessel neben seinen fallen und zog die Decke fest um sich, damit sie nicht zu viel volltropfte.
Ihre Haushälterin Jenna wäre sonst ziemlich sauer.
"Ich hatte keinen Schirm dabei."
"Wir hätten dich doch abgeholt. Auf der Einladung stand um vier Uhr."
Er warf vorsichtig einen Blick auf die Standuhr zwischen den Regalen, um sicherzugehen, dass nicht er einen Fehler gemacht hatte.
Aber er war immer pünktlich auf die Minute.
"Ich wollte früher nach Hause."
"Ist etwas passiert?"
Fallon senkte den Blick. Ihr Ausraster war ihr peinlich, aber wenn sie an die gemeinen Worte der anderen Mädchen dachte, kochte sie innerlich bereits wieder.
"Die anderen waren nicht wirklich nett.", sagte sie leise.
"Was haben sie gesagt?"
"Die haben sich über uns und unsere Arbeit lustig gemacht.", nuschelte Fallon.
Sie wollte ihrem Vater nicht wehtun, denn die Worte hatten sie schon genug verletzt.
Doch zu ihrem Erstaunen seufzte er bloß, wie er es immer tat, wenn er etwas als lästig und unwichtig betrachtete.
"Die Leute werden sich immer lustig machen, Fallon. Sei es nun aus Neid oder Kurzsichtigkeit oder schlichtweg, weil ihr Leben so blass ist, dass sie die Farben eines anderen nicht ertragen. Lass sie reden. Du kannst es nicht ändern."
"Das klingt logisch, aber es nervt mich trotzdem.", murrte Fallon.
Wallace kam herein und stellte den Tee und die Kekse auf dem Beistelltisch neben ihrem Sessel ab.
Fallon bedankte sich und griff nach einem der Butterkekse. Amy buk neuerdings kleine Schokoladestückchen hinein, was absolut himmlisch schmeckte.
"Natürlich tut es das.", erwiderte ihr Vater ungerührt. "Das war vor einer halben Stunde und es braucht Zeit. Und nur weil etwas für uns logisch ist, heißt das nicht, dass wir es auch verinnerlicht haben. Es kommt alles zu seiner Zeit, Fallon. Und du kannst dich auf morgen freuen, das ist doch auch schon mal was."
Fallon erwiderte sein Lächeln, sie freute sich tatsächlich. Morgen würden sie zu ihrer nächsten Reise aufbrechen.Die salzige Seeluft gab Fallon das Gefühl, wieder durchatmen zu können.
Hier draußen auf dem Meer war sie frei und konnte sein, wer sie war. Hier gab es keine Schubladen und keine komischen Gabeln.
"Lehn dich nicht zu weit über die Reling, sonst besuchst du die Fische."
Grinsend drehte sie sich zu Vale um.
Der alte Mann gehörte praktisch zum Mobiliar der Valliety.
Auf Fallons Frage vor vielen Jahren, ob er nur wegen der Namensähnlichkeit auf dem Schiff angeheuert hatte, hatte er erwidert: "Wer sagt, dass nicht ich mich nach dem Schiff benannt habe?"
Von allem Crewmitgliedern war Vale Fallon der Liebste.
Er erzählte ihr Geschichten von Monstern in der Tiefe, die noch den Dinosauriern nahe waren, und von vergessenen Märchen, in denen Sirenen ganze Flotten in den Tod lockten. Manchmal erzählte er ihr auch von Piraten, doch Fallons Vater war streng dagegen.
Er hatte Angst, sie könnte an dem Freibeuter-Leben Gefallen finden.
Die Aussicht darauf, die ganze Welt da draußen zu entdecken und dabei Schätze auf verlorenen Inseln zu verstecken, gefiel Fallon tatsächlich. Aber sie war zun - wie Vale gerne betonte - ohnehin zu anständig für eine Piratin.
Beim Abendessen zeigte Fallon wie immer ihrem Vater ihre Skizzenbücher.
Er kontrollierte ihre Fortschritte und verbesserte sie, wenn notwendig. Fallon mochte diese abendlichen Besprechungen. Sie wusste, dass die Seefahrt, die Kartografie und die Meeresbiologie sie beide verband und ließen sie so vergessen, dass Paul eigentlich nicht ihr leiblicher Vater war.
Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte.
"Hier hast du vergessen, die Halbinsel zu beschriften.", meinte er und deutete auf ihre neueste Karte.
Fallon musterte sie und nickte.
"Das war Calton, oder?"
"Halloway Bay.", korrigierte er sie mit sanftem Tadel.
Fallon wollte den Namen ergänzen, als plötzlich ein so heftiger Ruck das Schiff erschütterte, dass sie vom Stuhl fiel.
"Fallon! Bist du verletzt?"
Ihr Vater half ihr hoch.
"Nein... was zum Teufel war das?"
"Ausdrucksweise, mein Schatz. Du bleibst hier und rührst dich nicht!"
Er stürmte nach draußen, doch Fallon dachte gar nicht daran, nur herumzusitzen.
Sie folgte ihm.
Bei Sonnenuntergang war ein Sturm über sie hereingebrochen und der kalte Regen schlug ihr peitschend ins Gesicht.
Die halbe Mannschaft starrte auf die dunklen Fluten unter ihnen.
Waren sie etwa auf ein Riff aufgelaufen?
Ihr Vater redete mit seinem Ersten Offizier, der wild herum gestikulierte.
Fallon wollte zu ihnen gehen, als jemand schrie, dass das Schiff sinken würde.
War der Ruck eine Explosion gewesen?
Fallon sah nur die Besatzung panisch herumrennen und Rettungsboote wurden zu Wasser gelassen. Sie evakuierten das Schiff.
Ihr Vater hatte mit ihr darüber gesprochen, dass so etwas passieren könnte, doch nun, da es so weit war, fühlte Fallon sich paralysiert. Das Schiff verlassen.
Sonst würden sie damit untergehen.
Ihr Vater drehte sich um und entdeckte sie dort nutzlos herumstehen.
Er kam auf sie zu.
Fallon spürte, wie sich ihre Beine von selbst in seine Richtung bewegte.
Doch dann ging erneut ein Ruck durch das Schiff und brachte ins Wanken.
Fallon verlor das Gleichgewicht und bekam nichts mehr zu fassen, dass ihren Sturz über die Reling verhinderte.
Sie fühlte, wie sie von den Fluten verschlungen wurde und wie ein Stein Richtung Boden sank.
Durch die Wasseroberfläche sah ein Feuer, das aus dem Rumpf brach.
Das Schiff... ihr Vater...
Fallon kam es vor, als wäre alles unwirklich. Hatte sie wirklich noch die Augen geöffnet?
Sie spürte, wie sich etwas unter ihr bewegte, aber das konnte auch Einbildung sein.
Ein langer, riesiger Schatten schwamm um sie herum, gemeinsam mit den Trümmern der Valliety.
Dann sah sie es.
Ein gigantisches Auge, so groß wie ihr ganzer Körper, das sie direkt ansah.
Fallon wusste, wenn das noch kein Traum einer Toten war, dann würde sie nun sterben.
Es war eine nüchterne Erkenntnis, die sie wohl auch dem Sauerstoffmangel, dem ihr Gehirn ausgesetzt war, zu verdanken war.
Sie wollte ihre eigenen Augen schließen, sie war so müde.
Das große Auge verschwand und kurz darauf spürte sie, wie sie von etwas hochgehoben wurde.
Die Welt bestand eine Zeitlang nur aus verschwommenen Farben und verzerrten Stimmen.
Dann füllte mit einem Mal Luft ihre Lungen und sie spuckte mit brennender Kehle Salzwasser auf den Boden eines Rettungsboots.
Die Arme ihres Vaters hielten sie fest umschlossen.
Fallon blickte erschöpft auf das Meer unter ihnen.
Was immer sie gerettet hatte... sie dankte ihm still.
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Kurzgeschichten
Short StoryGroße Geschichten in wenigen Worten... Willkommen in der Bibliothek voller Geschichten unter 100.000 Worten. Ein paar Ausflüge in fremde Welten, Einblicke in zarte Gefühle und Zeilen, die von Dingen erzählen, die möglich sind oder für unmöglich geha...