Ich will dir eine Geschichte erzählen, kleiner Mensch. Du musst aber ganz leise sein! Dann hörst du vielleicht, wie die Äste knacken, wenn man auf sie tritt, wie das Eis in den Tümpeln kracht und wie die schwere Schneekruste auf dem Boden knirscht, wenn man darüber läuft.
Wir befinden uns in einem verschneiten Winterwald. Sehen kann man nicht viel, es herrscht nämlich tiefschwarze Nacht. Deshalb ist es auch so wichtig, all diese kleinen Geräusche zu bemerken. Und die Gerüche. Es riecht nach Fichtenharz und nach frischem Schnee, vielleicht auch nach einem Lagerfeuer in der Ferne. Kannst du dir das alles vorstellen? Wenn nicht, solltest du vielleicht die Augen schließen.
Fertig? Dann kann es ja losgehen mit der Geschichte. Sie beginnt in einer Baumhöhle, direkt über unseren Köpfen.
Ein kleiner Siebenschläfer schlief wie ein Stein in seiner Höhle, wie das Siebenschläfer im Winter zu tun pflegen. Im Herbst suchen sie sich einen gemütlichen Unterschlupf, in dem sie sich verkriechen und den ganzen Winter verschlafen. Keine schlechte Lösung, wenn man ein kleiner Nager ist und die langen, kalten Wintermonate am liebsten überspringen würde. Der Siebenschläfer war jedenfalls sehr zufrieden. Er hatte noch nie Schnee und Eis gesehen, war aber keineswegs der Ansicht, irgendetwas zu verpassen. Er räkelte sich wohlig im Schlaf. Sein buschiger Schweif wedelte etwas. Es sah so aus, als würde sich der Schwanz selbstständig einen gemütlichen Liegeplatz suchen. Er flappte hierhin und dorthin. Schließlich kam er direkt am Eingang der Baumhöhle zum Liegen, sodass die äußerste Spitze des Siebenschläferschwanzes aus der Öffnung hinausragte.
Zeitgleich hatte sich an der obersten Spitze des Baumes ein Wassertropfen in Bewegung gesetzt. Als würde er ein geheimes Ziel verfolgen, lief er die knorrige Rinde des Baumes herunter, rann einen Zweig entlang, erreichte eine Knospe an seinem Ende, tropfte auf den nächsten Ast herab, sickerte durch ein Moospolster, gelangte zurück zum Baumstamm und floss an einem Eiszapfen am Rande der Baumhöhle entlang. An der Spitze des Zapfens blieb er zitternd hängen. Einige Sekunden passierte nichts. Der Tropfen wurde dicker und dicker und schließlich fiel er. Kannst du dir denken, wohin? Ganz genau. Er tropfte genau auf das äußerste Haar im äußersten Zipfel des Siebenschläferschwanzes.
Der kleine Siebenschläfer erwachte schlagartig. „Da war etwas... Kaltes", fiepte er erschrocken. Wenn ein Tier zu einem völlig falschen Zeitpunkt aus dem Winterschlaf geweckt wird, dann ist es erst einmal verwirrt. So ging es auch dem kleinen Nager. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Außerdem musst du bedenken, dass der Siebenschläfer noch nie in einer dunklen Winternacht in einer Baumhöhle gesessen hatte. Überall um ihn herum war es so finster wie noch nie zuvor in seinem kurzen Leben. Die kalte Luft brannte in den Lungen. Kein Geräusch war zu hören.
Der Siebenschläfer wich zurück, bis er die Rückwand der Höhle erreicht hatte. Er zitterte am ganzen Körper. Wo war die Sonne, die ihm sonst im Schlaf den Pelz gewärmt hatte? Warum war es so totenstill? Wo waren die zirpenden Zikaden und die singenden Amseln? Und woher kam diese erschreckende Schwärze? Er hielt sich die Pfoten vor die Augen. Er sah keine Pfoten. Er schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Immer noch nichts als Schwärze. Er blinzelte hektisch. Und als er dann immer noch nichts erkennen konnte, hatte er einen Verdacht, was geschehen war. „Oh", fiepte er. Langsam und vorsichtig lehnte er sich gegen die Höhlenwand. „Ich bin blind geworden", seufzte er. Wir beide, du, kleiner Mensch und ich, wissen, dass das nicht stimmte, schließlich war es einfach nur Nacht. Aber was weiß ein Siebenschläfer schon von dunklen, kalten Winternächten? Und wie der kleine Nager so dasaß, in seiner finsteren Höhle, und überhaupt nichts sehen konnte, bekam er Angst. Sehr große sogar. Er überlegte, wozu er seine Augen bisher gebraucht hatte. „Wie soll ich Futter finden?" fragte er sich. „Und selbst wenn ich über etwas stolpere - wenn ich nicht sehe, was ich fresse, werde ich nicht verdorbenes Essen und Müll erwischen und krank werden?" Nach einer Weile wurde ihm außerdem klar, dass er überhaupt erst aus seiner Höhle finden musste, und wieder zurück. Wie sollte er das schaffen, ohne den Weg zu erkennen? Und wie sollte er den zahlreichen Gefahren entkommen, die außerhalb seiner Höhle auf kleine Siebenschläfer lauerten? „Der Habicht!" quiekte er entsetzt. „Wenn ich ihn nicht sehen kann, wird er mich sicher überraschen und fortschleppen!" Lange, lange bewegte er sich nicht, als hätte ihn die Verzweiflung gelähmt. Plötzlich schreckte er aus seinen düsteren Gedanken. Ganz in der Nähe roch etwas köstlich. Er schnupperte in der Luft herum und suchte. Es dauerte etwas, dann hatte er gefunden, was den appetitlichen Geruch verursacht hatte. Es war eine Handvoll getrockneter Beeren, die er im Herbst gesammelt und aufgespart hatte. Sie hatten in einer Ecke der Höhle gelegen. Erfreut machte er sich darüber her. „Vor dem Verhungern hab ich keine Angst", sagte der Siebenschläfer laut. „Denn ich kann Futter riechen und finden." Er merkte, wie ein kleines bisschen Mut zu ihm zurückkehrte.
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Der Siebenschläfer und die Sterne
Historia CortaEs ist dunkel, kalt und unheimlich im verschneiten Winterwald. Normalerweise würde der Siebenschläfer den Winter verschlafen und davon nichts mitbekommen. Als er jedoch plötzlich geweckt wird, findet er sich in völliger Finsternis wieder und ist seh...