Kapitel 2 - D

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Ihre Fingerspitzen fuhren über die unebene Baumrinde, während sie das Feendorf aus sicherer Distanz beobachtete. Ihre Haut kribbelte bei der Berührung. Das pulsierende Leben unter ihren langen Fingernägeln schien sie beruhigen zu wollen, doch ihre Gedanken waren unruhiger als eine Schar hungriger Geier.

Sie stellte sich vor, was vor bald genau zehn Jahren hier passiert sein musste. Wie ihre Mutter nach einem stundenlangen Flug durch die Nacht in diesen Wald der Giganten eingetroffen war. Wie sie an die lächerlichen Zäune aus gespitzten Holzpfosten herantrat, um wie jeder andere um Einlass zu bitten.

Was für eine Art Bedrohung diese mickrigen Zahnstocher abschrecken sollten, war für Darkness ein Rätsel. Einen überdimensionalen Tausendfüßler oder gar einen Waldbrand könnten die Feen mit dieser beinahe unbewachten Dekoration jedenfalls nicht aufhalten. Doch wenn diese fliegenden Magischen tatsächlich so harmlos waren, wie sie immer geglaubt hatte, wie konnten sie dann einer so furchtlosen Frau wie ihrer Mutter auch nur ein Haar krümmen?

Mit in Falten gelegter Stirn lenkte sie ihren Blick zurück auf die durchschnittlich 165 Centimeter großen Magischen. Galt es als moralisch verwerflich, wenn eine Fee einer Fliege etwas zu leide tun würde? Für einen kurzen Moment belustigte sie dieser Gedanke. Dann kamen die Erinnerungen wieder hoch.

Sie sah sich selbst aufwachen und in das Schlafzimmer ihrer Eltern laufen. Lachend vor Vorfreude, da sie über Nacht acht Jahre alt geworden war. Es folgte das Bild ihres Vaters, wie er alleine im Bett lag.

Schreie. Erst die eines Kindes, dann die ihrer Mutter. Jedes Mal, wenn sie sich ihren Tod vorstellte, hörte sie diese völlig unterschiedlichen Schreie. Natürlich waren sie nur ihrer Fantasie entsprungen, sie war schließlich mehrere Hundert Kilometer entfernt gewesen, aber ihr Gehirn schien diese Lücken füllen zu wollen. Wollte eine Erklärung dafür finden, warum ihre Mutter nicht auf ihrer Seite des Bettes gelegen hatte. Warum sie nicht zurückgekommen war.

Ab diesem Tag hatte sie keinen größeren Wunsch, als ihre Mutter zu rächen.

Ihre krallenartigen Nägel bohrten sich tiefer in die Baumrinde. Voller abgrundtiefem Hass fixierte sie eine lachende Gruppe von jungen Feen. Sie konnte nicht verstehen, wieso sie das Blut an ihren Händen nicht sehen, nicht riechen konnten. Jede einzelne von ihnen ging ihrem täglichen Leben nach, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass ihnen das Blut einer Unschuldigen an den Fingern klebte.

Sie hat euch nichts getan! Sie war ganz allein und unbewaffnet! Darkness fluchte innerlich und bei ihrem nächsten Gedanken verzog sie das Gesicht, wie als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Sie wollte mir doch nur etwas Unvergessliches schenken. Wieso musstet ihr sie dafür ermorden? Wieso musstet ihr sie mir nehmen? So war das „unvergesslich" nicht gemeint!

Es war einfach zu viel. Sie hatte die Kontrolle verloren und sah rot. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Arm und ihre Muskeln zogen sich unangenehm zusammen. Diese Mischung aus heißer Wut und Verzweiflung überwältigte sie und ihr Körper schien ihr nicht mehr zu gehorchen. Mit angespanntem Kiefer und stoßartiger Atmung starrte sie auf die Lichtung vor ihr.

Viel zu spät begriff Darkness, was sie überhaupt tat. Ihre Finger hatten sich schwarz gefärbt und waren somit nicht mehr von ihrem Untergrund zu unterscheiden. Doch seit wann war die Baumrinde schwarz gewesen? Sie strengte sich an, ihren Blick weiter auf ihre linke Hand zu fokussieren, doch das Bild verschwamm zunehmend.

Verzweifelt versuchte sie die Finger von der wie verbrannt aufplatzenden Fläche zu heben. Schmerzen durchfuhren ihren Arm, bis hin zu ihrer Wirbelsäule. Sie wollte Aufschreien, doch es kam kein Ton aus ihrer Kehle. Ihr ganzer Körper war so angespannt, dass sie Angst bekam, in dieser Haltung zu einer Statue zu erstarren.

Das Leben des Baumes, all seine Energie, floss durch ihre Fingerspitzen in sie über und sie konnte nichts dagegen tun. Jede Bewegung schmerzte und an Beruhigung war nicht zu denken.

Heiße Tränen liefen ihr über die Wangen und landeten auf ihren Oberschenkeln. Endlich lockerte sich ihr Griff. Doch bevor sie ihren Körper zu einer Flucht in den Wald überreden konnte, hörte sie eine weiche Mädchenstimme kurz vor ihr.

„Wer bist du?"

Leuchtende FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt